Heute ist ein traditionsreicher Tag. Ich habe eine Weile gebraucht, bis mir das nicht nur eingefallen sondern sogar aufgefallen ist. Es gibt ja so manche Traditionen, die uns als solche vielleicht gar nicht mehr tiefer bewusst sind, auch wenn wir sie begehen. Traditionell nimmt man in der Kirche den Hut ab als Mann. Warum eigentlich? Im Judentum ist es zum Beispiel andersrum. Da muss man in der Synagoge die Kippa, dieses Käppchen aufsetzen. „Mahlzeit“ röhrt es zur Mittagszeit durch so manche Kantine. Mal flapsig, mal mürrisch, mal wie ein Gruß, ein „Guten Tag“ dahingeworfen ist es der Rest einer guten christlichen Tradition, nämlich des Tischgebets. In etwas bewusster lebenden Kreisen heißt es denn vielleicht auch noch „gesegnete Mahlzeit“. Und hier und da danken Menschen tatsächlich Gott für das Essen und erbitten seinen Segen über dem „täglich Brot.“
Heute ist so ein traditionsreicher Tag – und viele nehmen es gar nicht mehr bewusst war. Schon dass der Sonntag ja eine ur-biblische Erfindung ist, Tradition von Anfang der Schöpfung an, weiß nicht mehr jeder. Und dann ist heute Israelsonntag – die Kirche denkt am 10. Sonntag nach Trinitatis besonders an das Volk Israel, das Volk Gottes. Gottes Treue zu seinem Volk, sein Leiden und Schicksal, seine Besonderheiten in der Geschichte von Gott und Mensch werden angesprochen.
Aus einer ganz anderen Richtung – also nicht aus der Religion – kommt die Tradition, die an den letzten vier Tagen über 100 Menschen in Zeitz zusammengeführt hat. Es ist Flößertag, der 24. Flößertag. Und nicht nur, dass sich etliche treffen, die sich mit dem Flößen in der Vergangenheit und Gegenwart beschäftigen, hat Tradition. Die Tätigkeit selbst ist ja ziemlich alt. Ich gebe es zu, ich musste zuerst einmal nachschauen, aber: schon beim König Salomo im 1. Königebuch und im 2. Buch der Chronik Israels (1. Könige 5,23/2. Chronik 2,15) werden Flöße erwähnt. Holz, das auf dem Libanon geschlagen wurde, wollte König Hiram an der Küste entlang nach Jafo flößen lassen. Von dort sollte es auf dem Landweg dann nach Jerusalem gebracht werden zum Tempelbau Salomos. Jahrtausendealte Tradition im Holztransport.
Ein Tag der Tradition, in vielfacher Weise. Und warum? Weil wir alle zum einen etwas haben, auf dem wir stehen, auf dem wir aufbauen und von dem aus wir weitergehen. Und weil wir auch etwas brauchen, das hinter oder unter uns liegt und das uns trägt, eine Richtung gibt, Orientierung und Halt verschafft.
Lassen Sie uns einmal schauen, was Gott seinem Volk mit auf den Weg gegeben hat, als sie gerade dabei waren, eine eigene Tradition als Volk aufzubauen. Stellen Sie sich dabei die Israeliten vor, die gerade in einer spektakulären Flucht aus Ägypten ausgezogen sind. Sie kennen sicher die Geschichte mit den zehn Plagen. Der Pharao war ziemlich halsstarrig. Er wollte seine Arbeitssklaven nicht gehen lassen. Klar, die Israeliten waren damals seine billigsten Arbeitskräfte. Mit zehn Plagen zeigte Gott, dass es ihm ernst ist und er sein Volk aus der Sklaverei befreien wird. Unter der Führung von Mose können dann Hunderttausende Israeliten das Land der Knechtschaft verlassen. Oft verfilmt. Vielleicht erinnern sie sich an Charlton Heston als Mose und Yul Brunner als Pharao, oder an den Zeichentrickfilm „der Prinz von Ägypten“. Nun sind die Israeliten gerade an ihrem ersten wichtigen Ziel angekommen, am Berg Sinai. Dort wird Gott ihnen in Kürze die berühmten zehn Gebote anvertrauen, die die besondere Beziehung beschreiben, die Gott und das Volk Israel verbindet. Was dort bei der Ankunft passiert, lese ich uns vor:
1 Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai.
2 Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
3 Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen:
4 Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.
5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein.
6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.
Ob wir verstehen können, was hier geschieht? Ein Volk von Sklaven ist aus Ägypten geflohen. Die Bibel berichtet von 400 Jahren, die die Israeliten in diesem Land waren. Anfangs einfach als Gäste eines wohlwollenden Pharaos, später dann versklavt, unterdrückt, ausgebeutet. Worauf sie in den Anfangstagen, als kleines Völkchen, noch bauten und vertrauten, war längst nicht mehr. Vor langer Zeit hatte Gott Abraham, Isaak und Jakob einmal versprochen, dass sie das Land Kanaan, das heutige Israel, als Land besitzen werden und dass aus der kleinen Familie ein großes Volk werden wird. Und nun? Das Land war noch nie ihres. Zahlreich waren sie geworden, ja. Aber ein anderer hatte das Sagen über sie. Vielleicht sogar – vielleicht sogar ein anderer Gott? Wie viele mögen sich noch an die Verheißung erinnert haben? Wie viele mögen noch auf die Erfüllung des Versprechens gehofft haben?
Wenn man lange versklavt ist, schafft auch das eine Tradition. Und irgendwann gewöhnt man sich daran, lernt es, sich unterzuordnen und hört vielleicht sogar auf zu träumen und zu hoffen. Das ist beileibe keine alte Geschichte. Zu Kaisers Zeiten, gerade einmal 100 Jahre her, buckelte man eben vor dem Kaiser, dieser traditionsreichen Gestalt. Demokratie? Das gab’s ja noch nie. Wo soll das hinführen? Das kann nichts werden. Und – muss man nicht erschrocken stauen, wenn es heute heißt: im dritten Reich war auch nicht alles schlecht? Die Autobahnen werden als Argument hervorgezaubert – deren Anfänge es schon vorher gab. Die Achtung der Mütter wird beschworen – die doch letztlich nur Soldaten zur Welt bringen sollten. Die Kinder hörten besser – natürlich auch an der Front. Missbrauchte Traditionen. Geht es nicht gar in eine ähnliche Richtung, wenn sowohl in Ost als auch in West der eine oder andere die Mauer wieder fordert? Traditionen, die Menschen unterdrückt und versklavt haben – in unserer Zeit, in unserem Teil der Erde. Und mancher denkt, ohne diese Traditionen bricht die Welt auseinander.
Aber weichen wir nicht in die Geschichte aus. Auf welchen Traditionen steht eigentlich unser Leben? Ist davon etwas tragfähig und wirklich lebendig? Oder stehen wir auf totem Holz, auf wackligem Boden, auf morschen Planken? Gott bietet den Israeliten die Begründung einer neuen Tradition an, er legt ein neues Fundament für sein Volk und lädt ein, es zu betreten – was auch bedeutet, das Alte zu verlassen. „Ihr seid keine Sklaven mehr. Ich habe euch getragen wie auf Adlerflügeln. Ich habe für euch gekämpft, ich habe euch befreit.“ Wenn Sie sich einmal die Bibel genauer anschauen stellen Sie fest, dass nahezu alle Bücher der Bibel in irgendeiner Weise auf dieses Ereignis zurückgreifen. Es ist eine Tradition, die lebt und trägt: Gott befreit sein Volk. Am Passafest, das ja unserem Osterfest zeitlich gleicht, wird das gefeiert, bis heute. Und auch wir als Christen beziehen uns auf diese Tat Gottes: Er hat nämlich auch uns befreit. Es ist nicht gerade modern, von Schuld zu reden, wenn’s um uns persönlich geht. Aber die Bibel ist da recht einfach und gerade heraus: Gott gegenüber sind wir alles schuldig. Und er befreit uns daraus. Unser Passafest, den Auszug aus der Sklaverei von Schuld, von Egoismus, von Selbstüberschätzung, von Gottesverachtung, nennen wir Karfreitag und Ostern. Da fängt unsere Tradition neu an, die Fortsetzung von dem, was Israel vorher als Volk erlebte: Jesus Christus macht uns zu neuen Menschen.
Mit einer Tat Gottes fängt es an. Und dann hängt sich Gott an seine Menschen. Das ist ein bisschen verrückt: Gott legt sich fest. Er legt sich auf uns Menschen fest, die er als sein Gegenüber haben möchte. Er will keine Engel und hehren Gestalten um sich haben, er will auch nicht in der Abgeschiedenheit des Weltalls mit sich alleine sein, nein: Gott will uns als Gegenüber, als Partner, als Freunde, als Kinder. Gott, den nichts und niemand festlegen kann – sonst wäre er ja nicht Gott – legt sich fest. „Ihr sollt mein Eigentum sein vor allen Völkern; ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk.“ Was für eine Würde für uns Menschen.
Ich kehre noch einmal zu meiner Frage zurück: Auf welcher Tradition stehen wir eigentlich? Wer begründet sie – und steht damit auch für ihre Tragfähigkeit ein, notfalls mit seinem eigenen Leben? Es geht dabei nicht um etwas Brauchtumspflege oder darum, die Leistungen und Errungenschaften unserer Vorfahren zu würdigen. Es geht auch nicht darum, zum Beispiel eine bestimmte Frömmigkeitsform zu verklären. Es geht um unser Leben. Und deswegen sollten wir genauer hinschauen, ob unser Fundament trägt. Da gilt zum einen die kritische Rückfrage nach denen, die uns Lebensfundamente anbieten. Bei der Werbung leuchtet uns das noch ein und wir durchschauen es: Die Versprechungen, die uns in bunten Bildern gegeben und geradezu ins Unterbewusstsein verpflanzt werden, gaukeln uns doch zum Beispiel so etwas wie ewiges Leben vor, zumindest von fast ewiger Jugend reden sie. Aber wir wissen, dass das nicht stimmt. Auf ein bisschen Q10 oder Knoblauchextrakt lässt sich kein Leben aufbauen. Und auch wenn die Tradition extrem nachlässt, dass Menschen zu Beerdigungen von Nachbarn mitgehen und so dem Tod im Alltag auszuweichen versuchen: Es weiß doch jeder, dass wir jeder sterben werden. In der Politik wird es schon schwieriger. Wir klammern uns gerne an die Versprechen von Wohlstand und Sicherheit. Wir würden ja auch verrückt werden, wenn wir ständig nur mit Angst leben müssten. Manche laufen den alten Parolen und selbstgemachten Werten nationalistischer oder sozialistischer Herkunft her – weil alles angeblich besser war, weil alles besser wird. Was die richtigen Fundamente sind, wissen wir dabei gar nicht so genau. Selbst unsere Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit, eine gute Bildung und Kultur, tragen ja nicht immer automatisch zu unserem Wohl bei.
Und ich denke auch, dass manche kirchlichen Werte und Traditionen nicht von sich aus das Heil – und sei es nur unser eigenes, kleines privates Heil schaffen. Oft – und auch gerne – höre ich, wenn Menschen erzählen, dass sie getauft und konfirmiert sind. Ja vielleicht haben sie auch kirchlich geheiratet und die Kinder auch noch getauft. Ich freue mich, weil sie auf diese Weise doch einiges von Gott gehört haben. Aber manchmal beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Denn wenn das Papier alles ist, auf dem steht, dass ich getauft bin, dann hab ich Gott zum Versicherungsmakler herabgestuft. Und dann stimmt da etwas nicht. Da es um unser Leben geht – und das ist mehr, als die Jahre in unserer sichtbaren Welt – sollten wir unsere Fundamente überprüfen. Auch Traditionen aus alten Tagen gehören auf den Prüfstand.
Das andere ist aber, sich auf ein sicheres Fundament zu begeben. „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern“, so hört es Israel. Und wir hören gleich mit. Hören und gehorchen – da schlucken wir immer erst einmal. Mit dem Gehorchen haben wir uns schon zwei Kriege eingefangen mit allen Folgen. Außerdem lass ich mich doch nicht von anderen bestimmen. So denken wir, wenn wir nicht mal einen Schritt zurücktreten und uns Übersicht verschaffen. Wer sagt denn das zu uns? Es ist – um zuerst bei Israel zu bleiben – Gott, der sie herausholt aus einer Tradition, die sie kaputtgemacht hat. Es ist – um weiter zu blicken – Jesus Christus, der vor aller Vertrauenserwartung an uns zuerst einmal gehandelt hat. Der ist für uns in die Bresche gesprungen, die uns von Gott getrennt hat. Paulus sagt das mal sehr deutlich: Als wir noch Sünder waren, ist Jesus Christus schon für uns gestorben. Ein bisschen freier formuliert: Als noch keiner von uns etwas von Gott wissen wollte, da war Gott schon längt auf der Suche nach uns und hat den Weg frei gemacht. Gott allein trägt das ganze Risiko dieser Aktion. Sagen wir nein, dann wird er es respektieren. Gott – der das überhaupt nicht nötig hätte – geht in Vorleistung für uns. Er erwartet nicht, dass wir zuerst auf ihn hören und dann mal gucken, was passiert. Er hat schon längt bewiesen, dass er auf unserer Seite steht und uns nicht im Stich lässt. Erst dann kommt er und bietet uns seine Freundschaft an, bietet uns seinen Bund an, wie es im 2. Mosebuch heißt. Noch einmal zur Erinnerung: Er holt Israel aus Ägypten heraus, bevor! er den Israeliten sagt, dass sie ihr Leben, ihr Glück finden werden, wenn sie sich nun nach Gottes Worten ausrichten.
Das Fundament, das trägt, ist Gott selbst. Und er begegnet uns, wird erfahrbar, begreifbar, „betretbar“ durch seine Worte, die wir in der Bibel lesen können und durch den Menschen Jesus Christus. Dann heißt „auf ihn hören“ zuerst einmal ihn selbst immer genauer kennenzulernen, so wie er sich in der Bibel vorstellt. Hören heißt dann, den Worten vertrauen, die er zu uns sagt. Denn auch die Gebote sind keine Spaßbremsen, sondern Worte zum Leben, Worte die uns ermöglichen soll, frei und glücklich zu leben, miteinander und mit Gott zu leben.
Seit einiger Zeit gibt es die Werbung einer Versicherung, die Zahnersatz anbietet, auch wenn es eigentlich schon zu spät ist, sprich: wenn man sich dafür gar nicht versichert hatte. Die Idee ist schon so alt wie die Erde – und Gott hat sie viel umfassender gehandhabt. Er gibt uns das ewige Leben – ohne dass wir uns dafür versichert haben. Und er fordert auch danach keine Rückzahlungen. Das lässt mich diesem Gott vertrauen. Der wird uns nicht fallen lassen. Der wird mitgehen sogar durch den Tod hindurch. Er hat es schon längst getan. Und er nimmt uns mit in ein Leben hinein, das unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Auf ihn zu hören, ist die beste, die tragfähigste Tradition, die es gibt. Die Formen dafür sehen in jeder Zeit anders aus. Aber der Grund bleibt. Amen.