Frühingsgefühle im Advent?
Gedanken zu einem Liebeslied aus der Bibel
Der Predigt vorweg wird das Lied “O Heiland, reiß die Himmel auf” (Ev. Gesangbuch Nr. 7) gesungen. Darauf bezieht sich die Einleitung.
Predigt zu Hohelied 2,8–13
Frühlingsgefühle. „O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal grün alles werd.“ Mitten im kalten Winter singt der Liederdichter Friedrich Spee von Langenfeld den Frühling herbei. Ein Weihnachtslied bringt den krassen Gegensatz auf den Punkt: „Es ist ein Ros‘ entsprungen. … und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.“ (Ev. Gesangbuch Nr. 30)
Was ist da los mitten im Advent? Auch wenn kein Schnee liegt, steckt uns der Frühling noch nicht in den Knochen. Wir ziehen uns lieber in die warme Stube zurück. Wir schmücken drinnen und draußen bunt und trotz Energiekrise auch mit Lichtern, mit flackernden Kerzen und mit Lichterketten. Eben weil kein Frühling ist. Der kürzeste Tag des Jahres, die längste Nacht des Jahres steht uns ja erst bevor.
Gerade in diesem Jahr scheint alles noch etwas dunkler zu sein. Und wir sind schlecht vorbereitet. Denn schon die letzten beiden Jahre brachten uns gerade im Winter eine Art Kälte, die kaum zu ertragen war: Corona und die Lockdowns, die verschlossenen Türen, die Quarantänezeiten, der Rückzug aus dem öffentlichen Leben machten uns zu schaffen.
Das scheint einigermaßen überwunden. Aber der Krieg in der Ukraine, die Unterdrückung von Frauen und der Menschenrechte im Iran, in Nordkorea, in China, in Afghanistan sind düster und machen Angst. Frühling? Keiner in Sicht.
Trotzdem singen wir davon. Mit einer Sehnsucht, die gerade in diesem Adventslied so intensiv ausgedrückt wird. Siebenmal schreit das „O“ im Lied „O Heiland, reiß die Himmel auf.“ Heiland, reiß die Himmel auf. Gott, lass Tau fließen und schenke Regen! Erde, schlage aus und bring Blumen hervor. Gott, komm. Sonne, scheine und geh endlich wieder auf!
Und ich setze noch eins drauf. Denn wahrhaft von Frühlingsgefühlen erzählt ein Liebesgedicht, das mitten in der Bibel steht (Hohelied 2,8–13 Basisbibel).
Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon! Er springt über die Berge, hüpft herbei über die Hügel. Mein Liebster gleicht der Gazelle oder einem jungen Hirsch. Schon steht er an unserer Hauswand. Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter. Mein Liebster redet mir zu: »Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus! Denn der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, er hat sich verzogen. Blumen sprießen schon aus dem Boden, die Zeit des Frühlings ist gekommen. Turteltauben hört man in unserem Land. Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen. Die Reben blühn, verströmen ihren Duft. Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!
König Salomo wird dieses Lied zugeschrieben, das Hohelied. „Schir Ha’Schirim“ heißt es im Original – das Lied der Lieder, das Lied schlechthin, das Kostbarste aller Lieder. Aus dem 2. Kapitel sind die Verse. Aber so geht es die ganze Zeit über in diesem Lied in seinen acht Kapiteln. Die Freundin sehnt sich voller Verlangen nach ihrem geliebten Freund. Und er? Kann es nicht erwarten, endlich bei ihr zu sein. Er sucht sie und sie sucht ihn. Sie streift zu nächtlicher Stunde durch die Stadt, gerät sogar in große Not und Gefahr. Er kommt von weit her angerannt, er gibt alles auf für sie. Der König hat zig Nebenfrauen – alle müssten ihn deswegen beneiden. Aber der Geliebte sucht nur die Eine. Frühlingsgefühle, überwältigend schön und stark. Sie brechen durch und lassen sich nicht aufhalten. „Wo bist du? Wo bleibst du? Komm heraus. Komm endlich zu mir!“
Ähm. Moment mal, Herr Prediger, Herr Salomo, ihr lieben schlauen Köpfe in der Kirche. Es ist Winter. Eure Worte passen nicht. Ein Liebesgedicht in der Adventszeit, mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Frühlingsnacht. Und wo bleibt Gott?
Erstaunlich ist nämlich, dass Gott im ganzen Buch Hohelied nicht genannt wird. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen. Oder könnte es sein, dass Gott gerade da mittendrin ist? Wäre es deswegen sogar die wirklich passende Adventsgeschichte und das Hohelied Salomos ein wahres Weihnachtsbuch?
Gott kommt und die Welt ersehnt ihn. Jesus Christus kommt und seine Gemeinde sehnt sich nach ihm so, wie sich die Geliebte nach ihrem Liebhaber sehnt.
Wenn dem nur mal so wäre. Ich schaue noch einmal genauer auf den Geliebten. Er ist schon zu hören, bevor er zu sehen ist. Er hüpft und springt wie eine Gazelle oder ein Hirsch. Und er wirbt und lockt: Komm her, meine Freundin, der Frühling ist da. Blumen blühen, alles duftet, die Knospen an den Bäumen springen auf.
Gott wirbt so um uns, intensiver noch, als es diese schon intensiven Bilder ahnen lassen. Er rennt auf uns zu, er kann es nicht abwarten, dass er bei uns ankommt.
Vielleicht haben Sie das Gleichnis vom Verlorenen Sohn ja in Erinnerung (Lukas 15,11–32). Der war von zuhause aufgebrochen mit seinem Anteil, hatte alles auf den Kopf gehauen und war nun völlig mittellos – ein heruntergekommener Bettler und Obdachloser. Als er sich seiner Heimat und dem Hof seines Vaters nähert, da sind die Türen weit auf. Der Vater hält nach ihm seit Wochen und Monaten Ausschau. Jetzt, da er ihn in der Ferne wahrnimmt, läuft er ihm entgegen.
Gott, der uns sucht und liebt, kraxelt nicht mühsam und langsam Berge hoch. Er macht keine Umwege, um schwieriges Gelände zu umgehen. Er wartet nicht ab, bis es aufhört zu regnen. Er rennt schnurstracks auf uns zu, überspringt jedes Hindernis. Und er redet auf uns ein, drängt uns, ihn doch endlich einzulassen in unsere Herzen. Er wirbt. Er malt uns die Gemeinschaft mit ihm aus. Gott bietet uns all seinen himmlischen Reichtum an. „Bittet, so wird euch gegeben“, sagt Jesus einmal (Matthäus 7,7). Greift zu bei eurem himmlischen Vater. Euch als seinen Kindern gehört euch alles.
Die Adventszeit ist eine Zeit, in der Gott intensiv um uns wirbt. Mit Freude gehen wir auf Weihnachten zu. Und es ist viel mehr als ein Fest der Erinnerung oder die Geburtstagsparty für Jesus. Gott wirbt immer noch um uns. Er wird dabei nicht müde. Solange es noch einen Menschen auf der Erde gibt, der Gottes Liebe nicht kennt, gibt er nicht auf. Und von diesen Menschen und ganzen Regionen und Völkern gibt es immer noch zu viele.
Naja – und vielleicht ist unsere Sehnsucht nach ihm ja auch nicht so brennend wie die Sehnsucht der Freundin nach ihrem Freund. Auch wenn sie in dem kurzen Abschnitt weniger zu Wort kam ahnen wir schon, wie sie sich freut, dass er endlich zu ihr kommt.
Sie sieht ihn schon. Sie hört ihn von ferne und dann auch ganz in der Nähe am Fenster. In diesen wenigen Sätzen wird aber schon deutlich, wie sehr sie gewartet hat. Schon das Werben ihres Freundes um sie war ihr köstlich und eine wunderbare Vorfreude.
Was macht eigentlich der Advent mit uns? Stehen wir hinter der Tür und warten darauf, dass Gott uns ruft? Sehnen wir uns nach ihm oder schlägt uns das „Alle-Jahre-wieder-Gedudel“ jedes Empfinden für Jesus tot? Kommerz und Kitsch dröhnen uns manchmal so sehr zu, dass wir gar nicht mehr danach sehen möchten, wer zu uns kommt. Und vielleicht scheint uns die Welt so sehr aus den Fugen geraten zu sein, dass wir Gott nicht mehr über die Hügel und Berge springen sehen. Wir sind zu tief ins Tal geraten.
Ich glaube, wir brauchen wieder offene Augen und Ohren für die Verlockungen Gottes.
In der Stadtkirche wird heute das Weihnachtsoratorium aufgeführt, Teil I‑III des Meisters Johann Sebastian Bach. Und die Altistin wird Jesus besingen in einer Weise, die auch ins Hohelied passen würde:
Nun wird mein liebster Bräutigam, nun wird der Held aus Davids Stamm zum Trost, zum Heil der Erden einmal geboren werden. Nun wird der Stern aus Jakob scheinen, sein Strahl bricht schon hervor. Auf, Zion, und verlasse nun das Weinen, dein Wohl steigt hoch empor!
Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn! Deine Wangen müssen heut viel schöner prangen, eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!
Eins der schönsten Liebeslieder des Oratoriums. Auch wenn Sprache und Musik immer Geschmacksache sind. Heute finden wir vielleicht andere Liebesworte und andere Melodien. Aber das Wichtigste ist, dass wir die Worte und Melodien finden – dass unser Herz sie findet. Gott sehnt sich nach uns.
Ich kann’s nicht oft genug sagen – zuerst mir selbst. Weil ich es allzu häufig doch wieder vergesse. Der einzige Sinn der Adventszeit ist, in mir die Liebesmelodie Gottes klingen zu lassen. Und damit mein Herz selbst zum Klingen zu bringen. Ich will dieses Lied für Gott singen. Den „Schönsten, den Liebsten bald bei mir“ sehen.
Mag sein, dass uns das etwas verwirrt. Ich dachte, ich glaube einfach – so wie es das Glaubensbekenntnis sagt. Gehöre zur Kirche, bekenne mich zu ihr. Also bin ich getauft und konfirmiert. Ich engagiere mich. Besuche den Gottesdienst.
Und doch ist es viel mehr, was Gott mir hier ins Herz legt. Sein Herz schlägt für uns. Es klopft lauter, wenn er an uns denkt. Was wir oft so altklug und wissend sagen, ist eine Wahrheit, die wir nicht mal ansatzweise verstehen können: Gott wird Mensch. Jesus verlässt den Himmel und kommt auf die Erde.
Das wissen wir alles. Das haben wir ja schon gehört und glauben es auch. Der Atem müsste uns stocken, wenn wir bedenken, was das heißt.
Jesus liebt uns so sehr, dass er das allerschönste Zuhause verlässt. Nicht um einmal kurz spazieren zu gehen. Er verlässt es, um sich unter uns zu mischen. Er verlässt den Himmel, um auf einer Erde zu leben, auf der ein Despot einfach so einen Krieg vom Zaun bricht und dabei nicht mal sein eigenes Volk verschont. Jesus verlässt den Himmel, um auf einer Erde zu leben, auf der Frauen in vielen Teilen der Welt unterdrückt werden und wegen eines schlechtsitzenden Kopftuches ermordet werden. Er verlässt den Himmel, um auf einer Erde zu leben, auf der Menschen verhungern, während andere mal eben das Internet für eine Milliarde Dollar aufkaufen oder für Millionen ins Weltall fliegen – nicht weil sie Forschungsinteressen haben, sondern einfach, weil sie es sich leisten können. Er verlässt den Himmel, um auf einer Erde zu leben, auf der er in den meisten Ländern zu den verhassten und unterprivilegierten Ausländern gehören wird und antisemitisch angefeindet wird.
Warum? Weil er uns so sehr liebt, dass er das Liebste und Schönste hinter sich lässt. Für uns.
Die vier Wochen Advent reichen nicht aus, das zu erfassen. Ob es aber unsere Sehnsucht nach Gott wecken kann? Eine Sehnsucht, die von seiner Liebe angefacht ist? Denn uns redet Gott ja so an:
Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus! Denn der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, er hat sich verzogen. Blumen sprießen schon aus dem Boden, die Zeit des Frühlings ist gekommen. Turteltauben hört man in unserem Land. Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen. Die Reben blühn, verströmen ihren Duft. Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!
Wie wird unsere Antwort sein? Vielleicht wird unser Herz wach und kann in die Worte einstimmen, die Paul Gerhardt für ein Weihnachtslied (Ev. Gesangbuch Nr. 37,5) gedichtet hat:
Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!
Oder wir finden andere Worte, die unsere Sehnsucht nach Gott beschreiben. Wenn wir es nur erfassen, wie sehr sich Gott nach uns sehnt und wenn wir den Mut aufbringen, dieser Sehnsucht Gottes zu begegnen mit unserem Herzen.