Ein paar Gedanken zu einer Episode aus dem Dauerdrama zwischen Saul und David. Heute: “Saul und David in der Höhle von En-Gedi”, aufgeschrieben in der Bibel, 1. Samuel 24.
Saul war der erste König Israels. Und David war zu seiner Zeit ein Held. Immerhin hat er den Riesen Goliath besiegt. „Saul hat 1.000 Mann erschlagen, David aber 10 x 1.000“ sangen die Leute auf der Straße (1. Samuel 18,7–11). Das war Salz in Sauls Wunden und mehr als einmal versuchte er, David loszuwerden. Zwischendurch war er etwas friedlicher, aber immer wieder brachen Sauls Zorn und Hass durch. Die Episode heute heißt: „Saul und David in der Höhle von En-Gedi.“ Lest selbst:
1. Samuel 24,1–4
Und David zog von dort hinauf und blieb in den Bergfesten bei En-Gedi. Als nun Saul zurückkam von der Verfolgung der Philister, wurde ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste En-Gedi. Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen bei den Steinbockfelsen. Und als er kam zu den Schafhürden am Wege, war dort eine Höhle, und Saul ging hinein, um seine Füße zu decken. David aber und seine Männer saßen hinten in der Höhle.
Oha. Da werden gleich die Fetzen fliegen. Saul verfolgt David. Aber weil er mal dringend für kleine Jungs muss – das geht auch großen Königen so – hat er sich in die Höhle begeben. Die Chance für David, seinen Verfolger ein für alle Mal loszuwerden. Wird er’s tun? Lest weiter:
1. Samuel 24,5–8a
Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, das ist der Tag, von dem der Herr zu dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt. Und David stand auf und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls. Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte, und er sprach zu seinen Männern: Das lasse der Herr ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des Herrn; denn er ist der Gesalbte des Herrn. Und David wies seine Männer mit diesen Worten von sich und ließ sie sich nicht an Saul vergreifen.
Was ist denn mit David los? Der ist doch sonst nicht so zimperlich. Der zarte Hirtenjunge, der auch gerne Harfe spielte und so wunderbare Lieder wie den 23. Psalm gedichtet hat, war der Anführer von Freischärlern (1. Samuel 22,2), ein Krieger, für eine gewisse Zeit ein Söldner auf der Seite der Philister. Und der hatte keine Hemmungen, sein Schwert zu benutzen. Aber jetzt, wo er seinen größten Feind loswerden könnte, zögert er.
1. Samuel 24,8b-16
Als aber Saul sich aufmachte aus der Höhle und seines Weges ging, machte sich danach auch David auf und ging aus der Höhle und rief Saul nach und sprach: Mein Herr und König! Saul sah sich um. Und David neigte sein Antlitz zur Erde und fiel nieder. Und David sprach zu Saul: Warum hörst du auf das Reden der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? Siehe, heute haben deine Augen gesehen, dass dich der Herr heute in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, dass ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des Herrn. Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Dass ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, dass nichts Böses in meiner Hand ist und kein Vergehen. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen. Der Herr wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein; wie man sagt nach dem alten Sprichwort: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. Wem zieht der König von Israel nach? Wem jagst du nach? Einem toten Hund, einem einzelnen Floh! Der Herr sei Richter und richte zwischen mir und dir und sehe darein und führe meine Sache, dass er mir Recht schaffe und mich rette aus deiner Hand!
Ein riskantes Unterfangen. David stellt sich Saul. Womit er ihn „ködert“, ist seine Großmut, die zugleich seine Demut gegenüber dem König ist. Der König ist von Gott selbst erwählt und gesalbt. Sich gegen ihn aufzulehnen ist zugleich ein Aufstand gegen Gott. David achtet das Amt und die Person des Königs, auch wenn der sich seines Amtes als unwürdig erwiesen hat.
1. Samuel 24,17–24
17 Als nun David diese Worte zu Saul geredet hatte, sprach Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte 18 und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen. 19 Und du hast mir heute gezeigt, wie du Gutes an mir getan hast, als mich der Herr in deine Hand gegeben hatte und du mich doch nicht getötet hast. 20 Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen? Der Herr vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast! 21 Nun siehe, ich weiß, dass du König werden wirst und das Königtum über Israel in deiner Hand Bestand haben wird. 22 So schwöre mir nun bei dem Herrn, dass du mein Geschlecht nach mir nicht ausrotten und meinen Namen nicht austilgen wirst aus meines Vaters Hause. 23 Und David schwor es Saul. Da zog Saul heim. David aber mit seinen Männern zog hinauf auf die Bergfeste.
David gewinnt Sauls Achtung durch seine Demut und seinen Großmut. Saul wusste im Grunde, wen er mit David an seiner Seite hatte. David war sein Musiktherapeut. Wenn Saul in Depression verfiel oder in Aggression, spielte David Harfe und vertrieb die dunklen und bösen Gedanken, den bösen Geist Sauls (1. Samuel 16,23). Und David, auch wenn er beim Volk beliebt war, strebte nie nach Sauls Thron. Saul war König, solange Gott das wollte. Das wusste Saul auch. Und doch stellte er David oft nach. Für den Moment allerdings bricht die Erkenntnis bei Saul wieder einmal durch, so sehr, dass er sogar Gefühle zeigt und weint. Die beiden trennen sich. Noch mal gut gegangen. Aber Saul verfolgt David auch weiterhin. Es gibt noch einmal eine ähnliche Situation (1. Samuel 26). Am Ende ist Saul tot. Im Kampf mit den Philistern gefallen (1. Samuel 31). David war nicht bei ihm, um ihm beizustehen.
Mir fiel gleich beim Lesen ein Satz auf, von dem ich auch nicht wieder losgekommen bin: „Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen?“ (V. 20)
Das gibt’s normalerweise nicht. Feinde hält man sich vom Leib. Und Gutes wünscht man ihnen nicht. Es sind doch schließlich Feinde. Wer mir böse oder blöd kommt, den werde ich doch nicht mit guten Wünschen überhäufen. Ich bin froh, wenn er weg ist. „Schleich dich!“ Gutes will keiner seinem Feind.
Ganz anders handelt David. Er lässt Saul unbehelligt. Er redet mit ihm von Unteran zu König. Allerdings büßt er dabei nichts von seiner Größe ein. Genau genommen erweist David sich als der zukünftige König, denn er ist es, der Gnade übt. Und das ist das Vorrecht des Herrschers. Was noch mehr erstaunt: David weiß wohl genau, dass Saul trotzdem nicht ablassen wird von ihm. Er bleibt auf der Hut. Aber er vergreift sich nicht an Saul. Er rächt sich nicht. Er fordert nicht einmal, dass Saul sein Verhalten ihm gegenüber bekennt und als falsch anerkennt.
Fast scheint es, als ob er die Worte seines berühmtesten Nachfahren schon gehört hätte: Liebe deinen Feind! So sagt Jesus, der auch der Sohn Davids genannt wird: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ (Matthäus 5,44–45)
David spricht nicht immer so. Wer seine Psalmen durchliest, hört auch andere Töne. Gott soll die Feinde ausrotten, wegwischen, verderben. Ist das ein anderer David? Es ist der Gleiche. Auch wenn David es sehr drastisch formuliert. Was in seinen Psalmen aber genau wie hier zu sehen ist: Er vertraut sich Gott an – in allem. Auch wenn Menschen gegen ihn aufstehen, ihn bedrohen und verfolgen: Er gibt sich selbst in Gottes Hand und er lässt Gedanken an eigene Rache und Vergeltung los. Und auch wenn uns bei manchen Psalmen der Atem stocken mag wegen der Heftigkeit ihrer Worte – die Psalmbeter bauen auf Gott und nicht auf ihre eigene Stärke.
„Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen?“ Ich denke, die Antwort lautet: Dort, wo Gott der Herr ist, dort ist solch ein Mensch. Und ich glaube, dass diese Frage und die Antwort heute sehr wichtig sind. Aus Vergeltung oder aus Rache hätte David Saul zur Rechenschaft ziehen können. Er hat ihm seine Heimat genommen und ihn unentwegt gejagt. David aber lässt Gott allein Richter sein. Denn Gott allein ist gerecht. Er allein hat den Überblick.
Auch aus Furcht vor Saul und als Schutzmaßnahme für sein eigenes Leben hätte David seinen König töten können, mehr als einmal sogar. Und es hätte ihm niemand verübelt. Saul hat sich oft genug als ungerecht und als Feind erwiesen. Furcht aber ist dort, wo mir kein Schutz zur Verfügung steht. Angst herrscht dort, wo ich nur noch das Böse an der Macht sehe. Ist es nicht so, dass manche, vielleicht viele Menschen heute ihre Entscheidung aus Angst heraus treffen? Angst aber sorgt nicht für eine sichere Zukunft. Angst gibt denen Macht, die vor nichts zurückschrecken. Und Rache, Vergeltung? Sie treiben die Spirale der Gewalt an. Gerechtigkeit schaffen sie nicht.
Dabei weiß ich, dass unser Leben und unsere Entscheidungen in dieser Welt immer ein Kompromiss sein werden. Heute etwa von Israel oder der Ukraine zu fordern, sie mögen die Waffen niederlegen und abwarten, was passiert, ist ganz gewiss zynisch. Aber zugleich braucht es klare Schritte zum Frieden und Mut auch für ungewöhnliche, vielleicht wagemutige Schritte. Was aber jeder von uns tun kann, ist, im Kleinen solche Schritte wie David zu wagen: zum einen Gott zu vertrauen, dass er mich in schwierigen Lagen nicht allein lässt, sondern mich behütet und leitet. Und zum anderen als Tochter und Sohn eines Königs zu handeln – nämlich Güte und Barmherzigkeit zu üben, auch denen gegenüber, die mir querkommen.
Saul gegenüber handelte David schon königlich. Denn so sah es in seinem Herzen aus, auch wenn er die Krone noch nicht auf den Kopf trug. Solche Könige brauchen wir im Alltag. Gotteskinder tragen diese Eigenschaft in sich. Üben wir sie ein.