Psalmsonntag. Wer ist Jesus? Was bewegt ihn? Was trifft uns? Eine Predigt zu Gedanken eines Propheten, der 500 Jahre vor Jesus lebte – und dessen Beschreibungen auf Jesus ziemlich gut zutreffen.
Jesaja 50,4–9
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.
Predigt
Palmsonntag. Jesus zieht in Jerusalem ein (Johannes 12,12–19). Die Menschen jubeln Jesus zu. „Hosianna“, rufen sie. „Hilf doch, Herr“, heißt das. Und: „Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ (Psalm 118,25.26) Da lassen sich gut Adventslieder anstimmen, „Macht hoch die Tür“ (Ev. Gesangbuch Nr. 1) etwa oder „Wie soll ich dich empfangen“ (Ev. Gesangbuch Nr. 11). Dort heißt es in der zweiten Strophe: „Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn.“
Jesus wird empfangen. Aber nicht nur der Liederdichter Paul Gerhardt (EG 11) wird nachdenklich bei dieser Geschichte. Paul Gerhardt blickt auf unser Herz. Wie kommen die Worte, wie kommt diese Geschichte bei uns an? Und wie antworten wir darauf?
Was könnte Jesus gedacht haben? – Er wusste mehr als alle, die damals jubelten. Und auch wenn er seinen Jüngerinnen und Jüngern gesagt hat, was ihn in Jerusalem erwartet (z. B. Markus 9,31 u. a.) – das ganze Ausmaß konnten sie sich wohl nicht vorstellen. Vor allem dürfte es bei diesem feierlichen Einzug vergessen gewesen sein.
Ob Jesus die Worte Jesajas im Herzen trug? „Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ (Jesaja 50,5b.6)
Er ist ein König. Jesus ist Gottes Auserwählter. Er ist der Gesalbte – das bedeuten die Worte Messias und Christus. Gesalbt werden Könige. Und Priester. Aber diese Wahl Gottes führt Jesus auf einen Weg in die Tiefe. Das kennen die Propheten, die auf ihn hinweisen und mit denen er manchmal verglichen wird.
Einmal fragt Jesus, was die Leute so über ihn denken. „Du bist Elia oder vielleicht Jeremia. Vielleicht bist du auch Johannes der Täufer.“ (Matthäus 16,13–15)
Elia wurde von Königin Isebel verfolgt, weil er ihre Baalspriester alle getötet hatte (1. Könige 18 und 19). Jeremia landete in der Zisterne – das war der Knast für besonders aufmüpfige Propheten. Zum Glück war sie leer (Jeremia 37 und 38). Johannes der Täufer? Den ließ Herodes töten, weil er ihm seine Beziehung zu seiner Schwägerin vorhielt (Matthäus 14,1–12).
Prophet sein verheißt oft nichts Gutes – zumindest nicht für den, der diese Berufung hat. Kein Wunder, dass der „Jünger“, von dem Jesaja geschrieben hat, als „Knecht Gottes im Leiden“ beschrieben wird – so die Überschrift in der Lutherbibel.
Wer ist Jesus? Was hat er wohl bei dem Einzug in Jerusalem empfunden? Wie nehmen wir an, was Jesaja über den Knecht Gottes schreibt, wenn wir dabei an Jesus denken?
Gottes Knecht ist einer, der Menschen ermutigt und aufrichtet, schreibt Jesaja. Er redet mit den Müden zur rechten Zeit, heißt es. Und dazu hört er, wie ein Jünger, eine Schülerin oder ein Schüler zuhört.
Schaue ich Jesus an, finde ich beides bei ihm. Jesus hört. Er hört auf Gott, seinen Vater. „Wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich“ sagt er zu seinen Zuhörern einmal (Johannes 8,28b), und ein wenig später: „Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe.“ (Johannes 8,38a)
Jesus nimmt sich Zeit dafür, auf seinen Vater zu hören, mit Gott zu reden. Manchmal verbringt er die ganze Nacht im Gespräch mit Gott, erzählt Lukas (Lukas 6,12), oder er geht vor Tagesanbruch aus der Stadt, weil er in Ruhe und allein mit Gott sein will (Markus 1,35). Jesus tut nichts und sagt nichts, ohne dass er es von seinem Vater übernommen hat. Die Beziehung zwischen ihm und Gott ist so eng, dass er sogar sagen kann: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (Johannes 14,9) Er unternimmt keinen Schritt, ohne dabei auf dem Weg zu gehen, den Gott ihm weist. Der, den die Jünger und andere mit „Meister“ oder „Rabbi“ anreden, ist als Mensch ganz ein Schüler Gottes. Der, der andere in einer Weise lehrt, die sie in Erstaunen versetzt, schaut ganz auf Gott und folgt dessen Wegen und Weisungen.
Das gilt auch in der Passionszeit. Das gilt für den Einzug in Jerusalem, bei dem Jesus sich eben nicht selbst krönt. Er wird von Gott auf diesem Weg als König und als sein Gesandter bestätigt – durch den Mund des Volkes. Seine Aufgabe als Prophet, als Bote Gottes, ist es, Menschen aufzurichten. Nicht nur. Aber ich bleibe jetzt nur an der Aufgabe, die Jesaja hier benennt: “Er redet mit den Müden zur rechten Zeit.” Was er ihnen sagt?
Vielleicht das, was auch Jesajas Auftrag war. In Kapitel 40 seines Buches schreibt er von dem unvergleichlichen Gott Israels (Jesaja 40,12–31). Und er spricht die Zusage aus, die noch heute Menschen begleitet und aufrichtet (Jesaja 40,29–31):
Er [Gott] gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
So redet Jesus mit Menschen. Er tröstet. Er heilt. Er weckt Tote auf. Er nimmt sich derer an, die Ausgestoßen sind. Er mahnt auch, er lehrt über Gott, er kritisiert falsche Frömmigkeit. Aber sein Ziel ist es immer, Menschen zu heilen und aufzurichten, sie in die Verbindung mit Gott zurückzubringen. Denn bei Gott ist das Leben.
Knecht Gottes sein – das ist ein guter Auftrag. Aber Jesus und viele andere führt diese Berufung und Salbung in die Tiefe. Und keiner geht dabei so sehr in die Tiefe hinein wie Jesus selbst.
Die Worte, die jetzt bei Jesaja folgen, weisen auf die Passionsgeschichte hin: „Ich bot meinen Rücken dar, denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ (V. 6)
Es sind die Bilder aus den Verhören vor dem Hohen Rat und vor Pilatus. Knechte und Soldaten verspotten Jesus und misshandeln ihn. Er weicht nicht zurück. Er weicht nicht aus. Er geht diesen Weg. Der Schreiber des Hebräerbriefes kann sogar sagen (Hebräer 5,8): „So hat er [Jesus], obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.“
Jesus ist nicht der König auf dem hohen Ross. Er ist der Eselsreiter, der Knecht Gottes. Um die Müden aufzurichten, um die Sterbenden zu trösten, um die Gottverlorenen zurückzubringen, geht er in die Tiefe. Er geht in den Tod, in dem alle machtlos sind.
Der Retter, den Gott sendet, kommt nicht in einer strahlenden Rüstung daher. Er reitet auf einem Esel. Und der rote Teppich, den die Menschen für ihn ausrollen, besteht aus Palmzweigen und ihren Kleidern. Viele dieser Mäntel und Überhemden werden wohl nur Lumpen gewesen sein, jedenfalls kein Purpur oder feine Seide. Der Retter, den Gott sendet, ist sein Knecht – verfolgt, verspottet, geschlagen und am Ende dieses Weges getötet. Ob Jesus an die Lieder dachte, die Jesaja über den Gottesknecht geschrieben hat?
Wir gehen in die Heilige Woche hinein, vor uns liegt der Karfreitag. Wer werden hören und es bedenken, was Jesus, der Sohn und der Knecht Gottes, erlitten hat. Es wird uns stören. Denn dieses unermessliche Leid stört unser Bild von einem gnädigen, mächtigen und barmherzigen Gott. Es wird uns sogar ärgern. Wir verbergen den Ärger dann manchmal hinter der vorsichtigen Frage, ob Gott nicht hätte anders handeln können. Und wir antworten ein bisschen fromm und demütig: „Es war sein Weg. Verstehen können wir es nicht.“
Wie hören wir die Worte von Jesaja? Wie ein Jünger zu hören, das klingt ja gut. Und Gutes zu bewirken, die Müden aufzurichten und manches mehr, das ist doch wunderbar.
Aber die Tiefe? Können wir die nicht weglassen? Das verfolgt uns ja sogar bis ins Abendmahl hinein. „Christi Leib, für dich gegeben. Christi Blut, für dich vergossen.“ Ist das nicht eine Zumutung? Jedes Mal hören wir diese Zumutung: Unser Heiland und Erlöser ist ein wunderbarer, lebensspendender Jünger Gottes, völlig eins mit dem Vater – in aller Herrlichkeit und Vollmacht, in aller Heiligkeit und Reinheit. Und er ist zugleich der „Allerverachtetste und Unwerteste“ – so schreibt es Jesaja in Kapitel 53.
Jesus hat’s nicht weggelassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er alles ausgeblendet hat, was kommen wird, als er in Jerusalem festlich empfangen wird. Er ist immer der Sohn Gottes und zugleich der Knecht, der für uns stirbt. Das bestimmt sein ganzes Leben, sein Reden, sein Handeln. Davon ist seine Zuwendung zu den Menschen geprägt. Er ist der König, der dient. Er ist der herrliche Gottessohn, der in alle Niedrigkeit herabsteigt. Er ist der Ewige, der unseren Tod stirbt.
Wir können nichts davon weglassen. Wer von Jesus etwas wegnimmt – egal ob es seine Göttlichkeit sein mag oder sein Leiden – hat nicht mehr den Sohn Gottes, wie ihn die Bibel vorstellt.
Ob Jesus dann auch vor Augen hatte, wie Jesaja diesen Auszug aus seinen Liedern über den Gottesknecht beendet? Ganz gewiss hatte er auch das. „Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden.“ (V. 7) „Er ist nahe, der mich gerecht spricht.“ (V. 8) „Siehe, Gott der Herr hilft mir.“ (V. 9)
Dreimal betont der Knecht Gottes, dass Gott selbst ihm hilft und ihn gerecht spricht. Dreimal? Ein Sprichwort sagt: Aller guten Dinge sind drei. Wenn etwas dreimal betont wird, drückt das seine Bedeutung und Stärke und Gewissheit aus. Zugleich ist es auch symbolisch: Drei Tage war Jona im Bauch des Fisches, erzählt sein Prophetenbuch, bevor er wieder ausgespuckt wurde. Drei Tage war Jesus im Grab. Aber dann erweckte ihn Gott zu neuem, ewigem Leben.
Ich bin kein Zahlenmystiker. Aber es fällt schon auf, wie sehr Jesaja hier die Hilfe Gottes betont. Und nun gehen die Gedanken andersherum: Der dient, ist der König. Der in die Niedrigkeit herabgestiegen ist, ist der Sohn Gottes. Der unseren Tod gestorben ist, ist der ewige Herr und Heiland Jesus Christus.
Gerade in diesen Tagen fordern mich die Worte aus Jesaja dann noch einmal anders heraus. Das hat einen einfachen, persönlichen Grund. Kurz bevor ich mich an die Predigt gesetzt habe, waren meine Frau und ich in Ravensbrück und haben den Abgrund gesehen, in den Menschen ihre Mitmenschen gestoßen haben. Ravensbrück war das größte Frauen-KZ auf deutschem Boden in der Zeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.
Bei Jesajas Worten fiel mir gleich das Morgenlied ein, das Jochen Klepper (1903 bis 1942) zu diesen Versen gedichtet hat: „Er weckt mich alle Morgen“ (Ev. Gesangbuch Nr. 452). Er nimmt die Worte Jesajas persönlich. Er nimmt sie für sich in Anspruch, schreibt in der Ich-Form. Und er stellt sich damit auch der Herausforderung, die diese Worte für uns bis heute mit sich bringen.
Denn wir nennen uns Christen, Nachfolgerinnen und Nachfolger, Schülerinnen und Schüler Jesu. Wir hören Gottes Zusagen. Wir folgen seinen Worten. Schauen wir auch in die Tiefe und weichen ihr nicht aus? Mich erschauert es noch immer bei diesem Gedanken.
Die Verbindung zwischen Ravensbrück und Jesaja? Damals sind Menschen mit anderen in diese Tiefe gegangen. Einer der ersten war Paul Schneider, der “Prediger von Buchenwald”. Er ermutigte noch aus seiner Zelle heraus Mitgefangene. 1939 wurde er ermordet. Einer der letzten war Dietrich Bonhoeffer. Er wurde am 9. April 1945, noch den letzten Kriegstagen, im KZ Flossenbürg ermordet.
Die Niederländerinnen Corrie ten Boom und ihre Schwester Betsie waren in Ravensbrück. Sie hatten in ihrem Haus in Haarlem Juden versteckt, wurden verraten und ins KZ verschleppt. Ihrer Geschichte bin ich schon als Jugendlicher mit dem Film „Die Zuflucht“ begegnet. Corrie hielt im Lager heimlich Bibelstunden und ermutigte viele ihrer Mitgefangenen. Betsy starb im Lager, Corrie ten Boom überlebte.
Nur vier Namen von vielen, die sich für andere einsetzten, die mit in die Tiefe gingen.
Jochen Klepper schrieb sein Lied 1938. Und er beendet das Morgenlied mit der Zeile: „Sein Wort will helle strahlen, wie dunkel auch der Tag.“
Mich erschreckt es und weckt es auf. Wie wachsam sind wir heute, wo Hass und Gewalt um sich greifen und jeder der alten, menschenverachtenden Gedanken wieder sagbar und salonfähig wird? Bleiben wir bei denen, die solchem Hass ausgesetzt sind? Treten wir denen entgegen, die Menschen wieder deportieren wollen – sie nennen es Remigration? Wehren wir uns zuallererst selbst einmal in unseren Herzen und Gedanken gegen solche Pläne? Sie sind keine gangbaren Wege, nicht für eine Demokratie und schon gar nicht für Christen.
Gott selbst kommt herab in die Tiefe. Jesus folgt seinem Gebot der Liebe. Gehen wir mit?
Ich möchte mir mit Jesus und von Jesus das Ohr wecken lassen für Gottes Reden und für die Not der Menschen. Das fällt mir schwer. Ich ziehe mich lieber zurück. Aber als Schüler, als Jünger will ich lernen.
Und ich will die Hoffnung nicht aus dem Blick verlieren. Gott spricht mich gerecht und hilft mir. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen, schreibt Paulus im Römerbrief (Römer 8,38–39). Er ist sich so gewiss, wie sich der Knecht Gottes bei Jesaja ist.
Beides will ich hören und beherzigen, gerade am Beginn der Heiligen Woche: Hören wie ein Jünger und vertrauen, dass Gott mir hilft. Es gehört zusammen. Immer.