Predigt zu 2. Mose 13,20–22
„Ein Tag, der sagt dem andern, mein Leben sei ein Wandern“, schreibt der Liederdichter Gerhard Tersteegen in seinem Lied „Nun sich der Tag geendet“ (EG 481). Unterwegs – nicht nur von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Unterwegs, nicht nur zu verschiedenen Stationen des Lebens. Er weiß auch das Ziel, auf dass er zugeht, und ruft es uns ins Gedächtnis zurück: „O Ewigkeit, so schöne, mein Herz an dich gewöhne, mein Heim ist nicht in dieser Zeit.“
Silvester und die Tage davor sind bestimmt von Rückblicken und Ausblicken. Kaum einer, der sich für bedeutend und wichtig in der Medienlandschaft hält, versäumt es, einen Jahresrückblick zu halten. Der eine verpackt seinen Rückblick mit viel Humor und lässt uns schmunzeln. Der andere lockt nicht so viel Gelächter hervor – vielleicht weil die Themen auch sehr ernst sind. Den einen kullern noch einmal die Tränen über die Wange, wenn sie an die Traumhochzeit von Kate und Willy erinnert werden. Die anderen gähnen vor Langeweile, wenn sie an die üblichen Skandale in Politik und Geschäftswelt denken – nichts wirklich Neues.
Unterwegs durch die Zeit, ständigen Veränderungen unterworfen – wo ist der Halt? Lässt sich im Rückblick etwas finden, auf das wir auch im neuen Jahr bauen können, das uns Hoffnung gibt? Eine Hilfe könnte sein, was die Israeliten im Rückblick auf eine der bewegtesten Zeiten ihres Lebens aufgeschrieben haben und an das sie sich immer wieder erinnerten. Die bewegteste und bewegendste Zeit im wahrsten Sinn der Worte war die lange Wanderung zwischen der Sklaverei in Ägypten und der Ankunft im verheißenen, gelobten Land. Diese Geschichte, diese vielen Geschichten, die zu der Wanderung gehören, hat sich das Volk immer wieder ins Gedächtnis gerufen zur Ermutigung, zur Ermahnung, als Leitlinie, als Glaubens- und Hoffnungszeichen. Tragfähiger als jeder heutige Jahresrückblick war das, was Israel mit seinem Gott erlebt hat. Ein ganz kleiner Ausschnitt aus dieser Geschichte kann uns bei unseren eigenen Rück- und Ausblicken leiten.
Die Israeliten waren vom Pharao freigegeben worden. Richtung Schilfmeer waren sie unterwegs. Das Abenteuer, der Marsch der Hoffnung hatte gerade erst begonnen. Da beschreibt das zweite Buch Mose die Art und Weise, wie Gott bei seinem Volk ist und es führt (2. Mose 13,20–22):
20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.
21 Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.
22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.
Ist das nicht eine ermutigende Tatsache, die da geschildert wird? Das Volk Israel, eben aus Ägypten geflohen, ist unter sicherer Leitung auf dem Weg ins gelobte Land. Eben noch kannten sie den Gott kaum, der sie retten wollte. Und ziemlich kritisch waren sie ja auch Mose gegenüber. Denn mit seiner Forderung an den Pharao – „Lass mein Volk ziehen!“ – hatte er doch vor allem mehr Arbeit und mehr Schläge heraufbeschworen. Erst mit der allerletzten, der zehnten Plage, ließ der Pharao die Israeliten endlich ziehen. Aber dann war es eben doch wahr geworden. Was für ein Gott. Und nun ist es immer bei ihnen, sichtbar bei Tag und Nacht.
Ob uns beim Rückblick auf unser persönliches Jahr auch solche Momente einfallen? Etwas, das sich gelöst hat, wo eine Hoffnung wahr geworden ist?
Wenn ich auf die Ereignisse in unseren Gemeinden schaue, dann waren sicherlich die vielen Taufen in diesem Jahr solche Momente. Es bewegt sich etwas. Vielleicht ist es der Aufbruch in eine neue Offenheit dem Glauben gegenüber. Bei den zwei Taufkursen im Frühjahr und Herbst gab es gute Gespräche.
Zwei Gemeinden, Rehmsdorf und Tröglitz, haben beschlossen, nun miteinander als ein Kirchengemeindeverbund unterwegs zu sein. Dann kommt es eine alleine nicht zu hart an. Lasten und genauso Möglichkeiten und gaben können geteilt werden. Dazu gehört gegenseitiges Vertrauen und Mut.
Die Ausstellung im Naumburger Dom hat nicht nur die Kunstwelt auf die Beine gebracht. Viele Menschen stellen auch die Frage, was damals Menschen dazu brachte, solche Werke zu schaffen. Mit der Kunst ist auch Gott neu ins Gespräch gekommen.
Was mag es für einen jeden persönlich gewesen sein, das wie ein solcher Moment des glücklichen Aufbruchs gewesen ist, ein Augenblick, in dem Gott zu spüren war, einfach so?
Der erste Blick ist voller Begeisterung. Gott ist da und geht mit. Und sogar durch sichtbare Zeichen ist er zu erkennen. Der zweite Blick macht mich aber sehr nachdenklich. Auch die Israeliten werden im Lauf ihrer Wanderung von dieser Nachdenklichkeit erfasst, die sich bis zum Zweifel auswächst. Denn: Gott ist nicht so sichtbar dabei, wie die Götter der Völker rund um sie her. Die prachtvollen Gottheiten der Ägypter, sie wurden mit Standbildern geehrt, sie wurden auf Wänden dargestellt. Sie waren sichtbar, hatten Gesicht, hatten Hände und Füße. Jeder konnte sich etwas vorstellen, hatte etwas vor Augen.
Gott dagegen hielt sich trotz seiner unmittelbaren Nähe verborgen. Als Wolkensäule war er da. Ist das nicht sehr nebulös? Wer verbirgt sich hinter den Wolken? Später, am Berg Sinai, als Mose die Gesetzestafeln von Gott empfängt, da ist der ganze Berg in dunkle Wolken gehüllt.
Gott ist da – aber er lässt sich nicht so sehen wie andere Götter. Er verbirgt sich. „Gott will im Dunklen wohnen.“ So sagt es später König Salomo, als er den Tempel in Jerusalem einweiht (1. Könige 8,12).
„Gott will im Dunkel wohnen.“ So sagt es der Liederdichter Jochen Klepper in seinem Adventslied (EG 16), das er 1938 gedichtet hat.
Und die Erfahrung haben wir doch auch schon gemacht, vielleicht viel mehr, als uns lieb ist. Da singen wir im einen Moment noch davon, wie groß und gütig und barmherzig Gott ist, und im nächsten Moment fühlen wir uns, als ob wir mitten in einem tosenden Gewittersturm sind. Eines der am meisten gewünschten Lieder zu Geburtstagen in unseren Frauen- und Seniorenkreisen bekennt: „Bis hierher hat mich Gott gebracht durch seine große Güte. Bis hierher hat er Tag und Nacht bewahrt Herz und Gemüte.“ (EG 329) Aber manchmal würden wir doch eher singen „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.“ (EG 299)
Manche Hoffnungen sind zerbrochen, Träume wurden jäh beendet, ja zu Grabe getragen. Manchmal müht sich der Mund noch weiter zu singen – weil ich doch an Gott glaube, der versprochen hat da zu sein. Aber das Herz verweigert sich, mit einzustimmen. Zu Dunkel ist das Dunkel geworden.
Wer die Geschichten Israels liest, von der Wanderung durch die Wüste, von den Begebenheiten zur Königszeit, vom Exil und der zweiten Heimkehr – der findet diese dunklen Momente. Gott ist da – aber die Wolke, die ihn umhüllt, ist undurchdringlich, manchmal sogar bedrohlich.
Ein Elia war eben noch Sieger im Eifer um den wahren Gott. Und im nächsten Moment liegt er einsam und völlig niedergeschlagen unter einem Wacholderbusch, will nur noch sterben (1. Könige 18;19). Eine arme Frau gewährt einem Mann Gottes Unterkunft – und ihr Sohn stirbt. Ein König verliert einen treuen Freund, der sich immer für ihn eingesetzt hat. Ein Prophet Gottes wird eingesperrt – weil er nichts als die Wahrheit gesagt hat. Ein Hiob wird sogar von Gott selbst als wahrhaft frommer, guter Mensch beschrieben. Und er leidet Höllenqualen – körperlich und vielleicht sogar noch mehr seelisch, weil er diesen Gott, der ihn so sehr schlägt, schon lange nicht mehr versteht. Gott ist da – aber er bleibt verborgen, unverständlich. Heute genauso wie damals.
Diese Erfahrungen sind ebenso da, wenn wir auf unser Jahr zurück schauen. Persönliche Trauer und Not, aber auch die Katastrophen und das Leid, das sich in unserer Welt ereignet hat: Tsunami und die atomare Bedrohung und Zerstörung in Japan, die Bürgerkriege und Völkermorde in manchen Ländern Afrikas, die schon kaum mehr wahrgenommenen Drogentoten – bei denen wir die Toten durch Alkohol und Nikotin schon gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, Kinder, die auch in unserem Land leiden.
Selbst die Feuersäule, von der Israels Rückblick berichtet, hilft in solchen Momenten nicht unbedingt heraus. Eher noch macht auch sie deutlich, dass wir uns an Gott manchmal die Finger verbrennen, die Kleider ansengen und vor seiner Heiligkeit, die wir nicht verstehen können, eher erschrecken.
Warum wohl müssen Engel Gottes immer erst einmal sagen: „Fürchtet euch nicht!“? Weil die Herrlichkeit und Heiligkeit Gottes nicht zum Kuscheln einlädt. Die gute Nachricht an die Hirten: „Euch ist heute der Heiland geboren“, hätten die Hirten aus lauter Angst fast gar nicht gehört. Der da mitgeht und sein Volk leitet, ist nicht zu durchschauen. Er ist Gott – unvorstellbar, unbegreiflich, unnahbar.
Umso erstaunlicher, umso tröstlicher ist, dass er selbst ich in einer Gestalt zu uns begibt, die uns die Angst vor Gott nimmt und die uns seiner Liebe und Güte versichert: Gott wird Mensch, er wird ein Baby. Er verzichtet auf die dunkel drohende, undurchsichtige Wolke und auf die sengende Feuersäule. Er nähert sich uns im Menschen Jesus Christus.
Mich tröstet nach den beiden starken Bildern von Wolke und Feuer der Schluss der drei kurzen Verse im Rückblick Israels: „Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.“
Niemals! Niemals wich Gott von seinem Volk. Niemals weicht Gott heute von unserer Seite. Ich musste an eine Verheißung des Propheten Jesaja denken, in der Gott genau das verspricht, nicht zu weichen: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (Jesaja 54,10)
Der Rückblick auf das vergangene Jahr und der Blick noch viel weiter zurück auf die Erfahrungen der Menschen vor uns laden uns ein, noch einmal anzuschauen, was uns begegnet ist.
Vielleicht sehen wir dabei ein Dunkel, das auch heute noch nicht überwunden ist, einen Gott, der nicht zu verstehen ist. Dann wünsche ich uns, dass doch das eine dabei hervortritt: Gott weicht nicht von unsrer Seite, niemals. Wir mögen vor ihm verstummen, sogar erschrecken – aber er ist bei uns, weil er uns in sein gutes Land bringen will und uns führen wird.
Vielleicht sehen wir beim Rückblick Frohes und Helles. Dann wünsche ich uns, dass wir das in Dankbarkeit noch einmal hervorholen können und die Freude darüber uns Mut und Lust auf das neue Jahr macht.
Es sind nicht mehr Wolken- und Feuersäule, die uns leiten. In Psalm 32 steht ein Versprechen Gottes an König David, das wir auch uns zu eigen machen dürfen: „Ich will dich mit meinen Augen leiten.“ Blickkontakt will Gott zu uns halten. Deswegen wurde er Mensch, ist auf Augenhöhe zu uns gekommen. Und es ist seine Einladung an uns, dass wir diesen Blickkontakt zu ihm halten. Wir müssen nicht versuchen, mit unsern Augen das Dunkel zu durchdringen oder hinter die blendende Helligkeit zu schauen.
Es sind die Augen eines liebenden Vaters, in die wir schauen dürfen. Es sind die Augen eines Jesus, der die Not seiner Menschen sieht, der mit ihnen lacht, wo sie Grund zur Freude haben, der mit ihnen weint, wenn sie traurig sind.
Niemals wich Gott von der Seite der Israeliten. Und niemals wird er von unserer Seite weichen. Israel hat das im Rückblick auf die Wanderung durch die Wüste bekannt und in den Bildern von der Wolken- und Feuersäule dargestellt.
Jesus Christus hat es versprochen: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Das ist der Halt, den wir bei unseren Rück- und Ausblicken brauchen, und den uns Gott selbst gibt.
Amen.