“Es ist vollbracht”, sagt Jesus am Kreuz.
Gedanken am Karfreitag zur Kreuzigungserzählung in Johannes 19,16–30.
„Er trug selber das Kreuz und ging zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha.“ – „Der König der Juden“ – Jesus spricht zu seiner Mutter. Jesus spricht zu dem Jünger, den er liebhatte. – „Als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.“ – „Es ist vollbracht.“ Wer schreibt das Drehbuch der Passion? Es erschrickt mich, mit welcher Präzision das abläuft.
Zuerst erschrecke ich vor den Menschen. Ich erschrecke, wenn ich mir die Mechanismen anschaue, mit der Menschen bis heute andere Menschen verachten und ausgrenzen, sie klein machen und klein halten, sie hassen, verletzen und töten.
Ich erinnere mich an die Kriegsberichterstattung auf CNN 2003 aus dem Irakkrieg. Da konnte, wer wollte, die Präzision des Krieges live verfolgen. Die Marschflugkörper starten mit erstaunlich-erschreckender Macht auf den Kampfschiffen, sie manövrieren tödlich-elegant über das Gelände. Man sieht ihre Zielerfassung, das Fadenkreuz auf einen Bunker oder anderes gerichtet. Und dann der Einschlag. Kriege sind einerseits chaotisch. Keiner weiß, was wann geschieht. Andererseits sind einzelne Handlungen und ganze Kriegszüge exakt geplant.
Vor kurzem habe ich das KZ Ravensbrück besucht. Die Verfolgungs- und Tötungspräzision der Nazis jagt mir immer noch einen Schrecken ein und lässt mich erstarren.
Menschen planen den Tod anderer. Schon damals. Jesus gerät nicht zufällig ans Kreuz. Er ist nicht einem Unfall, einem Versehen in der Justiz ausgeliefert. Es gibt Menschen, die ihn hassen. Und ganz gewiss waren das nicht DIE Juden! Als ob alle Menschen in Judäa oder Galiläa Jesus verfolgt hätten. Vielen hat er geholfen. Vielen war er vermutlich egal – ein Wanderprediger mehr oder weniger, wen stört das? Viele folgten ihm nach und wurden von ihm nicht enttäuscht, verehrten ihn, liebten ihn sogar.
Gleichwohl trat er auch anderen gewaltig auf die Füße. Er bedrohte ihre Macht. Er korrigierte ihre Lehrmeinung. Er wirkte in einer Vollmacht, die sie provozierte. Manche hassten und verfolgten ihn tatsächlich.
Pilatus spielt auch seine Rolle. Wenn einer provoziert, stört das den inneren Frieden. Wenn einer den Titel „König“ angetragen bekommt und ihn selbst auch in Anspruch nimmt, ist das mehr als eine Spinnerei. Jesus sorgt damit auch bei den Besatzern für Unruhe.
Menschen planen Jesu Tod. Und es ist erschreckend, mit welcher Präzision und Kaltblütigkeit sie dabei vorgehen. Für die Soldaten ist das Geißeln und Kreuzigen Handwerkszeug. So brutal banal klingt das.
Aber nicht nur dieser zielgerichtete menschliche Hass jagt mir einen Schrecken ein. Auch die Deutung des Glaubens, die vielen Verweise auf die Schrift, die erfüllt werden muss, lässt mir keine Ruhe. Sogar hier, bei Johannes. Jesus weiß, dass alles vollbracht ist. Er hat seine Mission erfüllt. Daran ist nichts mehr zu rütteln. Aber die Schrift muss noch an einer Stelle erfüllt werden, und so sagt Jesus: „Mich dürstet.“
Die Querverweise in unseren Bibeln zeigen auf Psalm 22 und 69: „Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen.“ (Psalm 22,16) „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.“ (Psalm 69,22)
Es genügt nicht, dass Jesus am Kreuz stirbt. Die Schrift muss erfüllt werden, auch im letzten Moment, als sie im Grunde schon erfüllt ist.
Jesus geht seinen Weg. Er hat dieses Ziel vor Augen und geht darauf zu. Seinen Jüngerinnen und Jüngern hat er es dreimal angekündigt. Und er bleibt dabei.
Wer führt Regie? Bei Johannes ist es verwirrend unübersehbar: Jesus bleibt der Herr all dessen, was passiert. Es geschieht nicht einfach so. Er geht diesen Weg. Und weil Jesus in allem und immer der Herr ist, spricht er das letzte Wort: „Es ist vollbracht.“ Er hat’s vollbracht!
Es geht sogar noch einen Schritt weiter. Luther übersetzt: „Und neigte das Haupt und verschied.“ Aber genau genommen steht dort: „Er neigte das Haupt und gab den Geist auf.“ Jesus übergibt sich dem Tod. Der Tod hat keine Macht über ihn. Er muss darauf warten, dass Jesus sich ihm ausliefert. Die Menschen, die ihn gehasst und verfolgt haben, der Tod, die Höllenmächte – alle möchten sich den Sieg über Jesus zuschreiben. Aber es ist nicht ihr Sieg.
Jesus vollbringt, was er sich vorgenommen hat: Uns zu erlösen von der Logik des Bösen. Er befreit uns von den unausweichlichen Folgen unserer Trennung von Gott. Er macht uns los von dem Lohn der Sünde. Paulus schreibt im Römerbrief (Römer 6,23a): „Der Sünde Sold ist der Tod.“ Das ist die Logik, nach der wir leben – und sterben.
Aber Jesus durchbricht diese Logik. Er beendet sie. Paulus schreibt an der gleichen Stelle weiter (Römer 6,23b): „Die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.“
Es ist von Anfang an Jesu Ziel, uns das Leben zu erwirken. Johannes schreibt in seinem 1. Brief (1. Johannes 3,8b): „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.“
Jesus wird geboren und hat genau dieses Ziel. Maria singt davon in ihrem Lobgesang, in dem Lied, das sie anstimmt, als sie mit Jesus schwanger ist und ihre Cousine Elisabeth besucht (Lukas 1,51–54):
Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf.
Sie singt von Gott, der so wunderbar handelt. Und sie weiß, dass ihr Sohn Jesus es ist, der Gottes Barmherzigkeit leben und erzeigen wird.
„Es ist vollbracht.“ Heute erinnern wir uns daran. Wir stehen mit all unserer Verwirrtheit vorm Kreuz. Wir schauen voller Erschrecken, wozu Menschen – wozu wir – fähig sind. Wir erblicken Gott in der größten Tiefe und zugleich als Sieger.
Jesus durchbricht die Logik des Todes. Er beendet die Macht des Todes über uns, indem er in dessen Reich einbricht und den Tod und das Böse und den Teufel entmachtet.
Denn gegen seine Liebe, die sich freiwillig ausliefert, kommt keine Macht der Welt und auch keine überirdische Macht an. Jesu Liebe ist nicht zu bezwingen. Sie aber bezwingt alles.
Noch warten wir darauf, dass es sich vollkommen zeigt, wenn Jesus als der Herr der Welt sichtbar kommen wird. Aber seine Liebe setzt schon Zeichen.
Ich habe das KZ Ravensbrück erwähnt. Dort war unter anderem Corrie ten Boom eine Gefangene, zusammen mit ihrer Schwester Betsie. Sie hatten in Holland, in Haarlem, Juden vor dem Zugriff der Nazis versteckt und waren 1944 verraten worden.
Im KZ litten sie mit ihren Mitgefangenen unter dem Terror der Lagerleitung und der Aufseherinnen. Corrie hielt heimlich Bibelstunden ab, um die Frauen um sie herum zu stärken. Und ihre Schwester Betsie – körperlich schwächer als sie – mahnte sie unentwegt zur Versöhnung, zur Liebe. Betsie gibt ihrer Schwester kurz vor ihrem Tod ein Vermächtnis mit auf den Weg. Sie sagt:
„Die wichtigste Arbeit, die uns erwartet, ist die, jedem, der es hören will, zu erzählen, dass Jesus die Antwort auf die Probleme in den Herzen der Menschen und der Völker ist. Wir werden ein Recht haben zu reden, denn wir können aus Erfahrung berichten, dass sein Licht stärker ist als die tiefste Dunkelheit.“
Und Corrie wird dieses Licht in die Welt tragen. Sie redet von der Versöhnung, stiftet Versöhnung zwischen Tätern und Opfern und erlebt selbst die Kraft, die in der Versöhnung steckt – bewirkt durch die Liebe Gottes. 1947 begegnet sie bei einem Vortrag einem der Bewacher aus Ravensbrück. Der bittet sie um Vergebung. Und sie? Kann ihm Vergeben. Danach sagt sie:
„Einen langen Moment lang hielten wir uns an den Händen, der ehemalige Wächter und der ehemalige Gefangene. Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv gespürt wie damals. Doch trotzdem erkannte ich, dass es nicht meine Liebe war. Ich hatte es versucht, aber es fehlte die Kraft. Es war die Kraft des Heiligen Geistes.“
Es ist vollbracht! Auch wenn es uns verwirrt, auch wenn wir erschrecken vor der Brutalität des Kreuzes, auch wenn wir Jesus bei diesem Weg nicht verstehen können: Genau dieser Weg, der Jesu vollkommene Liebe offenbart, befreit uns von der Logik des Bösen. Diese Liebe geht in die Tiefe. Sie geht in den Tod und besiegt ihn auf diese Weise. Diese Liebe macht uns frei für Gott. Und sie befreit uns für unsere Mitmenschen.
Es ist vollbracht