Predigt zu Markus 12,41–44
Wer macht’s richtig? So könnte man das 12. Kapitel des Markusevangeliums überschreiben.
Da kommen nämlich immer wieder Menschen zu Jesus und wollen wissen, was denn nun richtig und was falsch ist. Manche Frage ist dabei als Fangfrage gedacht. So etwa die Frage nach der Steuer. „Jesus, sollen wir dem Kaiser Steuern zahlen?“ Im Prinzip heißt das für einen frommen Juden nämlich, die Vergötterung des römischen Kaisers zu unterstützen. Immerhin: sein Bild war auf den Münzen der damaligen Zeit. Die Falle hinter der Frage ist klar. Sagt Jesus: „Zahlt keine Steuern“, dann ist er ein Aufrührer, den man bei den Römern anzeigen kann. Empfiehlt er aber die Steuer, dann ist er für die gläubigen Juden unten durch.
Wirklich ernst gemeint fragt einer nach dem höchsten Gebot. Es gab ja nicht nur die berühmten zehn, die das Zentrum, den Kern aller Gottes- und Menschenbeziehung damals bildeten. Es gab unzählig mehr Gebote, die den Alltag bis ins Kleinste regelten. Welches ist nun wichtiger? Die Antwort Jesu ist bekannt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Wer macht’s richtig? Wer glaubt das Richtige? Wer handelt so, dass es mit dem Glauben übereinstimmt? Wer auch nur in Ansätzen ernst nimmt, was die Bibel über Gott und seine Sicht der Welt sagt, dem müssen diese Fragen in den Sinn kommen. Ist Gott der Heilige Gott, der Schöpfer der Welt, der uns bedingungslos liebt und der gleichzeitig unser ganzes Leben leiten möchte, dann kommen wir an der Frage nicht vorbei: Wer macht’s richtig?
Es gibt in unserer Kirchengeschichte eine ganze Epoche, die nach dieser Frage benannt ist. Es ist das Zeitalter der Orthodoxie – der Rechtgläubigkeit. Nach dem Tod von Martin Luther setzt das ein. Großer Streit bricht schon auf bei der Frage, wer das, was Luther so sagte und lehrte, auch recht verstanden hat und nun richtig fortführt. Aber nicht nur diese Epoche der Kirchengeschichte heißt so. Es gibt ja auch große kirchliche Gemeinschaften, Denominationen, die sich „rechtgläubig“ – orthodox – nennen: etwa die russische oder griechisch-orthodoxe Kirche. Die Frage ist so alt wie der Glaube an Gott. Und die Antworten darauf sind so vielfältig wie die Menschen, die diese Frage stellen – oder sie zu beantworten versuchen.
Auch zu Jesu Zeiten gab es genügend verschiedene Gruppierungen, die jeweils ihre eigene Lehrmeinung hatten und sie auch mit allen Mitteln vertraten und verteidigten. Im Kapitel 12 etwa treten die theologischen Gegner der sonst oft zitierten Pharisäer auf. Es sind die Sadduzäer. Sie glauben nämlich im Gegensatz zu den anderen nicht an eine Auferstehung der Toten. Und auch sie suchen das gelehrte Streitgespräch mit Jesus. Wer macht’s richtig?
Jesus hat für alle eine Antwort. Aber Markus beendet das Kapitel mit den großen Fragen nicht mit einer abschließenden Diskussion oder der Frage aller Fragen. Er endet mit einer Geschichte. Und das beeindruckt mich wirklich. Was Markus erzählt, ist ein ganz gewöhnlicher Vorgang damals. Menschen sind unterwegs zum Tempel oder kommen von dort zurück. An der Tür steht ein Kasten für Geldspenden. Ist wie bei uns, wo am Ende eines Gottesdienstes am Ausgang eine Spende, eine Kollekte eingesammelt wird. Manchmal steht da ja auch ein Kasten – in Form einer Kirche etwa. Oder ausrangierte Orgelpfeifen, die nun mit ihrem münz-klingenden Inhalt dazu beitragen sollen, das Geld für die Orgelrenovierung zusammen zu bekommen. Und Besucher einer Kirche – seien es nun Gottesdienstbesucher oder Touristen, die einfach so mal reinschauen – lassen sich unterschiedlich stark dazu motivieren, etwas in die Orgelpfeife oder den Kirchenkasten einzuwerfen. Jesus beobachtet das Geschehen. Es ist auch nicht ungewöhnlich, was er sieht. Er sieht Reiche, die durchaus auch mal einen Schein in den Kasten fallen lassen – oder damals halt ein paar größere Münzen. Er sieht den gutbürgerlichen Handwerker oder mittelständischen Bauern, der ein paar Münzen einwirft. Er sieht Arme, die doch auch etwas geben wollen. Es geht schließlich um das Haus Gottes. Es geht schließlich um die Ehre Gottes. Es geht um Gott selbst – auch mit dieser Opfergabe.
Interessant: Wir denken ja oft, dass Jesus etwas gegen die Reichen hatte und sie so oft eins auf den Deckel bekommen. Aber das stimmt gar nicht. Jesus sieht, was die Reichen einlegen, und nimmt es ganz sachlich zur Kenntnis. Sie haben Geld übrig, und davon stellen sie einiges, vielleicht eine große Menge, für die Aufgaben am Tempel Gottes zur Verfügung. Gut, in Ordnung. Er sieht, dass Arme weniger einlegen – sie haben ja nicht so viel übrig. Aber sie wollen sich genauso beteiligen. Gut, in Ordnung. Aber dann gibt es doch einen außergewöhnlichen Kommentar. Alle haben das gut und richtig gemacht. Doch die arme Witwe, von der ausdrücklich erzählt wird, die hat „ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.“
Ich musste über dieses einfache Bild und diese doch einfache Beobachtung eine ganze Weile nachdenken. Und zwei Gedanken sind mir dabei wichtig geworden. Der eine hängt an der konkreten Aussage zu dem, was die arme Witwe im Unterschied zu den reicheren Spendern einlegte.
„Sie hat ihre ganze Habe eingelegt“, sagt Jesus. Das ist das, was mir in der Bibel öfter begegnet, wenn es um den Glauben geht. Wenn einer sich auf Gott einlässt, dann geht es immer ums Ganze. Ein paar Beispiele dafür.
Zurzeit, als in Israel schon in zwei Königreiche aufgespalten war, lebte der Prophet Elia. Berühmt geworden ist er, weil er auf dem Berg Karmel an der Mittelmeerküste ungefähr in der Mitte des Landes ein Gottesurteil herbeigeführt hat, um zu klären, wer nun wirklich Gott ist in Israel. Viele beteten damals wohl noch zu dem Gott der Väter, zu dem Gott Abrahams, Isaaks Jakobs, wie er so oft genannt wird. Aber sie beteten gleichzeitig auch zu Baal und anderen Göttern, die von anderen Völkern ins Land gebracht wurden. Besonders heftig war das zu Elias Zeit, weil die Königin Isebel den Baalskult ungemein förderte und der König, Ahab, sich davon anstecken ließ. Spannend, wie Elia dann die Entscheidung auf dem Berg Karmel einleitet. Er stellt nämlich die Israeliten vor die Frage: „Wie lange hinkt ihr auf beiden Seiten? Ist der Herr Gott, so wandelt ihm nach, ist’s aber Baal, so wandelt ihm nach.“ (1. Könige 18,21) Israel glaubt nur halb, mal dem Baal, mal dem Gott der Väter. Je nachdem vielleicht, was gerade praktischer ist. „Entscheidet euch!“, ermahnt Elia. Immerhin: es geht um die Gottesfrage und wem ihr euer Leben verdankt und es anvertraut. Da gibt es keine halbe Sachen.
Eine andere Geschichte hat Jesus erlebt. Ein reicher, sehr sympathischer Mensch kommt zu ihm und fragt, wie er das ewige Leben bekommt. Er soll die Gebote halten, sagt Jesus. Ist in Ordnung, hat er alle gehalten. Jesus glaubt ihm das, er macht wirklich einen guten und frommen Eindruck auf Jesus. Naja, fehlt eine Kleinigkeit: „Verkaufe alles, was du hast, und gibt’s den Armen. Und folge mir nach.“ (Lukas 18,18–27) Ups – da ist es passiert. Keine halben Sachen. Jesus will nicht nur an der ersten Stelle einer Reihe aller möglichen Lebensinhalte stehen. Nein, er will der einzige Lebensinhalt sein.
So einfach ist Teil Eins der Antwort auf die Frage, wer’s richtig macht. Nicht, wer diverse fromme Normen erfüllt oder die eine oder andere theologische Streitfrage richtig beantworten kann, macht’s richtig. Wer sich ganz, einzig und allein auf Jesus verlässt, der macht’s richtig. Dafür ist die arme Witwe ein Beispiel. Sie teilt nicht mehr ein. Sie gibt sich selbst. Nichts ist mehr in ihrem Leben, über das sie selbst bestimmt. Sie überlässt alles in ihrem Leben Gott. Das Äußere, ihr weniges Hab und Gut, ist dafür ein Symbol. Indem sie dort am Tempel alles weggibt, überlässt sie ihre ganze Existenz Gott selbst – mit ihren Sorgen und ihren Möglichkeiten, die ihr das Wenige vielleicht doch noch geboten hätte. Glauben bedeutet: ganz und gar, ohne jeglichen Abstricht an Gott festhalten und auf Gott vertrauen, so dass er nicht nur die Nummer eins von vielen Möglichkeiten des Lebens ist, sondern die einzige Möglichkeit, die einzige Quelle und das einzige Ziel des Lebens. Was für ein Anspruch. Aber weniger geht nicht.
Das war der eine Gedanke bei dieser Geschichte. Der andere ist aber genauso spannend und herausfordernd. Die arme Witwe legt ihre ganze Habe ein. Aber: Das ist doch im Grunde gar nichts – zwei Scherflein, in der Summe ein Pfennig. Ich muss unwillkürlich an die Haushaltsgespräche denken, die wir gerade wieder in den Gemeinden geführt haben. Da wird einem doch angst und bange, wenn wir sehen, wie wenig Geld Gemeinden haben, und wie teuer das kirchliche Leben ist. Schon der einfache Unterhalt unserer Kirchen und Gemeindehäuser verschlingt alles, was wir doch für die Gemeindearbeit einsetzen könnten. Und – mal ganz ehrlich: in welcher Zusammenkunft wird nicht vor allem darüber geklagt, wie klein und schwach und alt wird doch geworden sind. Wir können doch gar nichts mehr ausrichten. Ja, ich weiß, es gibt auch mutige Gespräche und Unternehmungen. Aber abwägen möchte ich die beiden Positionen nicht. Könnte sein, dass die Sorge mehr wiegt, oder? Unsere Möglichkeiten sind klein geworden. Manche, die früher vor Kraft strotzten und alles gestemmt haben, sind schwächer geworden. Folglich ziehen wir uns ganz zurück. „Wir haben keinen Pfarrer mehr“ – Und als Folge gibt es Gottesdienst nur noch alle drei bis sechs Wochen. Sonst ist von Kirche im Dorf – oder auch der Stadt – nicht mehr viel zu sehen.
Die arme Witwe macht mich da sehr nachdenklich. Mal ehrlich: ihr Pfennig tut absolut überhaupt nichts zur Sache für die Erhaltung des Tempels. Im Gegenteil, diese Kleckerbeträge in der Kollekte machen doch nur das Zählen schwer, kosten mehr Arbeitszeit, als man dafür bezahlen kann. Und ich sehe, wie Jesus wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlägt bei solch einem Gedanken, höre ihn fragen: „Wieso gebt ihr mir nicht eure kleine Kraft, die vielleicht schon eine kleine Ohnmacht ist? Ich kann doch daraus etwas machen. Bin ich denn nicht Gott?“
Es ist vielleicht kein Zufall, dass mir gerade in dem Moment, als ich anfangen wollte, die Predigt zu schreiben, ein Wahnsinnsbuch in die Hände gefallen ist. Ganz frisch erschienen in Deutschland habe ich es gleich bestellt, und just an diesem Tag kam es mit der Post. „Mein Leben ohne Limits“ heißt das Buch. Nick Vujicic erzählt darin seine Lebensgeschichte. 28 Jahre ist er alt. Und das Besondere an ihm, sofort fällt es ins Auge – er hat keine Arme und Beine. In einer Welt, in der Kraft und Leistung zählen, ist er nicht mehr als das Scherflein der Witwe, ein altes Pfennigstück, oder? Zeitweilig hat er selbst so gedacht, haben seine Eltern so gedacht. Welche Zukunft hat ein Mensch, der so unvollständig ist? Doch keine, oder? Aber Nick stellt sich gegen dieses Schicksal. Oder besser: er begreift, er ergreift genau diese Einschränkung als Chance. Ein Zitat aus seinem Buch:
„Offiziell gelte ich als ‚behindert‘. In Wahrheit bin ich aber durch die fehlenden Gliedmaßen ‚ent-hindert‘. Dank meiner besonderen Situation haben sich mir auch besondere Möglichkeiten eröffnet, wie ich unzähligen anderen Leuten helfen kann.“ (Nick Vujicic: „Mein Leben ohne Limits, S. 16. Nähere Informationen s. unten)
Sein Geheimnis: Er lebt sein Leben ganz. Und er stellt es Gott ganz zur Verfügung. Er lebt sein Leben, das kein anderer Mensch leben kann. Vielleicht scheitern wir ja oft daran, dass wir versuchen, das Leben anderer zu leben. „Ja, wenn ich noch zu rüstig wäre wie früher.“ Stimmt, dann könnte einer vielleicht Bäume ausreißen. Aber vielleicht braucht dein Nachbar keinen Bäumeausreißer, sondern einen, der ihm eine halbe Stunde zuhört. „Früher hatten wir einen eigenen Pfarrer. Da war auch jeden Sonntag Gottesdienst.“ Stimmt, das war mal so, und es war gut. Denn da haben Menschen viel über Gott gehört. Vielleicht ist es jetzt dran, dass die Menschen, die damals schon im Gottesdienst saßen, heute anderen von ihrem Glauben erzählen – und zwar nicht in lange vorbereiteten, mal mehr, mal weniger gut formulierten Predigten, sondern bei einer Tasse Kaffee oder einer Wochenschlussandacht, die sie selbst gestalten.
Es ist egal, ob wir als äußerlich reich ausgestattete Menschen vor Gott kommen oder als die arme Witwe. Entscheidend ist, dass wir ganz zu ihm kommen. Entscheidend ist, dass wir unser eigenes Leben ganz und vollständig annehmen, Gott zur Verfügung stellen und es leben, es ausleben. Und zwar ohne Seitenblick auf die Möglichkeiten anderer, sondern voller Hoffnung auf die Möglichkeiten Gottes. Noch ein Zitat von Nick Vujicic: „Ohne Arme und Beine ist nicht halb so schlimm wie ohne Hoffnung.“ Die Antwort auf die Einfangsfrage, wer es denn nun richtig macht, möchte ich nach diesen zwei Gedankengängen mit einem Wort von Paulus aus dem Galaterbrief geben:
„Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ (Galater 2,20)
Der macht’s richtig. Amen.
Die genauen Informationen zum Buch:
Nick Vujicic: “Mein Leben ohne Limits”. Brunnen Verlag Gießen 2011. ISBN 978–3‑7655–1119‑6
Erhältlich u.a. hier: www.alpha-buch.de
Und ein Trailer zu Nick: http://www.youtube.com/watch?v=mznQld0q3p4