Gedanken zu Exodus 34,29–35
Kennen Sie Menschen mit Ausstrahlung? Ich meine, mit einer richtigen Ausstrahlung. Wenn die einen Raum betreten, wird es spürbar heller. Und ich meine nicht Glanz und Gloria und künstlich aufgebauten falschen Schein. Das gibt es zuhauf. Ich meine Menschen, die natürlich anziehend wirken. Ohne Fan-Gejubel. Sie fallen nicht auf durch extravagante Kleidung, durch laute Töne oder dadurch, dass sie den ganzen Raum einnehmen – und so wohl eher andere verdrängen. Ich denke an Menschen, die jeden wohltuend berühren, noch ohne dass sie etwas sagen oder tun.
Matthäus hat von solch einem Menschen erzählt: Jesus (Matthäus 17,1–9). Und das nicht nur in dieser besonderen Geschichte auf dem Berg. Auch sonst berührte er die Menschen um sich her. Ausstrahlung, die anzieht, die Herzen erreicht, die wohltut und die alles verändert zum Guten hin.
Einer, der tatsächlich strahlte, war auch Mose. Allerdings hatte seine Ausstrahlung etwas an sich, das Menschen erschreckt hat. Ich denke, es war eine heilige Furcht, keine Angst im gewöhnlichen Sinn. Wenn Mose so strahlend vor die Israeliten trat, dann spürten sie die Heiligkeit Gottes und Ehrfurcht kam über sie. Das klingt dann zum Beispiel so (2. Mose 34,29–35):
Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte. Als aber Aaron und alle Israeliten sahen, dass die Haut seines Angesichts glänzte, fürchteten sie sich, ihm zu nahen. Da rief sie Mose, und sie wandten sich wieder zu ihm, Aaron und alle Obersten der Gemeinde, und er redete mit ihnen. Danach nahten sich ihm auch alle Israeliten. Und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm geredet hatte auf dem Berge Sinai. Und als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht. Und wenn er hineinging vor den Herrn, mit ihm zu reden, tat er die Decke ab, bis er wieder herausging. Und wenn er herauskam und zu den Israeliten redete, was ihm geboten war, sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Dann tat er die Decke auf sein Angesicht, bis er wieder hineinging, mit ihm zu reden.
So einer ist mir noch nicht begegnet. Also jemand, der so sehr leuchtet von innen heraus, dass ich mich vor ihm fürchten muss. Was war das für eine Ausstrahlung, die Mose umgab und die alle um ihn herum erfasste und auch erschreckte? Und gibt es das heute noch?
Mose war auf dem Berg Sinai. Gerade war das Volk aus Ägypten geflohen. Und Gott wollte am Sinai seinen Bund mit den Israeliten schließen. Mose war der Vermittler, er war der Anführer des Volkes, er war ihr Priester, er war Gottes Bote und Diener. Er sprach unmittelbar mit Gott. Und so nah, wie er Gott kam, kam wohl kein anderer Mensch. Das hatte Folgen. Denn Mose wurde angesteckt von der Herrlichkeit Gottes.
Als Jugendlicher war ich ganz versessen darauf, mal eine Armbanduhr zu haben, die man auch im Dunkeln ablesen kann. Keine Ahnung warum, aber so eine wollte ich. Die hatte kein Lämpchen drin. Die hatte Ziffern und Zeiger, die mit einem lumineszierenden Stoff beschichtet waren. Bei Tageslicht „tankte“ dieser Stoff Licht auf und im Dunkel strahlte dieser Stoff. Sie kennen das.
Ein schwacher Vergleich, aber vielleicht hilft er, uns vorzustellen, was Mose da geschehen war. Er war angeregt und angefüllt von Gottes Herrlichkeit, die aus ihm heraus leuchtete. Aber das in einem Maß, das unvorstellbar größer war als bei einem kalt-grünen Nachtlicht einer kleinen Armbanduhr.
Menschen, die in Gottes Nähe sind, leuchten. Das ist meine erste Beobachtung in diesem kleinen Ausschnitt aus der Geschichte Israels am Berg Sinai. Am schönsten fasst das für mich ein Wort aus dem Buch der Richter zusammen. Das Richterbuch, gleich nach Mose und Josua in der Bibel zu finden, erzählt von den ersten Jahrzehnten der Israeliten im versprochenen Land. Es gab noch keinen König. Wenn etwas Größeres zu klären war für das Volk, dann traten die sogenannten Richter auf – Menschen, die Gott für eine bestimmte und begrenzte Aufgabe berufen hatte. Eine dieser Richterinnen, eine der Prophetinnen, von denen erzählt wird, war Deborah. Die stimmte am Ende eines Kampfes ein Siegeslied an. In der letzten Strophe singt sie: „Die ihn – Gott – aber lieb haben, sollen sein, wie die Sonne aufgeht in ihrer Pracht!“ (Richter 5,31b)
Die Gott lieben, sollen sein wie die Sonne. Was für eine Ausstrahlung. Eine Ausstrahlung, die für uns gilt. Die für die Kirche gilt, wenn wir die Nähe Gottes suche und aufsuchen. Jahrhunderte später greift Paulus die Erzählung von Mose auf – und indirekt auch die Verheißung, die Deborah laut gesungen hat. An die Christen in Korinth schreibt er: „Wir alle aber spiegeln mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider, und wir werden verwandelt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist.“ (2. Korinther 3,18) Wir – ihr! – spiegelt die Herrlichkeit Gottes wider. Und wir werden verwandelt von einer Herrlichkeit zur andern. Ist das nicht der helle Wahnsinn?
Ganz gewiss ist es etwas, das wir noch entdecken und ergreifen müssen. Vielleicht geht’s uns an dieser Stelle ähnlich wie den Israeliten: Uns ist das eine Nummer zu groß. Wir genießen etwas Kerzenlicht und möchten auch für unsere Freunde eine warm scheinende Kerze sein. Wir sagen auch gern mal ein freundliches Wort. Wir hören zu. Wir versuchen zu trösten, sind manchmal einfach da, spenden etwas Nähe. Aber wie das Licht der Sonne sein, die Herrlichkeit Gottes erst einmal selbst erfahren und sie dann ausstrahlen? Das ist doch etwas zu groß. Das ist mein zweiter Gedanke.
Der Erste: Menschen, die in Gottes Nähe sind, leuchten. Der Zweite: Gottes Licht erschrickt uns, wenigstens manchmal. Nochmal zurück zu Mose. Gottes Herrlichkeit – und dazu gehört seine Heiligkeit – leuchtet so sehr durch Mose, dass die Israeliten davor erschrecken. Er muss sie erst einmal wieder zu sich heranrufen. „Dreht euch um. Schaut mich an. Habt keine Angst. Gott ist euch wohlgesonnen. Er lädt euch in seine Herrlichkeit ein.“ Vielleicht hat er es ja so ähnlich gesagt. Ich glaube, wir brauchen heute diese Einladung auch. Ausgesprochen ist sie schon längst, aber wir müssen sie wieder hören und an uns heranlassen. „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Das ist die erste Kurzpredigt von Jesus (Markus 1,15) Dreht euch um, schaut ins Licht. Dreht euch um und schaut Jesus an. Dreht euch um und lasst euch anstrahlen von Gottes Liebe! Das ist das Evangelium, die frohe, gute Botschaft. Und diese Botschaft meint wirklich: Stellt euch ganz in Gottes Licht! Fürchtet euch nicht davor. Saugt diese Wärme in euch auf. Nehmt dieses Licht in euch auf. Lasst euch davon erfüllen. Habt keine Angst davor. Vielleicht tun wir das viel zu wenig. Ob wir Angst vor geistlichem Sonnenbrand haben? Das wäre noch eine eigene Predigt wert. Nur soviel: Gottes Licht ist heilsam und wohltuend. Sonnenbrand bekommen wir davon nicht, sondern unsere Seele wird dadurch gestärkt.
Ein dritter Gedanke beschäftigt mich. Wenn Mose zurückging in die Stiftshütte – also in diese Art Wandertempel – legte er den Schleier wieder ab, den er draußen getragen hatte. Vor Gott brauchte er diesen Schleier nicht. Das gilt mir heute: Ich muss vor Gott keine Maske tragen! Ich muss nicht denken, dass ich vor Gott irgendetwas verbergen müsste. Mose verbarg vor dem Volk sein Leuchten. Die Herrlichkeit und Heiligkeit Gottes ist manchmal nicht auszuhalten. Man kann wohl nicht immer geradeaus hineinblicken. Vielleicht kann man’s auf Erden wirklich nie. Aber vielleicht verbarg Mose dieses Leuchten auch, damit nicht er als das Licht dasteht, sondern es nur um Gott selbst geht. Nicht der tolle Mose, der von Gott erleuchtet ist, redet hier. Gott selbst spricht. So verbirgt Mose ein Stück seiner Person. Vor Gott aber ist das nicht nötig. Weder müssen wir vor ihm unsere Gaben, unser Können und unsere Fähigkeiten klein machen – die er uns doch geschenkt hat, noch brauchen wir ihm unsere dunklen Punkte zu verheimlichen. Er kennt sie eh und nichts kann ihn überraschen. Auch da gilt noch einmal die Einladung Gottes: Dreh dich um. Komm zu mir. Du bist mir willkommen. Die Jahreslosung klingt durch: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen, den werde ich nicht hinausstoßen.“ (Johannes 6,37) Also ein doppelter dritter Gedanke: Prahle nicht vor den Leuten mit dem, was du mit Gott erlebt hast. Und verstecke dich nicht vor Gott.
Menschen mit Ausstrahlung. Solche sollen und dürfen wir sein. Vor dieser Verheißung Gottes braucht uns nicht Angst zu sein. Vor seinem Licht brauchen wir uns nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Er lädt uns ein, seine Herrlichkeit zu suchen, seine Nähe immer wieder zu suchen, danach zu ringen. Menschen mit Ausstrahlung: Dazu sind wir berufen. Wer in Gottes Nähe ist, der leuchtet von innen heraus. Der spiegelt Gottes Licht und gibt es in die Welt weiter. Was kann das die Welt verändern, wenn wir es entdecken und einüben. Dann wird es in uns und um uns herum heller. „Die Gott lieben, werden sein, wie die Sonne!“ Amen.