Ansprache zum Gedenken an die Pogrome im November 1938,
gehalten bei der Gedenkveranstaltung am 9. November 2023 an der Stätte der Mahnung an der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg.
Ein Menschenleben ist es her – 85 Jahre. In diesem Jahr 1938 zeigte der Nationalsozialismus seine hässliche Fratze im Ausbruch erschreckender Gewalttat. Synagogen – die Versammlungs‑, Gottesdienst- und Gebetshäuser der Juden – wurden niedergebrannt. Bestialisch gut organisierte Schlägertrupps zerstören jüdische Geschäfte. Menschen wurden misshandelt, verhaftet, sogar getötet, einfach weil sie Juden waren. Antisemitismus und Rassismus waren nun mehr als Verwaltungsakte, mehr als Einschränkungen im Leben der Menschen. Leib und Leben waren nicht mehr nur bedroht – sie galten nichts mehr. Das Morden, der Völkermord war Staatsangelegenheit.
Und allzu viele sahen hinweg und machten sich auf diese Weise gemein mit dem Verbrechen der Nationalsozialisten. Ein Aufschrei der Bevölkerung, ein Aufschrei auch der Kirchen blieben aus. Einige wenige merkten es, aber die Masse, auch die Masse der Christen, schwieg. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 war der erste Höhepunkt der Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung erreicht. Und weil zu viele schwiegen – aus Bequemlichkeit, aus Angst um das eigene Wohlergehen, und auch bei zu vielen aus verachtenswerter Zustimmung heraus – konnten die Nazis ihr Vernichtungswerk fortsetzen. Über 6 Millionen Menschen wurden in der Folgezeit ermordet, bestialisch ermordet.
„Nie wieder ist jetzt!“ ist die Überschrift über unser Gedenken in diesem Jahr. Und das bedeutet zum einen: Erinnern. Immer wieder erinnern. Nicht nachlassen damit. „Es muss doch auch mal gut sein“ ist ein fatales Argument. Es ist nicht gut. Diese Gedankenbrut kriecht immer wieder hervor. Hetze, Hass und antisemitische Straftaten haben zugenommen. Deswegen darf das Erinnern nicht aufhören.
Die Menschen, die unter dem Hass der Nazis gelitten haben und gestorben sind, sind kostbar, sind wertvoll. Und sie sind es wert, dass wir uns an sie erinnern, dass Bronzesteine für sie verlegt werden, dass Stelen und Plaketten an Häusern an sie erinnern, dass Jugendliche und manch andere ihrem Leben nachspüren.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass ihr das in diesem Jahr wieder getan habt und uns mit hineingenommen habt in das Leben von Bürgern Wittenbergs. Weil diese Menschen kostbar sind, darf das Erinnern nicht aufhören.
„Nie wieder ist jetzt!“ bedeuten zum anderen: Wir stehen auf. Wir blicken nicht nur zurück. Wir schauen in die Gegenwart, schauen denen auf die Finger, die Türen und Wände beschmieren, schauen denen aufs Maul, die Hassparolen brüllen, schauen hinter die Maskerade vorgeblich besorgter Worte, die Menschen einlullen, bis der reißende Wolf seine Maske dann fallen lässt und wieder mordet.
Als Christ – und vielleicht nicht nur als solch einer – weiß ich, spüre ich, dass wir allein zu schwach dazu sind. Es braucht unser Bündnis, das heute wieder sichtbar tätig geworden ist. Und ich bin auch davon überzeugt: Es braucht den Beistand Gottes. So ist mein Glaube. Deswegen endet unser Gedenken mit dieser Andacht, mit einem Psalm und mit einem Gebet.
Nach dem Gebet sind Sie alle eingeladen, einen Kieselstein auf die Platte des Mahnmahls zu legen. Das greift eine jüdische Tradition auf. Der Stein sagt: Ich war hier. Ich lasse ein Stück von mir hier. Ich ehre dich. Ich vergesse dich nicht.
Und diesen Stein lege ich mir selbst bewusst in den Weg, damit ich stolpere und eben nicht leichtfertig und gleichgültig über die Entwicklungen unserer Tage hinwegsehe und hinweggehe.
Ein kurzer Bericht findet sich auch auf der Seite der Stadtkirchengemeinde Wittenberg.