Predigt zu Matthäus 21,1–17
Singt dem Herrn ein neues Lied. Oder: singt ihm besser auch nicht, es könnte stören.
Ist das nicht eigenartig, wie ein und dasselbe Lied so unterschiedliche Wirkungen haben kann? Es kommt wohl darauf an, wer es singt; und natürlich wo es gesungen wird; nicht zu vergessen die Hörer – die sind ja auch ganz unterschiedlich. Dabei ist es sicher nicht der Geschmack der Menschen, der beim Einzug in Jerusalem und dann bei dem Eklat mit den Kindern im Tempel so verschiedene Reaktionen ausgelöst hat. Denn dieses Lied kannten und sangen damals alle. Es stand im Liederbuch der jüdischen Gemeinde. „Hosianna dem Sohne Davids – Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ Psalm 118 heißt die Liednummer. Und besungen wird die gütige und großartige Herrschaft Gottes. Wie ein König wird Gott in diesem Lied gefeiert. Man kann sich vorstellen, dass es bei Prozessionen angestimmt wurde, vielleicht auch bei der Einführung eines neuen Königs. Dann stand das Volk wohl ähnlich wie beim Einzug Jesu in Jerusalem an den Straßen und jubelte. Ähnlich wie bei der Hochzeit von Kate und William, die ja kürzlich Menschen in der ganzen Welt vor die Bildschirme gelockt hat und in London Millionen auf die Straße brachte.
Jesus kommt – und das Volk, die Menge feiert. Wie einem König singen sie dieses Lied. Es waren wohl viele bei Jesus, die von außerhalb der Stadt kamen, die mit ihm unterwegs gewesen sind. Denn von den Einwohnern Jerusalems heißt es, dass sie sich erregten, dass sie erschüttert waren. Das Verb, das hier im griechischen Text steht, steckt auch im Wort für die Erbebenmessgeräte drin: Seismographen heißen die ja, wörtlich „Erschütterungsschreiber“. So ein Seismo, eine Erschütterung ging durch die Stadt, ein religiöses, soziales und sicher auch politisches Erdbeben. Kein Wunder. Jesus brachte schon lange die Menschen in Wallung. Entweder sie wollten von ihm Hilfe und machten sich auf den Weg zu ihm. Und waren dann berührt, regelrecht aufgewühlt, wenn er ihnen helfen konnte. Stellen Sie sich doch nur mal vor, wie sich ein Blinder fühlt, der einfach so wieder – oder sogar zum ersten Mal – sehen kann. Oder wie es einen Lahmen geradezu zum Tanzen bringt, wenn er plötzlich gehen und rennen kann. Oft genug wird erzählt, wie Jesus so Menschen berührt und bewegt hat.
Die andere Seite, das Oder: Jesus provozierte auch die Menschen. Wenn er die Gesetze des Alten Testamentes ausgelegt hat, dann ging ein Raunen durch die Menge, und manche der besonders Frommen fühlten sich auf den Schlips getreten. Wenn Jesus am Sabbat andere heilte, dann passte das den Strenggläubigen nicht. Und gar wenn er deutlich machte, dass er Gottes Sohn ist; na, da war was los. Jetzt zieht er in die Hauptstadt ein, religiöses, gesellschaftliches und politisches Zentrum. Und löst ein Erbeben aus.
Man stelle sich vor: da taucht ein Wanderprediger und Wunderheiler vom Land, etwa aus Trebnitz oder Gleina in Berlin auf, und die Menge geht auf die Straße, schließt sich zu einer Kundgebung zusammen, wie sie vielleicht bei der Maueröffnung veranstaltet wurde. Da wird auch der Bundespräsident blass, denn dieser Jubel gilt nicht ihm. Die Sicherheitskräfte werden ganz nervös, heute genauso wie damals.
Jesus setzt sogar noch eins drauf. Er zieht mit seinem Gefolge in den Tempel ein. Ist das etwa eine Besetzung dieses heiligen Ortes? Der wahre Hausherr kommt in sein Haus und die bisherige Verwaltung ist spontan entmachtet – so muss es den Priestern und Tempeldienern vorgekommen sein. Jesus räumt auf; die Tische der Geldwechsler fliegen raus und jeglicher Handel wird unterbrochen. „Mein Haus soll ein Bethaus heißen.“ Das hatte der bekannte Prophet Jesaja 500 Jahre vorher schon einmal laut ausgerufen. Nun ist Jesus da und macht mit diesem Ausspruch seinen Anspruch deutlich. Im Namen seines Vaters, als Sohn Gottes bestellt er sein Haus, bringt es in Ordnung.
Ich kann mir gut vorstellen, wie bei dieser Aktion der fröhliche Festgesang verstummt und sich auch bei den Fans Jesu lautloses Erstaunen, ja Entsetzen breit macht. Alles wird still – und da dringt an die Ohren von erstaunt-verärgerten Händlern, von verdutzt-wütenden Priestern und verwundert-fragenden Nachfolgern der Nachhall des Gotteslobs, das die Volksmenge eben noch gesungen hatte. Aber es ist kein Echo. Da singt wirklich noch jemand. Die Kinder nämlich singen das Lied weiter. Sie sind mittendrin im fröhlichen Spiel – so jedenfalls stelle ich mir die Situation vor. Von den Erwachsenen haben sie es eben noch gehört und feiern nun ihre Feier weiter. Vielleicht haben sich ein paar von ihnen sogar wie König und Königin verkleidet. Und die anderen huldigen ihrem Prinzenpaar. Ein Kinderspiel.
„Hörst du auch, was diese sagen?“ Man könnte mit einem Sprichwort antworten: „Kindermund tut Wahrheit kund.“ So in etwa jedenfalls antwortet Jesus denen, die ihn dafür verantwortlich machen, was hier passiert ist, und die sich von den Kindern vielleicht noch mehr provoziert fühlen als von den Erwachsenen. Wörtlich: „Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du dir ein Lob bereitet.“ Jesus zitiert ein anderes Lied der Bibel, Psalm 8. Auch ein Lied, das von der Größe Gottes erzählt – und auch eins, das bei besonderen Festen und vielleicht zu Ehren des Königs im alten Israel gesungen wurde. Weil der König so etwas wie Gottes Stellvertreter auf Erden war.
Und dann lässt Jesus die bornierten, verwunderten, so selbstsicheren Hüter ihrer eigenen Gerechtigkeit einfach stehen und geht. Aber vielleicht geht er auch deshalb, weil er des Diskutierens müde ist. Er geht nach Betanien. Aus anderen Erzählungen wissen wir, dass Jesus dort Freunde hatte, die Schwestern Maria und Marta und ihren Bruder Lazarus. Den hat er vom Tod auferweckt, berichtet das Johannesevangelium. Hier muss er sich nicht verteidigen, hier kann er ausruhen, einfach Mensch sein. Der Gott und Mensch Jesus braucht es auch, dass er ein Zuhause hat, wo er gerne willkommen ist und man ihn so nimmt, wie er ist.
Aber ich möchte noch ein bisschen über diese Tempelszene nachdenken. Denn sie sagt uns viel über uns und unsere Aufgabe als Gemeinde. Das religiöse Leben im Tempel damals war ein Stückweit zu einem Selbstläufer geworden. Die Spielregeln waren klar. Und in ihnen gab es keinen Raum – nicht für Neuerungen oder Veränderungen, selbst dann nicht, wenn sie von Gottes Geist angestoßen waren. Und es gab auch keinen Raum für bestimmte Ansichten oder Menschen. Dass Jesus im Tempel Blinde und Lahme heilt, ist schon ein Stück verwunderlich. Gemeinhin dachte man, dass mit ihnen etwas nicht stimmen kann. Warum sonst sollte sie Gott so geschlagen, ja bestraft haben? Draußen war ihr Platz, an den Türen zum Vorhof des Tempels. Die Gesellschaft wollte jedenfalls innen drin nicht von ihnen gestört werden.
Jesus aber wendet sich ja gerade denen zu, die anders sind, die an den Rand gedrängt werden. Zachäus, der Zöllner ist ein schönes Beispiel dafür. Er wurde ja wörtlich an den Rand gedrängt, als er Jesus sehen wollte. Er war nicht groß gewachsen und konnte sich in der Menge nicht durchsetzen, als Jesus zu Besuch nach Jericho kam. Die Leute haben ihn bei dieser einen Gelegenheit spüren lassen, dass sie ihn verachteten. Endlich mal konnten sie dem verhassten Zöllner eins auswischen. Aber Jesus entdeckt ihn in seinem Maulbeerbaum, auf den er geklettert war. Und lädt sich bei Zachäus ein, was für großen Aufruhr sorgt.
Oder: vor einer Stadt begegnet Jesus 10 Aussätzigen. Sie müssen nämlich draußen leben, weil sie unrein sind – körperlich krank und religiös, kultisch damit auch ausgegrenzt. Jesus aber geht auf sie zu, heilt sie. Jesus kommt anders, als es sich die Frommen vorstellen. Gott kommt anders, als wir denken. Er wendet sich denen draußen zu. Damit schließt er die drinnen, die Etablierten, die Frommen nicht aus. Aber er macht ihnen deutlich, dass es für ihn keine Exklusivkirche gibt. Gemeinde darf sich nicht exklusiv verhalten und andere ausschließen. Der Lobgesang der Erwachsenen verstummt, als ihnen das deutlich vor Augen geführt wird. Als sie sehen, dass Jesus in Gottes Haus die überkommenen Normen und Ausgrenzungen über den Haufen wirft, ist es mit der Freundschaft vorbei.
Singt dem Herrn ein neues Lied: Mit dieser Geschichte stehen wir vor der Frage, welche Lieder wir eigentlich anstimmen in unseren Gemeinden. Und wer sie mitsingen darf. Gerade haben wir uns im Kirchspiel wieder mit der Frage beschäftigt, wer denn zu Trauerfeiern in die Kirche hineindarf. Besonders bewegt uns das dort, wo es auf Friedhöfen keine Trauerhallen gibt oder wo sie vielleicht zu klein oder nicht schön sind. Wieso eigentlich ist es keine Frage, wenn es um Kirchenglieder geht, die man zwar 30 Jahre nicht in der Gemeinde gesehen hat, die aber immerhin ihre Steuer bezahlt haben. Und wenn der Pfarrer sie beerdigt, ist doch alles in Ordnung. Haben die ein besonderes Anrecht auf die Kirche? Andererseits: haben andere, die sich durchaus dem Evangelium verweigert haben, kein Recht auf einen gnädigen Gott – und damit vielleicht auch auf eine gnädige Gemeinde? Mir ist wohl bewusst, dass manche ja sogar gegen die Kirche gekämpft haben. Aber schreibt nicht Paulus, dass wir alle – ohne Ausnahme – noch Sünder waren, als Christus schon für uns starb? Ich weiß wohl, dass die Frage so viel zu verkürzt gestellt ist. Aber bei dieser Kurzfassung können wir anfangen, neu darüber nachzudenken.
Im Grunde ist es auch nicht die Gebäudefrage sondern die Anfrage, wozu wir als Gemeinde, als lebendige Gemeinde aus lebendigen Menschen in dieser Welt da sind. Am Gebäude macht es sich nur äußerlich fest – und wird manchmal zu einem großen Streit, der doch das Eigentliche trefflich zudeckt. Denken wir nicht manchmal: damals haben die anderen uns ausgeschlossen – jetzt schließen wir sie aus? Zumal einige von damals ja immer noch gegen die Kirche sind. Wir sagen es nicht laut – aber schleicht es sich nicht manchmal in unsere Herzen ein? Neulich hat mal jemand in eben dieser Diskussion gesagt: Wie ist das eigentlich mit denen aus dem Dorf, die die Sanierung der Kirche – der Orgel, der Glocken, der Uhr oder was auch immer — unterstützen. Darf man die denn noch von ihrer Kirche ausschließen, für die sie doch gespendet haben, selbst wenn sie nicht zur Gemeinde dazugehören? Eine brisante Frage. Klar kann sich niemand in die Gemeinde Gottes einkaufen, sich die Seligkeit durch Geld- oder Sachspenden oder Arbeitszeit erwerben. Aber: Das gilt doch auch für Kirchensteuerzahler. Das Recht auf die Nähe Gottes haben wir, weil Gott uns dieses Recht gibt. Gnade heißt das in seiner Sprache.
Die Kinder im Tempel, die das Lied der Erwachsenen aufgeschnappt haben, singen es weiter. Sie haben den Streit nicht mitbekommen, kennen den Graben nicht, der sich zwischen Jesu Menschenfreundlichkeit und der religiösen Tradition auftut, mag sie jüdisch oder christlich sein. Und Jesus nennt ihr Lied gut. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, das Loblied der unbedingten Menschenfreundlichkeit Gottes anzustimmen, dann finden sich andere, die es singen, unbefangen und fröhlich. Mich macht das nachdenklich. Ich muss daran denken, wie Jesus in einem anderen Zusammenhang mal den Erwachsenen sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Reich Gottes hineinkommen.“ (Matthäus 18,3) Die Kinder singen unbefangen Gottes Lob. Sie preisen ihn, wo er sich den Ausgestoßenen zuwendet. Sie preisen ihn, auch wenn im Tempel vielleicht gerade wichtige Erwachsene zu wichtigen Themen diskutieren. Die Kinder preisen Gott, weil sie sich einfach über das Gute freuen, das geschieht. Und sie machen aus Bettlern Könige, aus Schmutzfinken Prinzessinnen und Prinzen in ihrem Spiel des Lobes Gottes.
Ob wir uns davon nicht auch heute etwas abschauen können? Natürlich: wir sind der Verantwortung für unsere Gemeinden nicht enthoben. Wir haben eine große Verantwortung dafür, dass in unseren Kirchen kein anderes, kein falsches Evangelium verkündigt wird. Das sind wir den Menschen um uns her schuldig, dass wir unseren Glauben deutlich sichtbar leben. Wir sind es ihnen schuldig, dass wir Jesu Tod und Auferstehung ernst nehmen und ehren, ihn anbeten und verherrlichen. Dazu gehören auch Regeln, Vereinbarungen, Orientierung. Aber können wir nicht spielerischer damit umgehen? Ein neues Lied, zu dem uns der Sonntag Kantate einlädt, ist das Lied der Freiheit der Kinder Gottes – der KINDER Gottes. Könnten wir nicht auch spielen, dass aus Bettlern Könige werden?
Warum sitzen in wichtigen Gottesdiensten so viele Ehrengäste auf den ersten Plätzen? Warum sitzen da nicht ein paar Tagediebe, drei Alkoholiker und fünf Penner? Warum bringt die keiner mit, gibt ihnen frische Kleidung, was zu Essen und zu Trinken? Das wäre doch mal was. Da würden sich auch die Zuschauer an den Fernsehbildschirmen die Augen reiben. Und in Trebnitz oder Gleina wäre es genauso zum Erstaunen.
Das Lied der Kinder, die im Spiel mehr begriffen haben als die Erwachsenen und die das Lob Gottes wirklich von Herzen singen und sich in seine Güte und Barmherzigkeit fallen lassen, das gehört in unsere Gemeinden hinein. Wir können und dürfen – und sollen solche Kinder Gottes sein. Dann hört man diese Musik auch in unserer Welt. Das alte Lied kennt jeder. Aber dieses Neue, dass Gott tatsächlich in unsere Welt gekommen ist, in Armut und Schuld, das müsste doch immer wieder erstaunen und auffallen. Und das kann unser Lied sein.