Freut euch! Mitten in der Passionszeit? Womöglich beim Fasten? Da müsste man einen Grund zur Freude haben. Aber den gibt es vielleicht. Gedanken zum Sonntag mit dem kirchlichen Namen “Lätare”.
Predigt zu Jesaja 54,7–10
„Liebe lebt auf, die längst erstorben schien: Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün.“ Das ist der Refrain aus dem Lied „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt“ (Ev. Gesangbuch Nr. 98) Geschrieben nach dem Evangelium des Sonntags, Johannes 12,20–24
Was aber, wenn da gar nichts grünt? Was, wenn nicht einmal am Horizont etwas Hoffnung aufleuchtet? Der Tunnel ist unbeleuchtet und weil ich ihn nachts durchfahre, gibt es auch kein Licht an seinem Ende.
Da ist Aschenputtel, sitzt wieder einmal im Dreck der Küche. Die Linsen landen auf dem Boden, der noch ungefegt ist. Die Stiefmutter hat sie runtergeworfen. „Räum auf! Mach sauber! Und vor allem sortier‘ mir die Linsen fein säuberlich aus“, giftet die Stiefmutter noch, macht auf dem Absatz kehrt und ist weg. Aschenputtel aber ist allein in ihrem Elend. „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfen.“ Keine schönen Aussichten.
In der Asche sitzt auch Jerusalem, die schöne Tochter Zion – die aus dem Adventslied (Ev. Gesangbuch Nr. 13) , in dem sie sich noch freute. Sie ist zu Aschenputtel geworden, seit die Babylonier die Stadt eingenommen und zerstört haben. Einige Hundert Jahre vor Jesu Geburt war das. Die wohlhabenden und einflussreichen Bürger sind verschleppt worden nach Babel. Sie sind Geiseln dafür, dass sich das Volk Israel nicht erhebt gegen die Besatzer. Und ihr Reichtum, auch das ganze Silber und Gold aus dem Tempel und dem Königspalast sind weg. Zurückgeblieben sind die Ärmeren, die ohne Macht, die Unbedeutenden. Und eine verlorene Stadt, die mal als Braut Gottes galt, das schöne Jerusalem, die schöne Zionsstadt und Geliebte Gottes. Keine Stadtmauern, kein Palast, kein Tempel.
Hoffnung? Schwer zu finden. Wenn sogar Gott nicht mehr hinhört. Er sagt selbst: „Ich habe dich verlassen. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns verborgen.“ Der Bräutigam, der Geliebte, verschmäht seine Braut. Gott verschmäht Jerusalem. Es ist die Zeit des Babylonischen Exils, das 70 Jahre dauerte. Jesaja, der Prophet, hat das Volk in dieser Zeit begleitet.
Zuerst war Jesaja voller Gerichtsworte. Denn in Israel fragte kaum noch jemand nach Gott. Aber nicht nur über Israel spricht Jesaja Gottes Klagen und Anklagen aus. Auch die Völker drumherum hat er im Blick. Die hören ja ebenso wenig auf Gottes Stimme.
Böse Zeit. Denn Gott schaut weg. Er „verbirgt“ sein Angesicht. Nichts mit: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ (Numeri 6,25.26) Das war einmal. Schon wieder so eine Redewendung aus den Märchen. Es war einmal. Aschenputtel.
Wenn Gott wegschaut, geht es bergab. „Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?“ Zeitsprung. Die Jünger sitzen in ihrem Fischerboot. Der Sturm tobt. Die Wellen überfluten das Boot. „Gleich gehen wir unter“, schreien die Jünger. Und Jesus? Der hat die Augen zu. Er schläft. Er sieht und hört nichts. Wenn Gott wegschaut, ist das Leben bedroht. Da wecken die Jünger ihren Jesus: „Meister, fragst du nicht nach uns? Kriegst du nicht mit, was los ist? Hörst du nicht? Schaust du nicht hin? Wir gehen unter!“ (Markus 4,35–41)
„Ich habe dich verlassen. Ich habe mein Angesicht im Zorn verborgen.“ Und Jerusalem ist untergangen. Kein Königreich, kein Wohlstand, kein lebenswertes Leben. Aschenputtel.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Oder mehr noch: Es ist überhaupt nicht die Wahrheit. So ist das, wenn wir nur Halbsätze über Gott hören – bis heute. „Wo war euer Gott? Wo ist euer Gott?“
Gott kommt. Gott kommt zurück – wenn er denn je wirklich weg war, was ich nicht glaube. Jesaja schreibt ein zweites Buch, nachdem sein erstes mit dem Gericht, der Zerstörung Jerusalems endete. Er schreibt die Kapitel 40 bis 55 und die Theologen nennen diese Kapitel zum einen “Deuterojesaja“ – der zweite Jesaja. Vielleicht hat’s ein prophetischer Nachfolger geschrieben. Und zum anderen, das ist viel bedeutsamer und wichtiger zu merken: Sie nennen diese Kapitel das „Trostbuch“ Gottes. Denn es beginnt mit einem Ausruf Gottes, der die Wende einleitet:
„Tröstet, tröstet mein Volk!“, spricht euer Gott. „Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat.“ (Jesaja 40,1–2a)
Ja, Gott sagt, dass er seine Braut, sein Jerusalem und sein Volk verlassen hat und dass er wegschaut. Aber er sagt es anders, als wir es manchmal erleben und glauben. Hören wir genau hin (Jesaja 54,7–10):
7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. 10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.
Aschenputtel, du bleibst nicht allein. Aber es sind nicht die Tauben, die dir zur Hilfe eilen. Es ist der Königssohn, es ist der Bräutigam selbst, der zu dir kommt. „Eine kleine Regung lang habe ich dich verlassen“ übersetzen Buber-Rosenzweig den Anfang. Eine kleine Regung lang. Wenn ich diesen Moment mit einem eigenen Beispiel beschreiben soll: Das Kind hat sein Zimmer in den Zustand kurz nach dem Urknall zurückversetzt. Mehr Chaos geht gerade nicht. Und für einen Moment, eine „kleine Regung lang“ kocht mein Zorn hoch. Denn mich hat’s Stunden gekostet, Ordnung zu schaffen. Für einen Moment – so lange, wie es dauert, die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen.
Ich idealisiere. Manchmal dauern solche menschlichen Momente länger. Und außerdem muss ich die Zimmer unserer Kinder nicht mehr aufräumen. Die können es besser, als ich selbst.
Noch zwei kurze Blicke, viel weiter zurück – zur Befreiung der Israeliten aus Ägypten und sogar bis zum Anfang der Welt: Gott schlägt die Hände überm Kopf zusammen und dreht sich kurz um. Als die Israeliten beim Beginn ihrer Flucht Richtung gelobtes Land einen sichtbaren, greifbaren Gott wollten, gossen sie sich das Abbild eines Stieres – das goldene Kalb. Und Gott hatte die Faxen dick. Er dreht sich um. „Mose, ich mag nicht mehr. Ich starte mit dir noch mal neu und mache dich und deine Nachkommen zu meinem Volk.“ (Exodus 32,1–14) Moses Fürbitte genügt und Gott wendet sich seinem Volk wieder zu.
Und ja, Gott wirft Adam und Eva aus dem Paradies, weil sie sich über ihn erhoben hatten, ihm zutiefst misstrauten und ihm die Gemeinschaft kündigten (Genesis 3). Aber vom ersten Moment an hat Gott den Plan im Kopf, wie er seine Menschen wiedergewinnt und zurückholt. Er weiß schon, dass und wie er sie auslösen wird aus dieser Gottesferne.
Dem kleinen Augenblick, dem Moment der zornigen Regung setzt Gott seine Größe und seine Ewigkeit entgegen. „Mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen.“ Und er nimmt seine „Rolle“ wieder ein: Er ist der Erlöser. Das ist er in Person, das ist ein Teil seines Wesens als Gott. Niemand anderes kann das und niemand anderes muss das tun – seine Menschen erlösen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass genau vor diesem Kapitel bei Jesaja eines der schmerzlichsten steht, das Passionskapitel schlechthin – Jesaja 53. Gott tritt schon für seine Braut ein, noch bevor er ihr selbst diese Zusage übermittelt. Es kostet ihn seinen einzigen, eingeborenen Sohn. So lesen wir es als Christen. Die bekanntesten Verse aus dem 53. Kapitel:
4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Gott legt schon den Grundstein für seine ewige Zuwendung, bevor wir eine Ahnung davon haben. Wir sind (!) durch seine Wunden, durch Jesu Wunden, geheilt. Das ist schon so.
An diesem Sonntag mit dem schönen Namen „Freu dich!“ – Lätare – schauen wir über das Leiden Jesu hinaus. Wir werfen einen Blick darauf, wozu Jesus leidet und stirbt und entdecken ein Vorhaben, das uns den Atem rauben könnte. Denn Gott erhebt sein Aschenputtel aus der Asche. Er macht die Verachtete zu seiner Königin. Er macht alle Verachteten, alle Verstoßenen zu Königskindern, zu Bräuten und Brautjungfern. „Ich erbarme mich über dich. Ich hebe dich hoch. Ich reinige dich. Ich ziehe dir dein königliches Kleid an. Du wirst nicht mehr Linsen aus der Asche lesen. Du wirst nicht mehr von denen herumkommandiert, die dich wie Dreck ansehen und genauso auch behandeln.“
Das ist der einzige Sinn, das einzige Ziel für alles, was sich in Jerusalem an Karfreitag abspielt. Und mitten in der Passionszeit werden wir daran erinnert. Es ist eine Art erster Rückblick: „Moment, wohin gehen wir gerade? Nach Jerusalem? Ist das nötig?“ Ja, ist es. Erinnere dich an das Ziel: Gott erhebt dich zu seinem Königskind.
Und es ist eine Art Stärkung, indem uns an diesem Sonntag Gottes Absicht mit uns noch einmal vorgestellt wird. Wir sollen nicht völlig ahnungslos in den Karfreitag hineinstolpern. Und auch nicht voller Angst und Ratlosigkeit. Am Ende siegt das Leben. Und es siegt, weil Jesus sein eigenes Leben für unseres einsetzt. Daran gibt es nichts zu rütteln. Das kann uns niemand streitig machen. Nichts auf der Welt und über sie hinaus wird daran etwas ändern, dass Jesus uns erlöst hat und wir Gottes Kinder sind.
Da können wohl die Berge einstürzen. Und solche Erschütterungen kennen wir ja zur Genüge. Schon rein ohne Sinnbild. Ohne dass wir es sofort als Gleichnis deuten, wissen wir, was passiert, wenn Berge einstürzen. Nicht einmal sie sind unverrückbar. Ein Vulkanausbruch sprengt ganze Kuppeln und Hänge weg, einfach so. Heftiger Regen lässt Berghänge abrutschen und nichts hält sie auf. Was wir für unverrückbar halten, selbst das kommt ins Wanken. Dass wir Frühling, Sommer, Herbst und Winter haben – jahrhundertelang war das so – könnte zu Ende gehen, weil das Klima sich extrem verändert.
Und im eigenen Leben? Auch da stürzen manchmal Berge und Hügel zusammen. Träume fallen auseinander. Ziele werden zerschlagen, bevor wir sie erreicht haben. Lebensentwürfe, so zuversichtlich geplant, werden zu Sackgassen, unerfüllbar.
Noch ein kleiner Rückblick auf einen, der mehrmals so vom Berg seiner Träume heruntergekickt wurde und dann fast erschlagen wurde von den Trümmern seines Lebenstraumes. Josef, der Träumer schlechthin (Genesis 37-50). Er war der Lieblingssohn seines Vaters Jakob. Er bekam das tolle Designergewand, während seine Brüder nur die üblichen Klamotten von der Stange trugen. Erster Absturz: Ab in die Zisterne mit ihm und dann als Sklave nach Ägypten verkauft. Die Brüder schaffen ihn aus dem Weg.
Der Träumer ist ein geschickter und umgänglicher Mensch, steigt auf zum obersten Diener des königlichen Leibwächters auf. Dessen Frau will ihm an die Wäsche und verleumdet ihn, als Josef nicht mittut. Knast. Wieder ganz unten. Dann aber: Berater des Pharao, weil er dessen Träume deuten konnte. Stellvertreter des Pharao, der Ägypten vor einer Hungerkatastrophe rettet. Als seine Brüder zu ihm kommen, nach dem Tod ihres Vaters, haben sie Angst, dass nun das ganze Unheil Josefs über sie hereinbricht. Und er? „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ (Genesis 50,20) Kein einziger Absturz, nicht das, was er selbst provoziert hat und nicht das, was andere ihm angetan haben, kann ihn von Gottes Gnade trennen. Nichts kann Gottes Plan zerschlagen.
„Der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen“, so sagt es Gott. Was wir brauchen um das zu sehen, ist ein weiter Blick für Gottes Geschichte mit der Welt und mit uns. Denn Gott handelt mit einer viel größeren Reichweite und in einem viel größeren Umfeld und Rahmen, als wir überblicken können. Rahmen – das ist schon ein falscher Gedanke. Für Gott gibt es keinen Rahmen. Nichts begrenzt ihn. „Mit ewiger, mit grenzenloser Gnade will ich mich deiner erbarmen.“ (Jesaja 54,8) Umso tröstlicher ist es für mich, dass Gott zu Jerusalem, zu Israel und zu uns heute, zu mir ganz direkt spricht.
„Dich will ich sammeln. Deiner will ich mich erbarmen. Meine Gnade soll nicht von Dir weichen.“ Wir brauchen nicht die Sicht auf die ganze Welt. Wir müssen nicht alles auf der Welt verstehen und einordnen in Gottes große, ewige Geschichte. Hören wir sein Versprechen an Israel damals mutig als ein Versprechen heute an uns: Gott schaut nicht mehr weg. Er schlägt wohl gar manches Mal die Hände über dem Kopf zusammen, wenn wir auf Abwegen und Umwegen unterwegs sind. Aber er wendet sich nicht ab, nicht länger als es braucht, um einmal mit dem Fuß zornig aufzustampfen. Er setzt seine ganze Liebe ein. Er setzt seinen Sohn ein. Jesus trägt alles weg, was uns von Gott und was uns voneinander trennt. Es zählt nicht. Es hat kein Gewicht mehr. Gott bleibt bei uns. Er schaut uns an. Er erhebt sein Angesicht auf uns voller Liebe. Er hebt Aschenputtel aus der Asche. Er hebt uns hoch zu sich. Dort, wo Jesus stirbt, hat sich Gott am tiefsten hinabgebeugt, um uns zu erheben. Freut euch über diese Liebe, heute und immer.