Predigt zum Horizonte-Gottesdienst in Wählitz am 3. April 2011
(Vor der Predigt wird Markus 10,17–27 gelesen)
Oder fehlt da noch was? Ich kenn einen, der weiß, welches Objektiv er als nächstes braucht, und welche Kleinigkeiten für sein fotografisches Hobby auch noch so fehlen. Und ich wette: wenn er das hat, dann fehlt immer noch was – und wenn es ein größerer Rucksack ist. Ich kenn einen anderen, der weiß schon Monate im Voraus, wann das nächste Album seiner Lieblingsband rauskommt. Und das wird dann gleich vorbestellt. Und dann kenne ich welche, die sagen mir, was mir noch fehlt zum Glück. Dabei sind sie so gewitzt, dass sie es mir mit Bildern sagen, die mit ansprechender Musik unterlegt sind, mit witzigen Sprüchen, die ich mir leicht merken kann.
Es fehlt garantiert noch etwas. Es fehlt ja immer etwas, oder? Der Suppe an Salz, der Sahne an Süße. Es fehlt dem Frühling an Wärme, dem Sommer an Sonne, dem Herbst an Äpfeln und dem Winter an Schnee. Nur dem letzten Winter ging es anders, der hatte genug Schnee und Eis. Aber auch da fehlte etwas – nämlich Streusalz und Schneeschieber. Es fehlt immer noch etwas. Ist das vielleicht das Schicksal unseres Lebens?
Falls ja, dann hat das im Paradies schon angefangen. Denn wer denkt, das Paradies sei vollkommen gewesen, der irrt sich – zumindest nach menschlicher Sichtweise. Kommt doch die Schlange, die listiger war als alle Tiere auf Erden – so heißt es im 1. Mosebuch im 3. Kapitel – kommt doch die Schlange zu Eva und spricht sie ganz unverhohlen von oben herab an: „Sag mal, dir fehlt doch was.“ Sie sagt es aber viel besser verpackt: „Sag mal, sollte Gott gesagt haben: ihr dürft von keinem Baum in diesem Garten essen?“ War natürlich falsch. Nur von einem Baum sollten sie nicht essen, alle anderen standen ihnen mit ihrer ganzen kostbaren Pracht zur Verfügung. Aber: Da war er, dieser Gedanke, der seit damals die Menschen unglücklich macht: „Es fehlt etwas. Von diesem einen Baum dürfen wir nicht essen. Ui – und der hat ja auch etwas ganz Besonderes: der macht nämlich klug.“ Wer sich die Geschichte anschaut merkt, dass der Mensch seit damals, als Eva und Adam vom Baum der Erkenntnis naschten, nicht wirklich klüger geworden ist.
Die Bibel ist ein ehrliches Buch. Und wer sie vorurteilsfrei liest, der entdeckt sich selbst immer wieder in diesem Buch. Auch unsere Sehnsucht nach dem Glück, nach dem, was uns immer noch fehlt, wird dort in vielen Varianten beschrieben. Ich denke mir, dass zum Beispiel Jakob so ein Glücksritter war. Er war der Jüngere von einem Zwillingspärchen. Nach altem Recht stand seinem Bruder Esau das ganze Erbe zu, außerdem der Segen des Vaters – damals von unermesslicher Bedeutung. Und was macht Jakob? Überlistet Esau und kauft ihm das Recht des Erstgeborenen ab. Überlistet auch seinen Vater und stiehlt quasi den Segen. Die Folge: er ist lange auf der Flucht und jagt dem Glück ständig hinterher. Kaum hat er es erreicht, kommt wieder etwas dazwischen. Aber Gott ist auch an seiner Seite und führt ihn seine ganz eigenen Wege.
Oder die Geschichte, die wir eben gehört haben. Da ist einer, der alles hat. Ein gutes Leben kann er sich leisten, denn er ist reich, hat Geld zur Genüge. Interessant. Er jammert und klagt nicht. Aber ihm fehlt wirklich etwas. Und das merkt er, ohne dass es ihm die Werbung sagt.
Vielleicht, wahrscheinlich sogar steckt hinter allem Habenwollen, hinter allem Konsum genau diese eine Sehnsucht: „Ich will glücklich sein. Und im Moment fehlt mir dazu noch etwas.“ Und so probiert es der eine, indem er ständig Neues kauft. Der andere bricht einen sportlichen Rekord nach dem anderen. Wieder einer sucht neues Glück in immer neuen Beziehungen.
Offensichtlich ist das Glück der Seele nicht so einfach zu erreichen. Sie ist ja auch kein materielles Ding, eine Summe von elektrochemischen Vorgängen etwa. Die Seele hat wohl einen Wesenszug, der außerhalb aller unserer materiellen Vorstellungen und Möglichkeiten liegt. Nicht umsonst erzählt die Bibel daher von der Erschaffung des Menschen. Und sie erzählt ein atemberaubendes – weil atemspendendes Bild: Gott knetet den Menschen aus Erde. Aber da tut sich noch nichts, wie das so ist bei Knetmännchen. Der entscheidende Schritt: Gott haucht dem Menschen seinen Atem ein.
Wir leben vom Atem Gottes. Wir leben vom Leben Gottes. Und das ist unverfügbar, das ist ein Geschenk. Deswegen kann die Seele nichts kaufen, was sie glücklich macht. Klar können wir uns über eine Menge freuen – ob das nun die Blumen sind, die im Frühling wieder blühen oder viele schöne Dinge, die wir uns zulegen können. Aber glücklich wird die Seele damit nicht. Zufrieden ist die Seele damit nicht.
Jesus ist an der Stelle ein bisschen brutal mit dem reichen Menschen, der da so offen und interessiert zu ihm kam, oder? Knallhart, ohne jede Vorwarnung und ohne jeden Kompromiss sagt er: „Du bist schon ein toller Typ. Und das mit den Geboten ist wirklich beeindruckend. Ehrlich, ich find das ganz toll. Dann hätte ich einen letzten Tipp für dich – verkauf alles was du hast und schließe dich mir an.“ Ich schätze, nicht nur dieser Mensch musste schlucken. Jesu Freunden blieb wohl auch das Herz für einen Moment stehen. Vielleicht dachten sie: „Wie kannst du bei einem solch vorbildlichen Menschen nur so eine Forderung stellen? Verlang doch nicht zu viel, Jesus, der springt doch sonst wieder ab.“
Aber Jesus hat das Glück, unser Glück im Blick. Er will, dass wir glücklich, ja selig werden. Also versucht er, unseren Blick auf das Wesentliche zu lenken. Und offensichtlich ist es etwas anderes als Hab und Gut. Wer noch ein bisschen weiterblättert im Buch der Bücher, der wird bei drei Begriffen fündig, wenn es um das Glück, das Wohlergehen oder die Seligkeit des Menschen geht. Das Glück taucht nur im Alten Testament auf. Meistens steht es dafür, dass etwas gelingt, dass etwas gut ausgeht – und Menschen demzufolge auch glücklich sind. Also eher punktuell und auf einzelnes zugeschnitten ist das Glück im Alten Testament. Eher auf Dauer angelegt und dabei vielleicht mehr die Seele im Blick hat die Wendung „Wohl dem.“ Und auch das gibt’s nur im Alten Testament. Wohl dem – das ist ein wichtiges Thema der Weisheitsliteratur. Etliche Psalmen und die Sprüche Salomo reden darüber. Am Inhalt kann man schon merken, dass es hier um mehr als punktuelle Glücksmomente geht. Lebensweisheit ist gefragt. Und wer in seinem Leben weise ist, der ist auch glücklich.
„Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!
Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl.“
So besingt es Psalm 1, quasi das Eröffnungsgedicht dieser Literaturform.
Im Neuen Testament hingegen wird man selig. Was wir gemeinhin Glück nennen, spielt nicht so eine große Rolle. Wobei selig auch mit glücklich übersetzt werden kann. Manche kennen ja die berühmten Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium: „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Weil die Worte selig oder glücklich gar nicht genug beschreiben, was gemeint ist, haben verschiedene Übersetzer auch verschiedene Formen gefunden, das zu umschreiben. „Glücklich, ja selig“ – so sagt es zum Beispiel Jörg Zink. Die Gute-Nachricht-Bibel schreibt: „Freuen dürfen sich alle.“ Und in einem Lied habe ich die schöne Version entdeckt: „Die sind zu beneiden.“ Aus allen Begriffen und den rund 200 Bibelstellen, in denen „glücklich“ oder „selig“ vorkommen, wird mir zuerst klar: Es geht Gott tatsächlich darum, dass wir glücklich, ja selig werden. Sonst hätte er sich nicht so viele Gedanken darum gemacht. Und wenn ihm so viel daran liegt, dass wir glücklich werden, dass unser Leben gelingt, dann wird dieses Glück wohl bei ihm zu finden sein.
Es fehlt immer noch etwas. Und vielleicht ist es wirklich das Schicksal unseres Lebens, die Lebensaufgabe, dieses Etwas zu finden und festzuhalten. Wir planen solch einen Gottesdienst ja länger. Und viele machen sich dazu so ihre Gedanken. Die Moderatoren zum Beispiel haben sich überlegt, wie der Schluss denn aussehen könnte. Der Schlusssatz, der geplant war, ist ganz einfach: „Glücklich und zufrieden müssen Sie einfach sein.“ Ganz einfach. Ganz schwer, wenn das nämlich nicht so einfach ist, glücklich zu sein. Und der Satz ist ganz wahr – denn es geht tatsächlich nicht darum, für sein Glück alles zu haben, sondern etwas zu sein.
Mit dem Haben wird es immer hapern. Haben wir Geld, fehlt uns vielleicht die Gesundheit. Haben wir Gesundheit, fehlt uns vielleicht Freizeit. Haben wir Freizeit, fehlt uns Geld. Der Tipp, den Jesus dem reichen Menschen in dieser Geschichte gibt, ist deswegen auch kein Haben-Tipp: „Das müsstest du noch haben außer deinem Geld und deiner absolut guten und ehrlichen Frömmigkeit.“ Nein. Er ist ein Sein-Tipp: „Komm und folge mir nach.“ Sei ein Anderer, sei ein Nachfolger, sei ein Befreiter, sei ein glücklicher, ein seliger Mensch.
Sei – ein Kind Gottes. Wenn ich mich in der Bibel umschaue, dann entdecke ich vor allem dieses eine: Wir sind. Wir sind nicht auf der Welt, um zu schaffen, zu kämpfen, zu leiden, zu haben, zu erreichen. Wir sind auf der Welt, um zu sein. Zu philosophisch? Nehmt es viel einfacher. Hört es, wie Jesus und seine Nachfolger das beschreiben: „Ihr seid meine Freunde“, sagt Jesus (Johannes 15,14). „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk“, schreibt Petrus (1. Petrus 2,9) Ok, die Begriffe sind ein bisschen kompliziert, würden einen eigenen Gottesdienst brauchen, um sie zu erklären. Aber Tatsache ist: Ihr seid. Das ist der entscheidende Punkt. Noch ein paar Beispiele? An die Christen in Korinth schreib Paulus: „Ihr seid reingewaschen, geheiligt, gerecht; teuer erkauft“ (1. Korinther 6,11.20) Und dass wir Gottes Kinder sind, sagt uns die Bibel öfter auf den Kopf zu (u.a. Johannes 1,12; Römer 8,14.16; Galater 3,26; 1. Johannes 3,1.2.9).
Es ist zuallererst die Tatsache, dass Gott uns über alles andere liebt und wir seine Kinder sind, die uns die Tür zum Glück öffnet. Wir brauchen dafür nichts zu tun und können uns in Gottes liebende Arme fallen lassen. Selbst in unserer Wohlstandsgesellschaft, in der schon die Kinder früh anfangen, Vergleiche mit anderen zu ziehen, sind glückliche Kinder nicht solche, die alles haben, sondern diejenigen, die Kinder sein dürfen. Und das bedeutet: die bedingungslos geliebt werden, die in ihrem Leben – egal was kommt – vollkommen ihren Eltern vertrauen können. Von Reinhard Mey gibt es das schöne Lied vom Zeugnistag. Das Zeugnis war schlecht ausgefallen, „nicht einmal eine Vier in Religion“. Also selbst unterschrieben – und damit aufgeflogen. Die Eltern werden in die Schule zitiert. Gemeinsam mit dem missratenen Sohn stehen sie vor dem tobenden Direktor. Und was machen die beiden?
Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich an
und sagte ruhig: „Was mich anbetrifft
so gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifels daran,
das ist tatsächlich meine Unterschrift.“
Auch meine Mutter sagte, ja, das sei ihr Namenszug.
Gekritzelt zwar, doch müsse man versteh’n,
dass sie vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen trug.
Dann sagte sie: „Komm, Junge, lass uns geh’n.“
Meys Fazit am Schluss des Liedes: Was er jedem und vor allem seinem eigenen Kind wünscht, sind
Eltern, die aus diesem Holze sind,
Eltern, die aus diesem Holz geschnitten sind.
Wer sich so geliebt weiß, angenommen weiß, der hat das Glück gefunden, das ihm die Welt nicht mehr rauben kann.
Einen Menschen, von dem ich in den letzten Tagen ein Buch gelesen habe, konnte ich Donnerstagabend persönlich erleben, live. Der hat einen Satz gesagt, der mir wörtlich hängen geblieben ist – und der hatte auch etwas mit dem Sein zu tun. „If you seek love – BE love.” “Wenn du Liebe suchst, dann SEI Liebe.“ Und mit derselben Paarung – wenn du in dieser Welt dies und das suchst, dann SEI es – hat er noch andere Beispiele gegeben. Er selbst lebt das, er IST das. Und, das ist das Erstaunliche, Ermutigende und Motivierende nicht nur für mich: Er lebt das, obwohl er viel weniger hat als andere Menschen. Denn er hat keine Arme und Beine. Sein Geheimnis: er fragt nicht nach dem, was fehlt. Er schaut auf das, was er ist und hat Träume für sein Leben. Und lebt SEIN Leben. Dabei vertraut er darauf, dass Gott, sein Vater im Himmel, keinen Fehler macht. Er schreibt:
Hier ein typischer Kommentar, der neben Hunderten anderen unter meinem Video steht: „Wenn ich sehe, wie glücklich dieser Typ ist, dann frag ich mich ernsthaft, wieso ich mich manchmal selbst bedauere … oder mich nicht hübsch genug finde, oder witzig genug, oder EGAL WAS. Wie zum Kuckuck komme ich auf solche Gedanken, und dieser Kerl hat keine Arme und Bein und ist trotzdem GLÜCKLICH!?“
Die Frage höre ich oft: „Nic, wie schaffst du es, glücklich zu sein?“ Ich vermute mal, du hast selbst gerade an dem einen oder anderen zu knabbern, also antworte ich mit der Kurzversion. Es ging mit mir bergauf, als mir Folgendes klar wurde. Obwohl ich alles andere als perfekt bin, bin ich trotzdem der perfekte Nick Vujicic. Ich bin ein Gedanke Gottes. Das bedeutet nicht, dass das Nonplusultra schon erreicht ist. Ich habe noch jede Menge Entwicklungspotential!
(Nick Vujicic: „Mein Leben ohne Limits“. Brunnen Verlag Gießen 2011, S. 15f.)
Er IST: ein Gedanke Gottes, ein Kind Gottes, einer mit einem Lebensziel und einer Lebensaufgabe.
Was zum Glück fehlt? Vielleicht, dass auch wir lernen, dass jeder hier im Raum ein wunderbarer, einzigartiger Mensch ist, einer, wie es keinen zweiten gibt. Und dass jeder hier mehr Möglichkeiten hat, als wir uns das je erträumen können; weil wir nämlich mit Gottes Möglichkeiten rechnen können. Ob wir den Mut dafür aufbringen können, das zu leben?