Predigt zum Lied „Wir warten dein, o Gottes Sohn“ (EG 152)
(drittletzter Sonntag im Kirchenjahr)
1. Wir warten dein, o Gottes Sohn, und lieben dein Erscheinen.
Wir wissen dich auf deinem Thron und nennen uns die Deinen.
Wer an dich glaubt, erhebt sein Haupt und siehet dir entgegen;
du kommst uns ja zum Segen.
2. Wir warten deiner mit Geduld in unsern Leidenstagen;
wir trösten uns, dass du die Schuld am Kreuz hast abgetragen;
so können wir nun gern mit dir uns auch zum Kreuz bequemen,
bis du es weg wirst nehmen.
3. Wir warten dein; du hast uns ja das Herz schon hingenommen.
Du bist uns zwar im Geiste nah, doch sollst du sichtbar kommen;
da willst uns du bei dir auch Ruh, bei dir auch Freude geben,
bei dir ein herrlich Leben.
4. Wir warten dein, du kommst gewiss, die Zeit ist bald vergangen;
wir freuen uns schon überdies mit kindlichem Verlangen.
Was wird geschehn, wenn wir dich sehn, wenn du uns heim wirst bringen,
wenn wir dir ewig singen!
Im Gottesdienstverlauf werden vor der Predigt die folgenden Texte gelesen:
Hiob 14,1–6; Römer 14,7–9; Lukas 17,20–24
Sind Sie auch mit den Gedanken manchmal ganz wo anders? Dieser Tage kam mir das in spaßiger Weise wieder einmal unter. In großer Runde saßen wir Mitarbeitende des Kirchenkreises zusammen und lauschten einem Vortrag zum Thema „Luther und Familie“. Konventsrüste, drei Tage in Brotterode, und es war die Auftaktveranstaltung für das Gesamtthema zur Frage, wie man Menschen den Glauben nahe bringen kann.
Martin Luther hat sich diesem Problem ja ganz neu gestellt und unter anderem zwei Lehrbücher des Glaubens erfunden. Luthers Glaubenskurs hat ganze Konfirmandengenerationen beschäftigt. Die Konfirmandenausgabe heißt „der kleine Katechismus“, und berühmt-gefürchtet ist vielleicht die kleine Frage, die dort ständig auftaucht: „Was ist das?“ Nach jedem Abschnitt, sei es nach einem Gebot, einer Bitte aus dem Vaterunser, einem Teil des Glaubensbekenntnisses kommt diese Frage – so oder so ähnlich formuliert – und dann die Antwort Luthers. Die 10 Gebote mag man ja noch hinbekommen, aber die Erklärungen Luthers dazu, da ist echtes Auswendiglernen angesagt.
Jedenfalls – die Idee kam auf, doch nicht nur drüber zu reden, sondern den kleinen Katechismus einmal ein stückweit gemeinsam durchzulesen, reihum. Kein Problem, er steht ja im Gesangbuch drin. Wir fingen an zu lesen – und es war wie in der Konfirmandenstunde. Manchmal war einer etwas albern. Und dann kam – auch das war wie früher – einer dran, der nicht wusste, wo wir waren. Offensichtlich mit den Gedanken ganz wo anders. Großes Gelächter und die heiter-ernste Erkenntnis: Wir waren und sind auch nicht anders als unsere Jugendlichen heute.
Mit den Gedanken – oder auch dem Herzen — sind wir nicht immer da, wo auch unser Körper ist. Wir schweifen ab. Sind wir unterwegs, sehnen wir uns vielleicht nach Hause. Verliebte sehnen sich nacheinander. Bei Schmuddelwetter träumen wir von Sonnenstränden. Und auf harter Kirchenbank sehnt sich der eine oder andere vielleicht auch schon nach dem gemütlichen Sofa. Unsere Sehnsucht gilt immer dem Ort, an dem es besser ist als dort, wo wir gerade sind: wärmer, gemütlicher, freundlicher, vertrauter, sicherer, schöner.
Sehnen Sie sich manchmal nach dem Himmel?
Wer sich mit alt gewordenen Menschen unterhält, mehr noch aber bei Menschen, die sehr krank sind, der hört manchmal den Wunsch: „Ach, wenn ich doch endlich sterben könnte.“ Da ist das Herz auch schon ganz wo anders. Es sehnt sich nach Erlösung und Ruhe. Und gelegentlich sagt ein Mensch es mit sehr tröstlichen Worten, die nicht das Ende im Blick haben, sondern einen neuen Anfang: „Ach, wenn ich doch endlich nach Hause könnte, heimgehen könnte.“
Heute ist der drittletzte Sonntag des Kirchenjahres. Und der fordert uns mit seinen Bibeltexten und Liedern geradezu auf, mit unseren Gedanken und Herzen einmal an einem anderen Ort zu verweilen. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Weisen, sich dieser Sehnsucht zu nähern. Hiob sehnt sich nach Ruhe. Der leidet nämlich und fühlt sich zunehmend mehr von Gott selbst angegriffen. Sein Hab und Gut hat er verloren, seine Kinder, seine Familie sind umgekommen. Und er selbst ist krank, schwer krank. Seine Freunde haben mit ihm getrauert, aber nun versuchen sie, ihm zu zeigen, dass er sich wohl an Gott versündigt haben muss – sonst wäre er doch nicht so krank. „Lass mich endlich in Ruhe, Gott. Ich warte nur noch darauf, dass ich sterben kann. So lange kannst du mich doch in Frieden lassen.“ Erlösung – aber die Sehnsucht danach klingt nicht gerade hoffnungsvoll.
Anders Paulus: Solange wir auf der Erde leben, sind wir schon Kinder Gottes. Und wenn wir sterben, dann gilt uns das erst recht. Wir gehören zu Gott, hier und in seiner Zukunft, die sich uns erst nach dem Tod erschließt. Paulus redet voller Hoffnung davon. Er weiß sich schon jetzt geborgen und glaubt daran, dass diese Geborgenheit auch über den Tod hinaus gilt. Und kann sich darauf freuen.
Und Jesus mischt Gegenwart und Zukunft, sichtbare und unsichtbare Welt ganz und gar durcheinander. „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Und doch weiß Jesus ganz genau, dass seine Jünger, dass Menschen sich danach sehnen werden, Gottes Reich sichtbar wahrzunehmen, Gottes Eingreifen in der sichtbaren Welt zu erleben.
„Wir warten dein, o Gottes Sohn.“ So dichtet Philipp Friedrich Hiller 1767 – und wir haben es gesungen. Hiller war Pfarrer und Liederdichter und gleicht darin Paul Gerhardt. Über 1000 Lieder hat er verfasst, und die Kirchenmusikkundigen nennen ihn sogar den schwäbischen Paul Gerhardt. Eine erste Liedersammlung hat er mit Lobliedern herausgegeben, die er zu jedem Tag des Jahres verfasst hat. Die zweite Liedersammlung beschäftigt sich ganz ausdrücklich mit der Erwartung der Zukunft Jesu Christi – so sagt er es im Vorwort seiner Liedersammlung selbst.
„Wir warten dein, o Gottes Sohn, und lieben dein Erscheinen.“
Wenn wir solch ein Lied laut singen, muss die Frage erlaubt sein: Ist das so? Denken wir so? Ist unser Herz tatsächlich ganz wo anders – nämlich in der unsichtbaren Welt Gottes, im Himmel? Es klingt in der ersten Strophe ja sogar schon Adventshoffnung an: „Wer an dich glaubt, erhebt sein Haupt und siehet dir entgegen.“
„Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“, sagt Jesus im Lukasevangelium (Lukas 21,28). Die Kirche hat diese Verheißung als Überschrift über den 2. Adventssonntag gesetzt. Die Hoffnung hat ihren Grund, denn Jesus Christus ist nicht irgendeiner. Jesus Christus ist der Herr der Welt, so sagt es Hiller: „Wir wissen dich auf deinem Thron.“ Einer, der nicht an Raum und Zeit gebunden ist und der über die ganze Welt herrscht – nur der kann zu ihrer Erlösung kommen. Nur einer, der den Tod und damit die Grenze zwischen Himmel und Erde überwunden hat, kann zum Segen für seine Menschen kommen. So glaubt es der Liederdichter und lädt uns ein, zuerst einmal neu zu entdecken, wem wir da eigentlich vertrauen.
Aber Jesus ist nicht nur der Herr und König. Er ist derjenige, der schon einmal auf der Erde war und unser Leben gelebt hat. Das ist ein Trost, der Menschen in ihren Leidenstagen trösten kann und Geduld gibt. Wer sich die Klage‑, Leidens- und Trostlieder im Gesangbuch und die entsprechenden Bibelworte anschaut, stellt fest, dass sie auf Jesus hinweisen, der selbst mit seinen Menschen, mit uns gelitten hat. Und nicht nur mit uns, sondern genauso für uns. Schuld und die Folgen für eine Welt, die ohne Gott lebt, hat Jesus getragen.
Hier wird deutlich, dass Hiller kein Flüchtling aus dieser Welt ist und dass er auch uns keine Flucht erlaubt oder sie uns vielleicht sogar empfiehlt. „Wir lieben dein Erscheinen“ – aber das geschieht zu der Zeit, die Gott bestimmt. Solange leben wir hier, mit unseren Aufgaben, mit unseren Sorgen, mit mancher Freude und mancher Not. Genauso widerspricht das Lied einer vergeistigten Schau oder Interpretation, die darauf verzichtet, wirklich auf eine Veränderung der Erde zu hoffen oder auf eine echte, körperliche, sichtbare Auferstehung zu hoffen. Ja, es stimmt, Gott ist uns im Geist nah. Und es ist auf dieser Erde zu allererst eine Herzensangelegenheit, ihm zu glauben, auf ihn zu hoffen. Manches, vieles ist noch nicht sichtbar. Aber das wird es ganz gewiss werden.
„Du bist uns zwar im Geiste nah, doch sollst du sichtbar kommen.“
Wagen wir, das laut zu singen? Und außerhalb dieser schützenden Wände einer Kirche zu sagen? Dort zu sagen, wo wir nicht Insider um uns haben, die das gleiche glauben, sondern Menschen, die sehr wohl nur das glauben, was sie sehen können? Unser Glaube ist nicht nur etwas für das Herz und fürs Gemüt. Unser Glaube gehört ganz laut in unsere Welt hinein gesagt. An der Grenze zwischen unserer sichtbaren Wirklichkeit und der unsichtbaren Wirklichkeit ist es an uns, nicht nur die Hoffnung auf Gottes Zukunft wachzuhalten und zu bekennen. Es ist auch unsere Sache, Gottes Wirken in dieser Welt und in dieser Zeit zu erbitten und uns dafür auch einsetzen zu lassen.
Am Freitag habe ich in der MZ gelesen, dass Margot Käßmann, die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD und Bischöfin in Hannover, die Schirmherrschaft für die „Aktion Aufschrei“ übernommen hat. Dieses Bündnis möchte generell den Export von Waffen beenden. Sogar im Grundgesetz soll nach dem Wunsch des Aktionsbündnisses verankert werden, dass Waffen nicht ins Ausland verkauft werden dürfen. Und für Waffengeschäfte innerhalb von EU oder Nato soll auch jeder einzelne Fall gesondert verhandelt werden. Das ist ein Beispiel, ernst zu machen mit dem Anspruch Gottes an dieser Welt – für den wir doch einstehen, wenn wir solche Lieder laut singen.
„Wir warten dein“ – aber wir legen gerade nicht die Hände in den Schoß und lassen die Welt laufen, wie sie nun mal läuft. Wir bleiben dran an den brennenden Fragen unserer Zeit und mischen uns ein, oder?
Ob uns eine Vorfreude auf Gottes Welt so anstecken kann, wie Kinder von der Vorfreude auf Weihnachten angesteckt werden? „Wir freuen uns schon überdies mit kindlichem Verlangen.“ Die Kinder Wissen, dass Weihnachten real ist. Die ahnen, dass unter dem Weihnachtsbaum wieder Geschenke liegen werden. Und manchmal bekommen sie vorher ja schon kleine Zeichen mit – wenn ein Päckchen kommt und die Mutter es schnell versteckt. Wenn die Eltern einkaufen, und sie dürfen dann nicht so wie sonst in die Einkaufstaschen schauen. Wenn wieder Geschenkpapierrollen besorgt werden.
„Was wird geschehn, wenn wir dich sehn?“ Es muss doch unvergleichlich schön sein, wenn unsere Hoffnungen, die so wage sind, die wir nur in ganz unvollkommene Bilder packen können, endlich wahr werden – sichtbar wahr. Das vielleicht liebste Bild der Bibel für diesen Moment: Es ist, als ob ein Mensch nach langer, beschwerlicher Reise endlich nach Hause kommt. Manchem fällt dazu die Geschichte vom verlorenen Sohn ein (Lukas 15). Ich muss dabei ganz oft an ein Lied und Bild denken, das mir im Kindergottesdienst begegnet ist und das wir oft gesungen haben. „Weil ich Jesu Schäflein bin“ heißt es. In der letzten Strophe erzählt das Lied eben vom diesem Bild, nach Hause zu kommen: „Denn nach diesen schönen Tagen werd‘ ich endlich heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß. Amen, ja mein Glück ist groß.“
Das Bild vom guten Hirten steht dahinter, der loszieht, und das eine Schaf sucht, das verloren gegangen ist und der es dann auf seinen Armen nach Hause trägt (Lukas 15).
Das Bild von Gott als gutem Hirten steht dahinter, wie er im 23. Psalm beschrieben wird. Auch da endet das Bild, endet der Psalm beim Zuhause: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“
Was mich immer wieder erstaunt: Menschen, die von einer solchen Hoffnung auf Gottes neue Welt getragen wurden und werden, verändern das Gesicht dieser sichtbaren Welt und werden nicht müde, sich hier für ein besserer Leben, für Gerechtigkeit, für Mitmenschlichkeit einzusetzen. Martin Luther wollte noch ein Apfelbäumchen pflanzen, auch wenn er wüsste, dass am nächsten Tag die Welt unterginge, so geht die Rede von ihm. Der Apostel Paulus schwärmt vom Himmel, wäre am liebsten schon dort: „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre.“ (Philipper 1,23) Und was macht er stattdessen? Besucht und gründet Gemeinden, streitet sich mit Stadthaltern und Königen, packt immer wieder neu die Koffer und ist in der Welt unterwegs; sammelt Kollekten für die Gemeinde in Jerusalem, kämpft für einen entlaufenen Sklaven und schreibt theologische Abhandlungen genauso voller Eifer wie Ermahnungen und Ermutigungen seiner Gemeinden. Der Pfarrer und Liederdichter Hiller verlor durch eine Krankheit seine Stimme. Aber er flieht nicht in die Träume nach dem Himmel. Er schreibt – von seinen Sehnsüchten und Hoffnungen; er schreibt Ermutigungen für die Gemeinden, gerade weil er weiß und fest daran glaubt, dass Gott alles neu machen wird und der Himmel auf Erden kein Wunschtraum bleiben wird.
„Wir warten dein, o Gottes Sohn“ – und das wird zur Motivation, in dieser Welt mit aller Kraft und allem Glauben zu leben und zu wirken; weil Jesus ganz gewiss sichtbar auf die Erde kommen wird.
Amen.