Horizonte-Gottesdienst in der Erlebnis-Kirche in Wählitz am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres (13.11.2011)
Lesung: Offenbarung 21,15
Jenseits der Zeit – wem wohl diese Umschreibung für den Tod eingefallen ist? Sterben und Tod – das hat die Menschen zu allen Zeiten, quasi im Diesseits der Zeit, zu allerhand Gedankengängen bewegt. Und wir haben uns viele Bilder dafür geschaffen. Der christliche Glaube spricht vom Himmel, von ewigem Leben – oder ewigem Tod – vom Paradies, vom neuen Himmel und der neuen Erde. Im Judentum, auf dem die Kirche ja aufbaut, aus dem sie erwachsen ist, gibt es ähnliche Gedanken und Bilder, ebenso im Islam, der eine Mischung aus Juden- und Christentum ist, verbunden mit etlichen anderen religiösen Ansichten arabischer Völker.
Vom Nirwana, also dem Nichts, reden östliche Religionen. Wiedergeburt und Seelenwanderung holen das Jenseitige wieder ins Diesseits zurück und lösen die Grenze auf, die wir doch verspüren. Der Esoterikmarkt bietet ein breites Angebot von Bildern und lädt dazu ein, mit dem Jenseits in Kontakt zu treten, also die Grenze zu überwinden.
Jenseits der Zeit – manche verweigern sich auch gänzlich den Gedanken darüber nachzugehen und sich darauf einzulassen. Die einen sind zu beschäftigt, so dass der Tod keinen Platz hat, um ihm überhaupt einmal einen Gedanken zu widmen. Andere wieder fürchten sich vor diesem Unbekannten. Nur nicht drüber reden, dann passiert vielleicht nichts. Zumindest kann ich dann noch eine Weile in Ruhe leben. Werbung, Idole und Ideale, die uns vor allem Filme und ihre Stars vorspielen, tragen dazu bei, dass wir zwar allem Lebenswerten nachjagen – ob das nun wirklich lebenswert sein mag oder nicht – und den Tod einfach vergessen oder ausblenden.
Aber manchmal kommt der Tod doch in unser Leben hinein. Gelegentlich sehr leise und einfühlsam — etwa wenn ein Mensch nach langem Leben in aller Gelassenheit und Dankbarkeit sagen kann: „Ich habe gelebt, ich habe genug gesehen, Liebe empfangen und gegeben, mein Leben war voll. Ich kann jetzt gehen.“ Alt und lebenssatt, wirklich gesättigt und zufrieden schläft er ein.
Bei anderen platzt der Tod mitten ins Leben und reißt alles aus den Angeln, etwa bei einem Unfall oder wenn das Herz einfach aussetzt – ohne Vorwarnung. Dann stehen wir fassungslos davor und sagen: „So jung. Sie hätte noch so viel erleben können. Das ist ungerecht.“
Manche Menschen sterben über einen langen Zeitraum hinweg und leiden dabei – körperlich und seelisch.
Und die Allerweltsweisheit sagt uns zu allen diesen Weisen des Sterbens: Wir müssen alle sterben. Was aber fangen wir damit an?
Ein weiser Mann hat einmal in einem Gebet gesagt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen – auf dass wir klug werden.“ Mose hieß er, und sein Gebet ist der 90. Psalm. Und wer sich dem Leben von Geburt bis Tod stellt und dem Nachdenken über das ganze Leben nicht ausweicht, wird Mose zustimmen: Ja, das ist wirklich klug, auch an das Ende des Lebens zu denken und nicht so zu tun, als ginge uns das nichts an. Schon die Notare und Versicherungsvertreter – man verzeihe die Zusammenstellung dieser unterschiedlichen Berufsgruppen – mahnen uns: trefft eine Vorsorge. Macht ein Testament, kümmert euch um Betreuungs- um Pflegevollmachten, sorgt für eure Angehörigen, überlasst das Leben nach eurem Tod nicht dem Zufall. Wobei sie dabei ja vor allem auch die Angehörigen im Blick haben.
Wäre es nicht genauso schlau und wichtig, dass wir an uns selbst denken und für unsere Zeit Jenseits der Zeit Vorsorge treffen? Was erwartet uns denn? Gibt es etwas, das Hoffnung schenkt? Das den Abschied erleichtert? Das uns Frieden mit uns, mit unserem Leben ermöglicht?
Ich frage manchmal Angehörige, ob denn ihr Verstorbener Angst vorm Sterben hatte. Die Frage wird in mir gerade dann wach, wenn sie erzählen, dass ein Mensch nicht gehen konnte, nicht gehen wollte. Manchmal ist es eine Sache, die ein Mensch noch klären will – ein Gespräch, ein versöhnendes Wort. Manchmal ist es der Gedanke: ich bin noch nicht zu Ende mit dem, was ich vorhatte, was ich angefangen habe. Und manchmal ist es die Ungewissheit: Was kommt da auf mich zu? Es hat mir niemand erzählt, wie das ist, einen Weg zu gehen, den im Letzten kein Mensch mitgehen kann.
Könnten Sie in Ruhe und vorbereitet sterben, weil Sie wissen, wo es langgeht, wo es hingeht?
Ganz eigenartig: Als ich mit ein paar Menschen über dieses Thema gesprochen habe, da fiel denen bei den Worten „Jenseits der Zeit“ gar nicht der Tod ein. Jenseits der Zeit – das gibt es doch jetzt schon manchmal, wenn wir die Zeit für einen Moment aus dem Blick verlieren, wenn sie quasi stehenbleibt. Bei Kindern kann man es gut beobachten, wenn sie völlig in ein Spiel und damit in eine andere Welt eingetaucht, versunken sind. Da kriegen sie nichts mehr mit. Hunger und Durst sind vergessen, Mama und Papa werden unwichtig, das Telefon kann klingeln und die Haustürglocke schellen – alles kommt nicht an, weil es diesseits ist. Aber das Spiel findet jenseits des Alltags statt.
Erwachsenen geht das auch manchmal so — versunken in die Welt eines guten Romans, in die unvergleichlichen Sphären traumhaft-guter Musik, oder vielleicht eingehüllt von Sonne und Wellenrauschen an einem nicht zu übertreffenden Urlaubstag.
Jenseits der Zeit.
Ob das Leben jenseits des Todes so etwas wie Urlaub ist oder ein Roman? Einerseits beschreibt auch die Bibel manchmal diese andere, unsichtbare, jenseitige Welt mit solchen romanhaften Bilder: Jerusalem, die heilige Stadt, wird ganz neu aufgebaut aus Gold und Edelsteinen. Reichtum – hier unerschwinglich für die meisten – wird dort zum Straßenbelag, weil es für die Menschen etwas viel Besseres, Wertvolleres gibt. Leben wie im Traum, das Paradies. Andererseits ist es natürlich kein Urlaub, denn der geht ja vorüber und man muss wieder zurück.
Die meisten Bilder der Bibel sprechen von einer neuen Heimat, einem neuen Zuhause. Schon vor der Zeit Jesu gab es erste Ideen dazu. So beschreibt der Prophet Hesekiel, wie im Land Israel eine ganz neue Stadt aufgebaut wird. Er gibt sogar die Maße dafür an, erzählt, wo der Tempel stehen wird und vieles mehr (Hesekiel 40 ff.).
Paulus, erster Weltmissionar des Christentums, betrachtet das Ganze einmal aus der Sicht eines römischen Bürgers. Das war damals etwas besonderes, denn die Bürger Roms hatten viel mehr Rechte als die Menschen in den besetzten Gebieten. Paulus, der Jude, besaß das römische Bürgerrecht. Und dann schreibt er: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel.“ (Philipper 3,20) So dass wir auf der Erde nur zu Gast, auf der Durchreise sind.
Jesus erzählt seinen Jüngern kurz vor seiner Verhaftung und Kreuzigung, dass er im Haus seines Vaters, also im Haus Gottes, viele Wohnungen bereitet hat. Und er wird wiederkommen, um seine Nachfolger in diese Wohnungen zu bringen.
In diesen Bildern klingt an, was den Himmel — oder die Welt jenseits der Zeit ausmacht: Es ist unser eigentliches Zuhause.
Im Alten Testament ist die Hoffnung auf eine andere Welt, auf ein Leben nach dem Tod noch nicht so ausgestaltet. Sie bricht erst auf. Dort kann man oft den Satz lesen, dass einer „zu seinen Vätern versammelt wurde“. Das ist zunächst ganz irdisch gemeint: ein Mensch stirbt und wird bei seinen Vätern, also vielleicht auch wirklich räumlich gemeint im Familiengrab beigesetzt. Aber als Christ lese ich die Worte schon als ersten Gedanken an ein anderes Leben.
Jesus ist so frei, diese Interpretation einmal selbst zu geben. In einer Diskussion darüber, ob es die Auferstehung gibt, konfrontiert er die Fragesteller mit einem ihrer Glaubenszeugnisse, einem Abschnitt aus dem zweiten Mosebuch. Da sagt Gott von sich: „Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ (2. Mose 3,6) Die drei Stammväter Israels waren da aber schon einige hundert Jahre Tod, als Gott diese Worte zu seinem Volk sagt. Und Jesus kommentiert dieses Glaubenszeugnis: „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.“ So müssen doch wohl sogar Abraham, Isaak und Jakob leben, oder? (Matthäus 22, 32f.) Und so wird schon dieses Bild „versammelt zu seinen Vätern“ ein Bild für das Zuhause – da wo die Familie ist, die Vorfahren sind, da wo die Menschen sind, von denen ich herkomme.
Viel intensiver kommt es dann zum Ausdruck in den Bildern von Gott als dem guten Hirten, der seine Schafe nach Hause bringt. Manchmal kann man heute auch noch diese schöne Umschreibung für das Sterben hören: ein Mensch ist heimgegangen. Für mich trifft es keine andere Umschreibung so gut wie diese: Jenseits der Zeit, das ist Zuhause, das ist Daheim. Und hier kommt wieder das Bild vom spielenden Kind mit hinein. Zuhause, in dieser völlig geschützten, sorgenfreien, geborgenen Atmosphäre, da vergesse ich die Zeit. Da spielt alle Hektik keine Rolle mehr. Da brauche ich nicht zu kämpfen, mich nicht um Anerkennung bemühen. Da kann ich alles hinter mir lassen, frei und in Frieden leben. Klar, das ist ein Idealbild von Zuhause. Diesseits der Zeit hat auch das manchmal seine Tücken. Und doch: ist das nicht der Wunschtraum, solche Geborgenheit zu erfahren? Und welch ein Genuss, wenn das gelingt, und sei es nur hin und wieder.
Ich erlebe, dass Menschen wahrlich in Frieden sterben können, wenn Sie solch ein Ziel haben, wenn sie wissen, dass sie nach Hause kommen. Und ich erlebe, wie diese Gewissheit auch ihren Lebensstil prägt. Wer seine Heimat in Gottes Welt hat, der kann mit vielem gelassener umgehen, was ihm hier begegnet. Wer von diesem Zuhause bei Gott weiß und daran glaubt, der kann auch gelassen über das Sterben reden. Und auch Angehörigen, die dieses Zuhause erwarten, geben ihren Menschen getrösteter her. Manchmal höre ich dann, wie jemand die überzeugte Gewissheit ausspricht: „Wir werden uns wiedersehen.“
Für mich ergibt sich aus diesem Glauben aber auch eine Verantwortung für unsere Zeit. Wenn da noch etwas wartet, ist es an mir, Menschen darauf hinzuweisen, sie dahin einzuladen. Es bringt mein Beruf mit sich, dass ich wohl leichter vom Himmel reden kann als andere. Wenn der Pfarrer bei einer Trauerfeier auftaucht, dann erwartet man von ihm wohl meistens, dass er vom Himmel und von der Auferstehung redet. Was ich dabei oft erlebe: Häufig sind die Angehörigen gar nicht mehr christlich geprägt. Sie erfüllen mit der christlichen Bestattung den Wunsch der Oma. Und ein würdevoller Rahmen ist es ja allemal. Wenn ich dann bei einem Vorbereitungsgespräch frage, ob ich noch beten darf, dann hab ich bisher noch nie ein Nein gehört. Ich denke, es liegt daran, dass in jedem Menschen diese Ahnung von einer Heimat verborgen liegt, manchmal sehr verschüttet, manchmal nur als ganz leise Sehnsucht, es möge bitte etwas geben, das Jenseits der Zeit gilt und trägt.
Und deswegen mache ich auch jedem Mut, der diese Hoffnung auf Gottes neue Welt, auf das ewige Leben hat, sie ins Gespräch einzubringen, gerade in Trauerfällen. Was sonst sollten wir denn Menschen anbieten? Ein paar warmherzige Floskeln? Wir haben doch mehr – selbst wenn es auch bei uns immer wieder von Zweifeln hinterfragt wird.
Noch etwas ergibt sich für mich aus dieser Hoffnung. Wenn ich darauf hoffe, nach Hause zu kommen, dann möchte ich, dass sich das auch schon in dieser Welt wiederspiegelt, eine Ahnung davon sichtbar wird. Konkret heißt das: Es sollte möglich sein, dass Menschen zu Hause sterben, dort, wo es medizinisch machbar und zu verantworten ist und wo es ein solches Zuhause gibt. Dazu brauchen die Angehörigen, die diesen Wunsch teilen, Unterstützung. Die Betreuung durch Hospizvereine ist die eine, wichtige Seite.
Aber wir als Gemeinde, als Mitmenschen, sind genauso in der Pflicht, diese Angehörigen nicht alleine zu lassen, sie nicht zu meiden, ihnen nicht auszuweichen, weil wir denken, wir könnten ihrer Not und ihrem Schmerz nicht angemessen begegnen. Wir brauchen keine besonderen Worte und Fähigkeiten dazu. Dasein und vielleicht nur schweigend eine Hand zu drücken oder jemand in den Arm zu nehmen, reicht oft.
Wo es solch ein Zuhause nicht gibt, sollte es möglich sein, dass Menschen in einer guten, liebevollen Umgebung sterben können. Auch die Krankenhäuser am Rande der Stadt oder die Pflegeheime gehören in unser Blickfeld. Und vor allem die Menschen, die dort arbeiten und sich darum bemühen, für die letzte Zeit eines Menschen ein Zuhause zu schaffen, gehören in unsere Herzen aufgenommen.
Jenseits der Zeit – da spielt sich noch so allerhand ab. Und es ist gar nicht so weit weg von uns, weil uns Gottes unsichtbare Welt umgibt. Und je mehr wir uns Diesseits der Zeit damit befassen, desto vertrauter wird es uns, desto mehr wird es schon zu unserem Zuhause.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ – das bedeutet für mich: Lass uns schon jetzt so viel wie möglich über diese unsichtbare Welt erfahren. Denn dann könnte es uns den Weg dorthin erleichtern, uns die Angst nehmen und uns Hoffnung und Lebensfreude geben – sogar in einer Welt, in der für unsere Augen immer noch der Tod etwas zu sagen hat.
Er hat aber nicht das letzte Wort. Das hat Gott. Und der sagt: Ihr sollt leben (Johannes 14,19).
Amen.