Predigt zu Jesaja 58,7–12 (Erntedankfest)
Sind Sie auch schon in einem „social network“ eingebunden? „Social network“? Das ist modern, das ist in. Ohne geht es gar nicht mehr. Wussten Sie nicht? Dann haben Sie etwas verpasst. „Social network“ kann man relativ leicht ins Deutsche übersetzen: soziales Netzwerk, also die Verbindung von Menschen untereinander, miteinander, eben wie in einem Netz.
Mh – im ersten Moment denke ich dabei an ein Dorf. Das war doch immer ein soziales Netzwerk. Ich wusste immer, was bei Nachbars los war. Und welchen Spruch der Müller wieder losgelassen hat – also, der war Müller mit einer richtigen Wassermühle, hieß aber ganz anders. Und selbst wenn am anderen Ende mal wieder ein Kind zur Welt gekommen ist, wussten wir das zu Hause eher, als es in der Zeitung stand. Klar. Selbstverständlich auch, dass aus jeder Familie mindestens einer mit zu einer Beerdigung ging, wenn im Dorf jemand gestorben war. Ich kann mich noch gut an manches Gespräch am Mittagstisch erinnern: Und wer geht heute zur Beerdigung von Maier oder Schulze oder Hinz oder Kunz? Denn auch wenn der Vater wieder auf die Baustelle musste und die Mutter einen Termin beim Buchhalter hatte – einer aus der Familie muss hin, und dann ist es eben der Sohn im Konfirmandenalter. „Social network“ eben – jeder war mit dem anderen wie in einem Netz verbunden, verwoben. Und das auch dann, wenn man’s gar nicht wollte, wenn einem die oder der seltsam vorkam und ganz eigenartige Ansichten hatte – aus eigener Ansicht heraus betrachtet.
Diese Netzwerke gibt es immer noch. Das bekannteste moderne soziale Netzwerk heißt Facebook – zu Deutsch das „Gesichtsbuch“. Und – manche wissen es, andere ahnen es und wieder andere befürchten es: natürlich gibt es das im Internet, dem sogenannten www oder „world wide web“. Was auch nichts anderes meint als das weltweite Netz. Facebook. Eine sangesgewaltige Männergruppe, die Wise Guys, haben ein Lied darüber geschrieben:
Bevor ich morgens schnell bei Facebook reinguck, hab ich keine Ahnung wie’s mir geht. Bevor ich morgens schnell bei Facebook reinguck, weiß ich nicht, ob sich die Welt noch dreht.
Netzwerk in Reinform: Mein Wohlergehen, meine Gefühle, meine Weltsicht sind so eng mit anderen verknüpft, dass ich ohne die elektronische, virtuelle Verbindung gar nicht weiß, wie es mir geht und ob sich die Welt noch dreht. Kritiker nennen das allerdings Realitätsverlust.
Dabei ist der Gedanke des sozialen Netzwerkes uralt. Und – das beeindruckt mich wirklich: Wie es den Menschen in meinem Netzwerk geht, kann mir tatsächlich nicht egal sein. Schon der Prophet Jesaja hat das so erkannt und beschrieben – und der hatte kein Internet und keine Facebook-Freunde.
„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten …“
Netzwerk. Was ich tue oder lasse, gestaltet die Welt! Was ich dem anderen gebe oder verweigere, bestimmt nicht nur, wie es dem anderen geht, sondern auch, wie es mir ergeht. Bei so mancher Gelegenheit im Jahresverlauf kann man über diesen Gedanken nachdenken. Ganz bestimmt aber gehört er schon lange zum Erntedankfest dazu. Denn hier wird schon seit alter Zeit deutlich, wie Mensch und Natur und Gottes Segen untrennbar miteinander verbunden, vernetzt sind.
„Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand.“ (Ev. Gesangbuch Nr. 508)
Jesaja mahnt sein Volk, die Israeliten, das Netzwerk wieder zu beachten. Zurzeit, als die letzten Kapitel des Jesajabuches entstanden sind, waren die Israeliten wohl gerade aus dem Exil zurückgekehrt. Zuerst hatten die Babylonier das ganze Land unterdrückt und eine bedeutende Anzahl Menschen einfach nach Babylonien verschleppt. Dann lebten die verschleppten Israeliten im Exil im heutigen Irak. Und 70 Jahre später durften sie wieder nach Hause zurückkehren und ihr Land wieder aufbauen. Im Exil ist die Form des Gottesdienstes entstanden, von dem sogar unsere Gottesdienste heute leben. Denn da es in Babylonien nicht den Tempel gab, konnten die Israeliten nicht mit Opfern zu Gott kommen, so wie es vorher üblich war. Sie trafen sich aber regelmäßig, um die alten Geschichten zu erzählen oder alte Texte zu lesen und darüber nachzudenken. Die Synagogen sind dort entstanden. Das Gespräch über Bibeltexte und die Auslegung, die Predigt sind dort entstanden. Und auch neue Lieder und Gebete wurden im Exil gedichtet und aufgeschrieben. Wieder zurück, wieder im Land kam die Frage auf, was denn das Unglück heraufbeschworen hatte. Warum eigentlich hat Gott sein Volk nicht bewahrt? Warum hat er nicht einmal seinen eigenen Tempel vor der Zerstörung beschützt?
Die Antwort der Propheten: Ihr habt nicht mehr nach Gott gefragt. Eure Opfer habt ihr zwar noch gebracht – aber euer Herz war längst nicht mehr bei der Sache. Ihr wart nicht mehr in Gott verliebt, sondern nur noch in euch selbst. Das Netzwerk war zerbrochen – zu allererst die Verbindung zu Gott. Aber dann genauso die Verbindung zum Nächsten – zum Nächsten aus dem eigenen Volk und zu den Fremden, die als Gäste im Land waren. Da setzt Jesaja ein und ruft – ganz modern – das Bild vom Netzwerk wieder in Erinnerung. Wobei es gewiss anders ist als Facebook. Du musst schon aufstehen und dich bewegen, mehr als die Hand mit der Computermaus, mehr als die Finger auf der Tastatur. „Brich dem Hungrigen dein Brot.“ Das wird sehr konkret. Nimm ein Brot in die Hand und gib es dem, der keins hat. Nicht gute Worte, nein, ein Stück Brot. Elende und Obdachlose führe ins Haus. Nicht eine Fotostrecke im Internet, mach die Haustür auf und bitte herein.
Wer sich ein bisschen in der Bibel auskennt weiß, dass Jesus diese Ideen von Jesaja aufgreift und im Grunde genommen zum Maßstab für ein christliches Leben macht. Die Beispiele, die Jesus nennt, sind ähnlich wie die von Jesaja. Man könnte sie auch einmal als Fragen formulieren: Habt ihr Hungrigen zu essen gegeben und Durstigen zu trinken? Gebt ihr Fremden eine Heimat, Nackten Kleidung? Besucht ihr Kranke oder Gefangene? Auch Jesus redet dann von dem Netzwerk, in das wir eingebunden sind. Wörtlich: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 40b) Ich und der Nächste neben mir und Jesus — miteinander verbunden.
Heute am Erntedankfest erinnern wir uns zu allererst an die Verbindungen, die uns das Leben ermöglichen und die uns mehr als nur das nackte Leben schenken. Traditionelle Erntegaben schmücken den Tisch: Getreide und das Brot, das daraus gebacken wird, Obst und Gemüse, Milch und Saft und Wasser. Wir mögen noch so modern leben – die Grundlagen für unser Leben sind Erzeugnisse der Natur. Und müssen wir nicht zugeben, dass sie nicht auf unserem Mist gewachsen sind? Die wenigsten sind noch Bauern, die die Nahrungsmittel anbauen, die Kühe und Schweine und Hühner halten. Wir kaufen, was wir brauchen. Aber die Grundlagen dafür, die wachsen auf Gottes Erde. Sie gedeihen und kommen durch viele Hände und über viele Arbeitsschritte in die Regale der Märkte. Die Bauern machen sich viel Mühe und Arbeit damit, sie riskieren Misserfolge und spüren als erste, ganz unmittelbar, wie wir trotz aller Technik und Wissenschaft von der Natur – oder besser: von Gottes Güte abhängig sind. Ist das Frühjahr zu trocken, der Sommer verregnet, dann wird nicht viel geerntet. Dabei haben wir es in Mitteleuropa noch gut, selbst wenn es einmal ein schlechtes Jahr gibt. In manchen Ländern Afrikas regnet es jahrelang nicht und Millionen Menschen sterben, weil sie nichts zu essen haben.
So gehört heute unser Dank Gott dafür, dass er uns wieder versorgt hat. Und der Dank gehört auch allen, die daran mitgewirkt haben, den Bauern, denen, die Lebensmittel verarbeiten, den Eltern, die ihre Kinder versorgen, den Menschen, die über die Qualität unserer Nahrung wachen. Es ist so nötig, dass wir uns an diese engen Verbindungen immer wieder erinnern lassen und sie nicht aus dem Blick verlieren. Dabei ist das beste Mittel, das Netzwerk lebendig zu halten, eben die Dankbarkeit. Wenn wir einem anderen Danke sagen, dann merken wir ja zuerst, dass wir zusammengehören. Und aufrichtig Danke sagen führt uns auch dazu, nach dem Wohlergehen des anderen zu fragen. Wenn einer mich reicht beschenkt, dann frage ich – aus Dankbarkeit und Freude – doch danach, wie ich meinen Dank ausdrücken kann, was ich dem anderen seinerseits Gutes tun kann. Das ist kein Geschäft, keine Verrechnung einer Leistung mit einer Gegenleistung. Die Bibel gebraucht dafür das Wort Liebe. Es ist die lebendige Beziehung zum andern, zu unserem Mitmenschen und genauso zu Gott.
Ist es nicht erstaunlich, mit welcher Fülle an Segensverheißungen Jesaja seine Gedanken über das lebendige und gesunde Netzwerk beendet? Licht, dein Licht! wird in der Finsternis aufgehen; selbst dein Dunkel wird sein wie der Mittag; wie ein bewässerter Garten wirst du sein; wie eine Quelle, der es nie an Wasser fehlt. Beachten wir den Hintergrund, auf dem Jesaja diese Bilder gebraucht: Steppe und Wüste sind um das Land Israel herum und auch im Land zu finden. Eine Quelle, die nicht austrocknet, ein bewässerter Garten, das ist mehr als ein Geschenk. Das ist der pure Luxus, das ist Reichtum ohne Ende, Leben ohne Ende. Licht und Dunkel werden intensiver am Mittelmeer erlebt, weil es dort weniger Dämmerung als bei uns gibt. Wenn es Nacht wird, dann geht das fast auf einen Schlag. Genauso wenn es Tag wird. So vollkommen, so überraschend, so überwältigend wird Gottes Güte über denen leuchten, die auf den anderen achten.
Ganz ehrlich: es verblüfft und beschämt mich, wenn ich lese, was Jesaja auf die Fragen seines Volkes antwortet. Das Kapitel, in dem Jesaja von diesem Netzwerk schreibt, fängt mit der Frage des Volkes an Gott an: „Warum fasten wir – und du siehst es nicht an?“ (Jesaja 58,3) Sind wir nicht Gottes Volk? Feiern wir nicht Gottesdienste? Bringen wir nicht Opfergaben? Die Antwort Jesajas: Ihr könnt überreichen Segen erfahren. Gott wird dir antworten. Du brauchst dafür nur die Kanäle freizumachen, die du selbst verstopft hast. Öffne dein Herz – nicht nur für die schönen Gottesdienstformen, die du gerne wahrnimmst. Öffne dein Herz für den Menschen, der dir auf der Straße begegnet, der dir im Supermarkt über den Weg läuft, von dem du im Fernsehen siehst. Öffne dein Herz für den Menschen neben dir, und du öffnest damit ein Tor für Gottes Güte. Es ist ein weiser Gedanke, dass etwa die Kollekte am Erntedankfest für Brot für die Welt ist. Wir könnten ja auch sagen: Da kommen endlich mal mehr Leute in den Gottesdienst – und eine Kollekte für die eigene Gemeinde würde uns ein Stück unserer finanziellen Sorgen nehmen. Nein – an Erntedank wie auch an Heilig Abend geben wir weiter, was wir empfangen; öffnen unsere Hand und unser Herz für andere. Ob wir an solchen Tagen auch als Interessenvertreter des Vereins Kirche daran danken, dass wir auf diese Weise das Tor für Gottes Güte öffnen können?
Ich glaube, es ist die Dankbarkeit, die es uns ermöglicht, Herz und Hand zu öffnen. Die immer wieder neu zu lernen und einzuüben verändert unsere Haltung zu unseren Mitmenschen. Wenn wir mit großer Dankbarkeit annehmen, was Gott uns schenkt, können wir mit weitem Herzen anderen weitergeben, was wir haben. Und werden staunen, wie aus klagend-dürrem Land ein bewässerter Garten im Netzwerk Gottes wird.
Amen.