Predigt zu dem Lied “Gelobet seist du, Jesu Christ (Ev. Gesangbuch Nr. 23)
1. Weihnachtstag
1. Gelobet seist du, Jesu Christ, dass du Mensch geboren bist
von einer Jungfrau, das ist wahr; des freuet sich der Engel Schar.
Kyrieleis.
2. Des ewgen Vaters einig Kind jetzt man in der Krippen find’t;
in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut.
Kyrieleis.
3. Den aller Welt Kreis nie beschloss, der liegt in Marien Schoß;
er ist ein Kindlein worden klein,der alle Ding erhält allein.
Kyrieleis.
4. Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein’ neuen Schein;
es leucht’ wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht.
Kyrieleis.
5. Der Sohn des Vaters, Gott von Art, ein Gast in der Welt hier ward
und führt uns aus dem Jammertal, macht uns zu Erben in seim Saal.
Kyrieleis.
6. Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm
und in dem Himmel mache reich und seinen lieben Engeln gleich.
Kyrieleis
7. Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an.
Des freu sich alle Christenheit und dank ihm des in Ewigkeit.
Kyrieleis.
Text: Str. 1 Medingen um 1380; Str. 2–7 Martin Luther 1524
Melodie: Medingen um 1460, Wittenberg 1524
Haben Sie die Mitte gefunden? An Weihnachten ist ja allerhand los. Der ganze lange Anmarsch hat uns schon beschäftigt, mache vielleicht so sehr, dass sie bis zum Weihnachtsfest schon übersättigt sind und gar nicht mehr wissen, was denn jetzt noch kommen soll. Für etliche waren vielleicht die Veranstaltungen im Advent schon ihr persönlicher Höhepunkt. So bemerke ich, dass manche Kirche bei einem Konzert noch voller sein kann, als an Heiligabend. Für Sängerinnen und Sänger ist das dann vielleicht wirklich der Kern des Geschehens. Und ich muss zugeben, dass für mich in diesem Jahr die Veranstaltung „Gospel und Pantomime“ und besonders die Begegnung mit einem guten alten Freund schon ein Höhepunkt dieser Zeit war.
Dass wir gar nicht immer die Mitte treffen, bis zum Kern vordringen – oder vielleicht eher: dran knapp vorbeischrammen, zeigt sich auch in unserer Gewohnheit, den Heiligabend zum eigentlichen Weihnachtsfest zu machen.Manche wissen, dass mich mit dem Pantomimen Carlos Martínez, der Mittwoch in Zeitz war, eine längere Freundschaft verbindet. Und so haben wir uns auch ausgiebig unterhalten, während ich ihn vom Flughafen abholte beziehungsweise wieder hinbrachte und wir auch zwischendurch einige Zeit miteinander verbringen konnten. Der sagte mir, dass in Spanien Weihnachten wirklich erst am 25. Dezember ist, während hier in Deutschland viele schon beim 24. von Weihnachten reden. Das Fest selbst wird in Spanien erst am 25. gefeiert. Die Heilige Nacht ist dort die „Noche Buena“, die „Gute Nacht“. Und kirchlich beginnt sie mit der Mitternachtsmesse, also dem Beginn des neuen, des eigentlichen Weihnachtstages. Auch gibt es dort nicht den Advent, wie wir ihn kennen. Die vier Sonntage besonders zu begehen und einen Adventskranz aufzustellen, hat dort keine Tradition. Liturgiegeschichtlich – also in der Lehre darüber, wie sich unsere Gottesdienste und das kirchliche Leben entwickelt haben, ist mir diese Sicht vertraut: Weihnachten ist der 25. Dezember. Aber als Kind unserer heutigen Traditionen und Gewohnheiten weiß ich auch, dass es anders verstanden und gefeiert wird. Sie selbst sehen es. Beim Festgottesdienste heute sind längst nicht so viele Menschen da wie gestern, wo die Kirchen doch ziemlich voll waren.
Wo ist die Mitte? Und haben wir sie gefunden?
Ja, selbst beim Geschehen an der Krippe ist das gar nicht so selbstverständlich, dass wir bei der Mitte ankommen. Sicher – in vielen Bühnenbildern der Krippenspiele steht die Krippe im Mittelpunkt. Aber achten Sie einmal auf die Gespräche noch an solch einem Abend: „Der eine Hirte war aber gar nicht zu verstehen. Maria hatte ein schönes Kleid an. Die wird aber auch von Jahr zu Jahr hübscher. Wieso ging eigentlich dem Seppl ständig die Laterne aus, der war aber auch so unruhig.“ Das Geschehen am Rand ist in der Regel Gesprächsthema. Und nicht nur die Randerscheinungen des Krippenspiels werden besprochen. Auch das Orgelspiel oder wer da war beziehungsweise dieses Jahr fehlte, der abgehetzte Pfarrer und die Spinnweben am Treppenaufgang stehen im Mittelpunkt mancher Unterhaltung. Und natürlich alles rund um Zuhause. Was macht das Essen? Was wird der Weihnachtsmann wohl mitbringen?
Haben Sie die Mitte gefunden?
Vielleicht ist es Ihnen eben beim Singen aufgefallen: In dem Lied von Martin Luther gibt es tatsächlich die Mitte. Und – das ist kein Zufall: das Wort von der Mitte steht auch in der Mitte. Sieben Strophen hat das Lied. Die mittlere ist die vierte Strophe. Und dort heißt es: „es leucht wohl mitten in der Nacht“. Von hier aus ist das Lied aufgebaut, um dieses Zentrum herum ist alles angeordnet.
Am Anfang des Liedes „freuet sich der Engel Schar“ – eine Anspielung auf den Lobgesang der Engel in der Heiligen Nacht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ Und am Ende des Liedes „freu sich alle Christenheit und dank ihm des in Ewigkeit.“ Freude umrahmt das Geschehen und seine Beschreibung.
Die Armut unseres Lebens bestimmt den Gedanken in der zweiten und sechsten Strophe. Unser Leben, unser Fleisch und Blut sind arm – und das heißt im ursprünglichen Sinn des Wortes „vereinsamt, bemitleidenswert, unglücklich.“ In diese Armut hinein begibt sich Gottes Sohn, wird selbst so arm, einer von uns. Jesaja schreibt einmal von dem Gottesknecht, der leiden muss. Voller Mitleid wird er von allen anderen angesehen – seine Wunden, die Verachtung, die er trägt. „Wir hielten ihn für den, der von Gott gestraft wird“, so der Kommentar Jesajas (Jesaja 53,4).
Der Rahmen ist die Freude der Engel und der Menschen, eine Freude, die vom Weihnachtsgeschehen ausgelöst wird. Die Situation, in der Weihnachten geschieht, ist die Armut, die Not unseres Lebens, in die Gott selbst hinabsteigt, mit uns tauscht.
Das dritte Paar, das sich mit den Strophen drei und fünf um die Mitte herum gruppiert, verbindet die unendliche, unfassbare Größe Gottes mit der Tatsache, dass derselbe Gott ein Gast auf Erden wird. Umgeben von der Freude der Engel und der Freude, zu der wir Menschen eingeladen werden, mitten in einer Welt, die sich selbst nicht aus ihrer Not retten kann, findet sich der unfassbar große und barmherzige Gott ein.
Ganz komprimiert, ganz verdichtet fasst es Luther in der Mitte des Liedes zusammen – und selbst dort noch ordnet er seine Gedanken symmetrisch um das Zentrum herum an: Gottes ewiges Licht kommt in die Welt, damit wir zu Kindern des Lichtes werden. „Wohl mitten in der Nacht.“ Das greift die Tradition auf, dass Jesus in der Nacht geboren wurde. Gesagt wird es im Lukasevangelium nicht. Doch erhalten die Hirten ja in der Nacht den Besuch der Engel mit ihrer Botschaft: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Und sie eilen nach Bethlehem, um das Kind zu sehen.
Aber die Rede von der Geburt zur Nacht weist über die Tageszeit hinaus. Gott kommt in das Dunkel der Welt hinein. Ohne Gott durchs Leben zu gehen, das ist, als ob man im Finsteren durch sein Leben stolpert. Nicht umsonst beten Menschen der Bibel um ein Licht auf ihren Wegen: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg“, bekennt es der Psalm 119. Und Jesus sagt von sich: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Johannes 8) Johannes beginnt sein Evangelium nicht mit der Geschichte von Jesu Geburt. Er schreibt einen sogenannten Prolog und spricht vom Licht, das in der Finsternis scheint. In seinem 1. Brief sagt Johannes über Gott: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“ (1. Johannes 1,5) Und der Epheserbrief mahnt uns: „Lebt als Kinder des Lichts.“ (Epheser 5,8) Und zwar im Gegensatz zum Leben vorher.
Der Kern, das Zentrum des Liedes liegt in dieser sehr verdichteten vierten Strophe. Mitten in der Nacht der Welt beginnt der neue Tag. Und es ist Gott selbst, der die Nacht der Welt beendet, indem er selbst hineinkommt in diese Welt. Kunstvoll gedichtet ordnet sich alles um diese Mitte herum an, ist alles auf die Mitte konzentriert. Das Geschehen in der Mitte der Nacht wird zum Dreh- und Angelpunkt der Welt und ihrer Geschichte, der Menschen und ihres Schicksals. Das ist die Erkenntnis des Reformators, dass sich alles um Jesus Christus herum anordnet, anordnen muss. „Solus Christus“ – allein Christus, so lautet sein Bekenntnis und sein Prinzip, an dem er seine Arbeit ausrichtet und nach dem er auch die Bibel auslegt. „Was Christum treibet“, das ist für Martin Luther die wahre, einzig richtige Theologie. Da kann selbst ein Pontius Pilatus zu einem Zeugen für Jesus werden, wenn er etwas Wahres über Jesus Christus sagt.
Nun lässt sich Vieles über Jesus sagen. Und es gelingt sogar, bis zu diesem Mittelpunkt des christlichen Glaubens vorzudringen. Aber die Bibel wäre nicht die Bibel, wenn die Geschichte hier enden würde. Und Martin Luther wäre nicht der Reformator, wenn er sich mit der Beschreibung des Weges Gottes in die Welt hinein begnügen würde.
Es ist die erste wichtige Eigenschaft seiner Dichtung, dass alles auf die Mitte, auf Jesus Christus bezogen ist. In der Mitte der Nacht erscheint das Licht der Welt. Gott wird Mensch, er ist da, mitten unter uns. Aber von dieser Mitte geht es dann auch wieder los. Wer genau hinschaut entdeckt, dass die ersten Strophen Beschreibungen von Gottes Weg in die Welt sind: Christus wird geboren, die Engel freuen sich, Gott „verkleidet“ sich in unser armes Fleisch und Blut, in Marien Schoß liegt der unbegreifliche, unendliche Gott, sein Licht geht in die Welt herein.
Aber da bleibt es nicht. Da bleibt die Geschichte nicht stehen. Gott verfolgt ein Ziel damit, dass er Mensch wird, ein Gast auf Erden wird, sich klein macht. Das Licht ist da – und schon mit dem Ausgang der vierten Strophe wird klar: Das hat ja wirklich etwas mit uns zu tun. Kinder des Lichtes sollen wir werden. Was übersetzt bedeutet, dass wir Kinder Gottes werden sollen, zurück zu unserer ursprünglichen Berufung. Sie erinnern sich an den Anfang der Schöpfung: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ (1. Mose 1,27) Und Johannes schreibt in seinem Evangelium, dass alle, die an Jesus glauben, Kinder Gottes sind: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.“ (Johannes 1,12) Gottes Sohn macht sich uns auch in dem Punkt gleich, dass wir nur zu Gast auf dieser Erde sind. Nicht, weil er für eine Weile unsere Gastfreundschaft genießen möchte, um sich dann wieder zurückzuziehen. Nein, Jesus erinnert uns daran, dass wir ein anderes Zuhause haben. Er kommt zu Besuch, weil er uns an seiner Seite mitnehmen möchte in die Heimat, von der wir getrennt sind. „Unser Bürgerrecht ist im Himmel“, schreibt Paulus (Philipper 3,20). Jesus „führt uns aus dem Jammertal, macht uns zu Erben in seim Saal“, dichtet Luther in seinem Lied.
Das Ganze noch einmal anders gekleidet: Jesus wird arm. Aber nicht deswegen, weil er ein Armutsideal verkünden will und weil Reichtum schlecht wäre. Jesus wird arm, weil wir ohne ihn im Grunde arm dran sind. Uns fehlt der Zugang zum ewigen Leben, uns fehlt die Gemeinschaft mit Gott. Das meint Armut an dieser Stelle. Gott wird Mensch in einem Stall und nicht in einem Königspalast. Die Weisen aus dem Morgenland, die huldigen zwar Jesus mit Gold, Weihrauch und Myrrhe, aber davon ist später nichts mehr zu sehen. Jesus wandert als wohnungsloser Prediger durch Israel, ist auf die Gastfreundschaft der Menschen angewiesen. Gott macht sich arm, damit wir reich werden. Er erbarmt sich über uns, damit wir ein Leben bekommen, das an Fülle nicht zu überbieten ist.
Und ein zweites Mal verdichtet Martin Luther die Weihnachtsbotschaft, nun in der letzten Strophe. Nicht nur, dass er das Zentrum des Geschehens mit dem Bild vom Licht zusammenfasst – jetzt sagt er klipp und klar, was das für uns bedeutet: „Das hat er alles uns getan.“ Pro nobis – für uns. Wer die Weihnachtsgeschichte mit der Botschaft des Engels an die Hirten noch im Ohr hat, weiß woher dieser Gedanke kommt. „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Gott wird Mensch nicht nur für die Menschen damals in Israel. Gott wird Mensch, nicht damit wir 2000 Jahre später einen Grund haben, Lichter aufzuhängen und uns den Wald in die Wohnstube zu holen in Gestalt eines Weihnachtsbaumes. Gott wird Mensch, damit wir heute genauso wie Menschen zu allen Zeiten zu Gott kommen. Gott wird Mensch – pro nobis, für dich und für mich. Und so können, so dürfen wir die Liedstrophen, die vom gewonnenen Zentrum ausgehen, sehr konkret für uns selbst hören. Ja, ich denke, wir sollen sie wirklich für uns selbst hören, sie sprechen uns direkt an.
Gott macht uns zu Kindern des Lichts, zu Gotteskindern. Wir sind in dieser Welt nicht verloren und auf uns selbst gestellt. Gott nimmt die Vaterstelle ein, er möchte für uns sorgen. Kinder brauchen ihren Vater, brauchen ihre Mutter ganz unterschiedlich stark. Wenn sie kleiner sind, dann sind sie auf jede Hilfe angewiesen. Wenn sie größer werden, dann werden sie selbständiger. Und doch bleiben sie immer noch Kinder.
Wenn wir unsere Eltern im Hessenland besuchen, dann fahren wir nach Hause – genau so sagen wir das. Sicher, wir haben in Theißen unser Zuhause und fühlen uns wohl. Hier sind wir und gehören hierher. Aber genauso gilt, dass wir immer bei unseren Eltern zu Hause sind. Dort kommen wir her. Dort sind wir immer gern gesehen. Und wenn uns Sorgen drücken, haben wir dort immer noch ein offenes Ohr.
Für uns hält Gott das Leben bei ihm bereit, wir sind Erben des ewigen Lebens. Der Heiland ist uns geboren. Er heilt unsre Verletzungen, tröstet uns in unserer Traurigkeit, holt uns aus Verstrickungen, aus Schuld und Gewissensnot heraus.
Für manche Menschen bricht gerade am Weihnachtsfest vieles auf, was sie das Jahr über ganz gut im Griff hatten. Aber weil Weihnachten uns ja mit allen Sinnen anspricht, weil gerade da die Familie so betont wird, weil gerade an Weihnachten der Frieden – der äußere und der Frieden im Herzen so betont, ja beschworen werden, merken wir gleichzeitig viel intensiver, wo wir keinen Frieden finden können. Und gerade dann gilt umso mehr, was der Engel den Hirten sagt und was die Bibel in so vielen Bildern deutlich macht: Euch, dir ist der Heiland geboren.
Mitte und Ziel gehören an diesem Tag in den Blick genommen. Mitte und Ziel laden uns ein, Weihnachten zu unserer eigenen Geschichte zu machen. Mitte und Ziel: Gott wird Mensch mitten in dem, was uns wie die dunkelste Nacht erscheint, ja was oft auch Nacht ist.
Er wird Mensch, damit wir durch seine Liebe auch wieder zu Menschen werden, die wirkliches Leben haben und den Frieden in sich tragen, den die Engel verkünden und den wir am Schluss eines Gottesdienstes im Segen auch zugesprochen bekommen.
Der Heiland ist geboren – pro nobis, für uns.
Amen.