Eine Predigt zum Motto des 3. Ökumenischen Kirchentages
Lesung: Markus 6,30–44
30 Und die Apostel kamen bei Jesus zusammen und verkündeten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. 31 Und er sprach zu ihnen: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. Denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen. 32 Und sie fuhren in einem Boot an eine einsame Stätte für sich allein. 33 Und man sah sie wegfahren, und viele hörten es und liefen aus allen Städten zu Fuß dorthin zusammen und kamen ihnen zuvor. 34 Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an.
35 Da nun der Tag fast vergangen war, traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Die Stätte ist einsam, und der Tag ist fast vergangen; 36 lass sie gehen, damit sie in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich etwas zu essen kaufen. 37 Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sprachen zu ihm: Sollen wir denn hingehen und für zweihundert Silbergroschen Brot kaufen und ihnen zu essen geben? 38 Er aber sprach zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht hin und seht nach! Und als sie es erkundet hatten, sprachen sie: Fünf, und zwei Fische. 39 Und er gebot ihnen, dass sich alle lagerten, tischweise, auf das grüne Gras. 40 Und sie setzten sich, in Gruppen zu hundert und zu fünfzig.
41 Und er nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel, dankte und brach die Brote und gab sie den Jüngern, dass sie sie ihnen austeilten, und die zwei Fische teilte er unter sie alle. 42 Und sie aßen alle und wurden satt. 43 Und sie sammelten die Brocken auf, zwölf Körbe voll, und von den Fischen. 44 Und die die Brote gegessen hatten, waren fünftausend Männer.
Gedanken zum Hinschauen
Schaut hin! Manchmal muss man mir das nicht zweimal sagen. „Da, ein Regenbogen.“ Und das finde ich immer noch ungewöhnlich und schön, so dass ich hinschaue, klar. Manchmal wenden sich die Augen von selbst einem bestimmten Punkt und einem besonderen Ereignis zu. Wenn in der Dunkelheit ein Licht aufblitzt, dann schaue ich unweigerlich hin. Das ist ein Reflex. Wenn aus dem Gewirr von Häusern eines hervorsticht – sei es, weil es besonders groß ist und die andern überragt, sei es, dass es besonders bunt und anders auffällig ist – dann schaue ich genauer hin. Klar, dass es Kirchtürme da etwas leichter haben. Die gucken meistens über die Dächer der Häuser hinweg, die sie umgeben. Hin und wieder dringt aber auch ein Klang ein mein Ohr und leitet meine Augen. Das muss nicht immer die Aufforderung sein hinzuschauen. Neulich ging ich durch die Einkaufsstraße in Zeitz und hörte Gitarrenmusik. Es dauerte noch einige Schritte, bevor ich den Straßenmusikanten sah, aber meine Ohren hatten mir die Blickrichtung schon vorgegeben.
In der Geschichte aus dem Markusevangelium gibt es mehrere Momente zum Hinschauen. So schauen die Menschen den Jüngern nach, als diese sich davonmachen. Die Jünger suchten einen Ort, an dem es nach dem Trubel der letzten Tage ruhiger war. Sie fuhren mit dem Schiff los und die anderen hatten das Nachsehen. Aber dann folgten die Menschen den Jüngern. Sie ahnten schon den richtigen Ort, sahen ihn voraus und trafen dann Jesus und seine Jüngerschar auch an.
Jesus sieht. Er sieht die große Menge. Und das heißt bei ihm nicht nur, dass seine Augen da etwas entdecken. Sein Blick geht tiefer. Seine Augen sind das Fenster zu seiner Seele – und zwar anders, als wir es oft meinen. Er lässt in sich hineindringen, was er sieht. Der Jammer der Menschen berührt ihn. Er sieht sie – durch und durch.
Die Jünger sehen, dass es spät geworden ist. Das wird nicht ausdrücklich mit diesem Wort gesagt, aber klar haben sie es gesehen. Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen, es wird Abend. Was nun, Jesus? Wir haben kein Essen, die Menschen hier auch nicht. Und Jesus fordert seine Jünger auf: „Geht hin und seht nach!“ Aus diesem Vers ist das Motto des Ökumenischen Kirchentags geworden: „Schaut hin!“
Noch einmal wird gesehen. Jesus schaut zum Himmel auf und dankt für die Gaben, die Gott gegeben hat. Er sieht wohl den Himmel und den Geber der Gaben über sich und erkennt schon den Reichtum, den Gott gibt. Er sieht weiter, tiefer, genauer. Er sieht die ganze Wirklichkeit und alle Möglichkeiten Gottes.
Am Ende bleibt der Rückblick auf den Tag: Alle wurden satt und es war noch genug übrig – zwölf Körbe voll. Auch da gingen wohl manchen die Augen über.
Schaut hin! Ein spannendes Motto. Eine herausfordernde Aufforderung: „Schaut hin!“ Aber worauf?
Ob der Blick bei mir anfangen darf? Bei den Jüngern ist das so. Und es ist gut so. „Sie fuhren an eine einsame Stätte für sich allein.“ Denn sie brauchten Ruhe und etwas Abstand von den vielen Menschen, die sich um sie und Jesus immer wieder scharten. Jesus selbst hatte sie dazu ermutigt und aufgefordert: „Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig.“ Wir brauchen diese Ruhezeiten. Wir brauchen Momente, in denen wir ganz bei uns sind, ganz für uns selbst da sind. Kein Mensch kann immer nur geben, immer nur machen. Gerade heute, wo immer mehr Menschen immer und überall erreichbar sind, stehen wir unter diesem Druck. „Herr Pfarrer, ich habe sie angerufen, aber sie waren nicht da. Nicht mal auf dem Handy habe ich Sie erreicht.“ Könnte es sein, dass ich gerade bei einem Trauergespräch war? Oder – welch frevelhafter Gedanke – dass ich gerade in Ruhe gegessen habe, allein, draußen im Garten? Und ja, ich habe mir die Freiheit genommen, nicht ans Telefon zu gehen. Schau hin. Und vergiss dabei nicht den Blick auf dich selbst. Vielleicht solltest du mit dem sogar mal anfangen. Freie, zweckfreie Zeit nur für dich. Ohne Handy. Leg es zur Seite. Mach es aus. Nimm ein Buch und lies. Oder nimm kein Buch und höre einfach den Vögeln im Garten zu. Sprich mit Gott. Oder sprich nicht mit ihm und schaue einfach in der Gegend herum. Schau hin. Auf dich.
Wenn es dran ist, dann schau auf deinen Nächsten. Jesus schaute auf seine Jünger und schickte sie in die Ruhepause. Und Jesus schaute auf die Menge. Er sah die Menschen. Und „sie waren, wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“ Wie leicht oder schwer fällt uns der Blick auf andere Menschen? Es muss ja nicht immer gleich die Not sein, die uns in die Augen sticht. Schau hin, wie ein anderer fröhlich ist. Schau hin, wenn einer voller Freude ein Geburtstagspäckchen auspackt und freu dich mit. Schau hin, wie einer die Blumenpracht im Garten bestaunt. Staune mit. Und klar: Schau die Not eines anderen an. Mach’s wie Jesus und lass dir die Not zu Herzen gehen. Das ist gar nicht so leicht. Wie blickt man einen Menschen so an, dass er sich nicht ertappt fühlt? Oder dass er nicht unter meinem Blick leidet? Wie kann ich Mitleid in meinem Blick ausdrücken, ohne mitleidig und oberflächlich zu wirken? Und auf gar keinen Fall will ich nur gaffen. Kann ich in meinen Blick schon hineinlegen, dass ich die Not des anderen an mich herankommen lasse? Und der andere fühlt sich wirklich angesehen dadurch? Das geht wohl nur mit Übung. Und mit Mut. Solche Blicke erheben den anderen und geben ihm vielleicht zuerst Würde. „Du bist es mir wert, dass ich dich anschaue. Du bist kostbar in meinen Augen. Und deine Not schmerzt mich. Ich bin bei dir in deiner Traurigkeit, in deinen Sorgen, in deiner Angst.“ Jesus konnte das schon allein mit seinen Augen sagen. Und mancher hat diese Fähigkeit auch. Schau hin. Sei mutig. Denn Gott gibt dir die wachen Augen dazu und ein Herz, das sich dem andern zuwendet.
Jesu Blick wird dann zur Tat. Und ich denke, das liegt auch daran, dass er Gottes Möglichkeiten sieht – mehr als wir alle. Mir wird das an seinem Dankgebet deutlich. Worte sind uns keine überliefert davon, aber Markus schreibt, dass Jesus zum Himmel aufsah. Er sieht nicht die scheinbar wenigen Gaben – fünf Brote und zwei Fische für 5.000 Menschen. Jesus sieht Gottes Möglichkeit, alle satt zu machen. Und so kann er handeln. Weil Jesus Gottes Möglichkeiten sieht, kann er mit fast leeren Händen zu einem Festmahl einladen und alle werden satt. Sein Blick auf Gott lässt ihn dankbar sein für die Gaben, die da sind. Und sein Blick auf Gott lässt ihn mutig handeln, ja sogar verrückt handeln. Denn verrückt war das schon, ziemlich verrückt sogar. So höre ich in der Aufforderung des Kirchentags „schaut hin“ auch die Aufforderung: Schaut auf Gott! Nehmt ihn in den Blick. Schaut nicht betreten auf den Boden. Schaut nicht auf die Größe der Not. Schaut nicht auf eure kleine Kraft. Schaut nicht auf die Widerstände. Schaut nicht auf die Kritik, die man euch entgegenbringt. Schaut nicht auf Zahlen und Statistiken, auf das Unlogische und Unmögliche. Das zeigt man euch immer zuerst. Darauf will jeder euren Blick lenken – weil es das Offensichtliche ist. Doch das ist eine Lüge. Für Gott gibt es nichts Unmögliches. Er handelt nicht nach statistischen Vorgaben oder reiht sich in das Gesetz von Wahrscheinlichkeiten ein. Gott interessiert die Kritik nicht, die uns so oft bremst.
So wurde Jesus oft gefragt, warum er denn schon wieder bei den Zöllnern und Sündern sitzt zum Essen – und nicht bei den Frommen. „Ganz einfach“, sagt er. „Weil sie die Hilfe und Zuwendung brauchen. Sie bräuchten das weniger von mir, wenn ihr selbst euch um sie kümmern würdet.“ Kritik kümmert ihn herzlich wenig. Er handelt, nachdem er hingeschaut hat. Und er handelt, weil er Gott selbst am Werk sieht. Schaut hin. Schaut auf Gott. Ich staune ja, wenn ich Kirchen besuche. Selbst unsere Dorfkirchen sind ja teilweise recht groß. Und an normalen Sonntagen sind sie auch viel zu groß. Erst recht ist es so mit den Kathedralen und Domen. Bei manchen frage ich mich schon, ob sie jemals in ihrer Geschichte in dieser Größe gebraucht wurden. Wohl kaum. Überdimensioniert. Und trotzdem stehen sie so da. Zum einen, weil sie Gott verherrlichen. Sie sind so groß, weil Gott noch viel größer ist. Schönheit, Eleganz, Pracht soll ihn rühmen. Ja, ja, menschliche Eitelkeit und Ehrsucht – gerade der Fürsten und weltlichen Bischöfe – spielte eine Rolle. Aber nicht nur. Es geht um Gott. Zum andern steckt die Hoffnung darin: Es werden Menschen kommen und Gott anbeten und diesen Raum füllen. Und mir ist, als ob wir diese Hoffnung aufgegeben haben. Wenn wir begründen, warum wir für 100.000 € eine Orgel sanieren oder für die gleiche Summe oder mehr eine Kirche, dann reden wir von Denkmal und besonderem historischen Wert und dass sie doch ein prägendes Gebäude im Dorf sei. Alles Quatsch. Die einzige vernünftige Begründung für uns dürfte sein: Weil wir Gott zutrauen, dass er die Hütte füllt. Ich glaube, das Argument habe ich noch nie gehört. Und ich bekenne: Ich habe es selbst auch noch nie gebraucht. Warum eigentlich nicht, wenn ich sogar darüber predige? Das macht mich nachdenklich. Schaut auf Gott!
Ein letzter Gedanke, eine letzte Blickrichtung: Schaut hin – auf die Welt. Dafür sind ja Kirchentage besonders bekannt: Sie schauen auch auf Ökologie, auf unseren Umgang mit der Welt. Manchmal setzen sie dann Zeichen, bevor andere daran denken: umweltgerechteres Geschirr, keine Plastiktüten. Im Preis für die Kirchentagstickets sind natürlich die Kosten für den Öffentlichen Nahverkehr enthalten, weil es besser ist, mit der Bahn zu kommen als mit dem Auto. Und nicht nur, weil es sonst mit Parkplätzen eng wird. Schaut auf eure Welt. Wie gedankenlos packen Menschen Bananen zusätzlich in Plastiktüten ein. Dabei sind die gelben Früchte schon perfekt verpackt. Wie regen sich Menschen auf, dass Restaurants, sogar Fastfoodketten, auf mehrfach verwendbares Geschirr umstellen, umstellen müssen in absehbarer Zeit. Dabei ist das nur sinnvoll und längst überfällig. Wie wird diskutiert, wenn es keine Inlandsflüge mehr geben soll für Strecken, die mit der Bahn in zwei Stunden erreichbar sind. Dabei ist das doch völlig logisch. Und wehe dem, der sich für den Verzicht oder wenigstens die Einschränkung beim Milchkonsum einsetzt. Milch und Fleisch sind riesige Landschaftskiller. Wie viele Waldflächen werden in Südamerika gerodet, damit wir Rindfleisch essen können. Und wie viele Kühe werden permanent künstlich schwanger gehalten, damit wir möglichst billige Milch trinken können. Palmölplantagen für unsere Kosmetik, Tropenholz für schöne und haltbare Möbel, Kohle und Gas für wohlige Wärme und immer mehr Energie. Und Produkte, die kein Mensch bräuchte, wenn die Werbung uns nicht sagen würde, dass wir sie brauchen. Wer hat eigentlich den Laubbläser erfunden? Schaut auf eure Welt. Es ist die einzige, in der ihr leben könnt. Sie ist euer Garten Eden. Einen andern kriegt ihr nicht. Sie ist uns von Gott anvertraut. Und wir gehen manchmal oder oft so damit um wie die Konzernchefs mancher Autofirma bei der Dieselaffäre. Wir denken: Es merkt schon keiner, wenn wir mit der Schöpfung nicht schöpfungsgemäß umgehen.
Schaut hin! Denn es geht um unser Leben und um unser Glück, um unsere Zukunft, um Würde, um Freude. Das alles schenkt uns Gott – weil er uns sieht und wenn wir genau hinschauen. Ist das nicht beeindruckend? Weil Jesus die Menschen ansieht – Jünger und die vielen Predigthörerinnen und Hörer, wird ihre Not erkannt. Weil er Gottes Möglichkeiten sieht, lädt er zum Gastmahl ein. Weil die Jünger losgehen und die fünf Brote und zwei Fische sehen, kommt genug zusammen. Weil Gott uns sieht, steht uns das ganze, volle Leben zur Verfügung. Schaut hin und merkt: Zuerst seid ihr gesehen – von Gott! So ist mein Wunsch, dass Gott uns die Augen öffnet für uns, für unseren Nächsten, für ihn und für unsere Welt. Mit seinen Augen sehen heißt, das Leben zu finden.
Amen.