“Du bist ein Gott, der mich sieht.”
Gedanken zur Jahreslosung 2023
Sehen und gesehen werden. Das ist spätestens seit Facebook, Instagram, TikTok und Co. angesagt. Wer nimmt mich wahr? Damit ich gesehen werde, muss ich etwas dafür tun.
Ich poste ja auch gerne Sachen von mir. Zeige gerne, was ich Schönes gesehen habe. Oder was ich gepredigt habe. Und nicht immer weiß ich, ob ich das nun aus eher mitteilendem Interesse mache: “Hey, da müsst ihr auch mal hinfahren”, oder ob ich doch mehr gesehen werden will. Manchmal denke ich über die Frage ehrlich nach. Und manchmal hält mich das Nachdenken davon ab, gleich wieder etwas zu posten.
Sehen und gesehen werden. Das ist nicht erst heute so. Nur bekommen es heute mehr Menschen mit. Der Kreis der Sehenden und derer, die sie wahrnehmen, ist unglaublich angewachsen. Und das Tempo, mit dem Menschen sich darstellen und nach Likes gieren, nähert sich der Lichtgeschwindigkeit – sofern es das deutsch-langsam-schnelle Internet zulässt. Warum ist das so? Und wie geh ich damit um? Wer wird mich 2023 sehen? Und wem kann ich einen aufmunternden Blick zuwerfen?
Das Thema kommt nicht von ungefähr. Nicht nur weil es gesellschaftlich relevant ist, kam mir das für heute in den Sinn. Freikirchen, die katholische und evangelische Kirche haben die Angewohnheit, nicht nur Sonntage mit Namen und Bibelversen zu versehen. Sie gönnen sich auch für jedes Jahr ein biblisches Motto, die Jahreslosung. Die gibt es übrigens seit 1930. Erfunden hat sie ein schwäbischer Pfarrer, Otto Riethmüller. Damals ging es Riethmüller darum, den Naziparolen ein gutes Wort des christlichen Glaubens entgegenzusetzen.
Das Motto für dieses Jahr hat mit dem Sehen und Gesehen werden zu tun: „Du bist ein Gott, der mich sieht“, heißt es und stammt aus dem ersten Buch der Bibel (Genesis 16,13). Das ist also eine Entdeckung, die Menschen schon sehr lange begleitet. Was ist die Geschichte hinter dieser Jahreslosung?
Abraham und Sarah, wie sie später in der Geschichte heißen, hatten von Gott eine wirklich verrückte Ansage bekommen. „Ihr werdet Nachkommen wie Sand am mehr haben.“ Verrückt war das deshalb, weil Abraham bei der ersten Verheißung von Nachkommen 75 Jahre alt war (Genesis 12), Sara war 66. Bis dahin hatten sie keine Kinder! Und als Sara 76 ist, Abraham entsprechend 85, nimmt Sara die Sache mit der Verheißung selbst in die Hand. „Ich hab immer noch kein Kind und das wird auch nichts mehr, lieber Mann. Das gültige Familienrecht unseres Stammes lässt es zu, dass du mit unserer Sklavin ein Kind zeugst und es dann als dein und mein Kind gilt.“ So etwas klingt in unseren Ohren schon noch etwas schräg. Und obwohl heute die Leihmutterschaft nicht mehr so außergewöhnlich ist, bleibt es trotzdem noch eigenartig. Gesagt, getan. Abraham schläft mit der Sklavin Hagar und ein Kind entsteht.
Hagar war bis dahin ein Nichts. Nicht gesehen, nicht bemerkt, nur Arbeitskraft. Ihr Name drückt es aus. Man kann ihn verschieden deuten, aber er bedeutet unter anderem „die Fremde“. Also: Herkunft unbekannt. Oder der Name bedeutet so etwas wie „die Flüchtige“. Das hängt mit der weiteren Geschichte zusammen.
Vielleicht verflüchtigt sich auch alles, was sie ausmacht und am Ende löst sie sich selbst in Nichts auf?
Gesehen wird sie im Moment nur als Leihmutter, als ein Gefäß, das Abraham und Sara dazu dient, ein Kind zu bekommen.
Aber als sie schwanger wird, ändert sich das für einen Moment. Vor allem sie selbst nimmt sich vermutlich anders wahr. Sie ist jetzt ein wichtiger Mensch. Sie – und nicht Sara – bekommt ein Kind. Doch dieser aufrechte Gang verärgert Sara. Die Sklavin schaut auf die Herrin herab. Das darf nicht sein. Kurz und gut: Sara ist angepiept. Abraham überlässt Sara völlig den Umgang mit der Sklavin. Was auch kein feiner Zug ist. Und Sara hänselt und demütigt sie so lange, bis Hagar flieht.
Das kennen Menschen heute auch. Jahre lang werden sie nicht besonders wahrgenommen. Nur wenn man ihre Arbeitskraft braucht, dann sieht der Chef sie. Da reicht es vielleicht sogar zu einem freundlichen Wort: „Herr Schulze, ich habe da eine Aufgabe für sie.“ Geht aber auch kürzer und unfreundlicher: „Schulze, kümmern Sie sich darum!“
Corona hat die Lage für viele Menschen in den letzten Jahren, vor allem aber im ersten Jahr extrem verschlimmert. Die Menschen in den Krankenhäusern, in Seniorenheimen oder Pflegeeinrichtungen sind eh schon aus unserem Blickfeld geraten. Die Gesellschaft insgesamt nimmt sie kaum noch wahr. Corona hat dann aber regelrecht eine dunkle Decke über sie gelegt. Keiner kam mehr rein, keiner raus. Wie soll man sich noch an die Alten oder die Kranken erinnern, wenn man sie gar nicht mehr zu Gesicht bekommt?
Zum Glück gab es aber Menschen, die das bemerkt haben und es sind auch wunderbare Momente und Aktionen entstanden: Musik und Gesang vor den Fenstern mancher Stationen, liebevoll gepackte Grüße. Und einen Boom erlebten wohl WhatsApp-Bilder und Filmchen. Endlich hat so ein Mobiltelefon auch mal einen sinnvollen Nutzen.
Nur als Arbeitskraft wahrgenommen, in Heimen an den Rand gedrängt, aus anderen Gründen aus dem Blick geraten, überhaupt nicht mehr gesehen – es geht mehr Menschen so, als wir glauben. Und auch heute fliehen manche aus dieser Situation – in die Resignation. Sie werden übersehen und sie ziehen sich zurück. Doppelt schnell verschwinden sie, verflüchtigen sich – Hagar, die Flüchtige, die Fremde.
Menschen sind aber nicht für die Einsamkeit, fürs Alleinsein geschaffen. Wir brauchen Gemeinschaft. Gewiss unterschiedlich stark und in unterschiedlicher Gestalt, aber wir brauchen einander. Wer nicht mehr gesehen wird, geht kaputt. Wer dagegen wahrgenommen wird und ernstgenommen, der lebt auf. Kein Wunder also, dass Selfies boomen. „Ihr seht mich nicht? Wartet – ich zeuge euch was.“ Viele dieser Bilder sind eher peinlich. Viele sind extrem exhibitionistisch. Manche sind extrem professionell aufgepeppt. Aber alle haben nur ein Ziel: Schau mich an! Und reagiere auf mich. Gib mir ein Like, ein Herz, einen Daumen hoch! Meistens helfen die Likes aber nicht, weil sie sehr selten für echte Nähe und Gemeinschaft stehen. Eher schieben sie Menschen noch mehr ab in die Fremde, ins Flüchtige, in etwas, das sie nicht sind und nicht sein wollen – in die Maske hinein, die sie sich aufsetzen. Hagar hatte diese Möglichkeit nicht. Sie flieht real, läuft weg. Und landet an einem Brunnen.
Ein Engel „findet“ sie, heißt es in der Geschichte. Das finde ich wiederum bemerkenswert. Hat er nach ihr gesucht? Klingt so. Es heißt nicht: „Ein Engel traf sie, weil er zufällig da vorbeikam.“ Oder: „Gott schickte einen Engel zum Brunnen.“ Nein. Der Engel Gottes findet sie. Das ist irgendwie Absicht. Er sucht und findet die, die schon immer übersehen wurde und die sich nun selbst auch noch versteckt mit ihrer Flucht. Ein kurzes Gespräch entwickelt sich. „Wo kommst du her? Wo willst du hin?“ Und Hagar erzählt ihre Geschichte.
Standortbestimmung. Die ist von Zeit zu Zeit sehr wichtig. Vor allem dann, wenn man sich verlaufen hat. Wie bin ich hier überhaupt hergekommen? Der Blick auf den Weg kann weh tun – wie bei Hagar.
Und heute: Erst war die Arbeit weg, dann kam die Langeweile, die Angst vor der Armut, hier ein Gläschen, da eins mehr. Wo bin ich hergekommen? Was war gut? Und was hat mich ins dunkle Loch gebracht?
Hagar sagt es. Und der Engel hat einen Auftrag und ein Versprechen für sie. Der Auftrag ist ein bisschen grell und anstrengend, die Verheißung hat’s in sich. „Geh zurück!“ Puh. „Beuge dich unter Sara, deine Herrin.“ „Das meinst du nicht ernst, oder?“ „Doch! Vertrau mir.“
Was nun kommt, ist echt verrückt. Abraham und Sara – die haben diese Verheißung mit den unzähligen Nachkommen erhalten. Gott will aus ihnen etwas Besonderes, Einmaliges entstehen lassen – sein auserwähltes Volk Israel. Das ist bis heute ein besonderes Volk – in aller Not, die es erlitten hat und in allen Zeichen und Wundern, die sich immer wieder an Israel ereignet haben. Bis heute! Doch nun sagt Gott zu Hagar: „Ich werde deine Nachkommen so zahlreich machen, dass man sie nicht zählen kann.“
Moment. Die Fremde, die Flüchtige, die gerade dabei ist, sich zu verflüchtigen und für immer im Nirvana der Geschichte zu verschwinden, wird was? Ja, richtig gehört: Gott verheißt ihr Nachkommen, die unzählbar sein werden. Es gibt noch Unterschiede zu dem, was Gott Abraham verheißen hat. Aber das hier ist zumindest gleich. Noch dazu wird ihr Kind eher geboren werden als das Kind, das dann schließlich zu einem der Stammväter Israels wird. Sie zuerst bringt ein Kind Abrahams zur Welt.
Hagar ist überwältigt von dieser Zusage und dieser Aufgabe. Und ihr geht etwas auf, das durch die Zeiten die Erfahrung vieler Menschen geworden ist: Gott sieht mich. Ich dachte, ich bin ein Nichts, aber Gott sieht mich. Er sieht mich an. „Du bist ein Gott, der mich sieht“, so sagt sie es. Übrigens ist Hagar der erste Mensch, der Gott einen solchen besonderen Namen gibt.
Was mich beschäftigt, sind drei Beobachtungen.
Die erste: Gott sucht und findet mich. Das ist immer so. Das ist von Anbeginn der Zeit so. Adam und Eva verstecken sich im Garten Eden nach dieser blöden Geschichte mit der verbotenen Frucht. Aber Gott lässt sie nicht los. Er sucht sie aus ehrlichem, liebevollem Interesse (Genesis 3,9).
Gott sieht die Not der Israeliten, als sie in Ägypten versklavt sind. Er schaut hin, sieht, hört – und dann befreit er sein Volk. Exodus, die Befreiungsgeschichte der Israeliten schlechthin, bis heute gefeiert im Passafest – immer dann, wenn wir Christen Ostern feiern (Exodus 3,7).
Der gute Hirte – ein Bild für Jesus – sucht das verlorene Schaf und bringt es nach Hause. Er hätte es auch bleiben lassen können. Blödes Schaf, selber schuld. Aber nein: der Hirte sucht und findet es und bringt es nach Hause (Lukas 15,3–7).
Gott sucht und findet bis heute. Sogar die, die schon eine Weile zu ihm gehören und die sich doch immer mal verlaufen. Mich stößt er immer wieder mit der Nase drauf: „Hey, ich bin da. Ich steh dir zur Seite.“ Ich vergesse das nämlich auch mehr, als mir lieb ist. Ich verrenne mich gerne in meine Arbeit – ist ja auch eine tolle Arbeit. Ich fliehe aber auch gerne in Arbeit. Und manchmal scheint es mir, als ob Gott nicht hinterherkäme. Doch dann klopft er an und sagt: „Hey, hier steckst du. Ich muss dir was sagen. Ich bin da. Ich lieb dich und ich helfe dir. Erinnere dich mal wieder dran. Vergiss es nicht.“ Gott sieht mich.
Die zweite Beobachtung: Manchmal braucht es eine Standortbestimmung. „Wie bin ich hierhergekommen.“ Ehrlich vor mir selbst sein und ehrlich vor Gott sein. Ob wir davor zu oft Angst haben? Aber wenn ich mich neu orientieren will, ein Ziel erreichen will, muss ich wissen, wo ich gerade bin. Und es hilft auch, den Weg zu betrachten, der mich hierhergeführt hat.
Als drittes: Hör Gottes Zusagen einmal zu und nimm sie für dich in Anspruch! Die Bibel nennt das schlicht „glauben“. Ein ganzes Buch voller Zusagen Gottes haben wir vor uns. Und die gelten alle heute noch.
Am häufigsten steht darin die Aufforderung: „Fürchte dich nicht!“
Gott lässt sich durch nichts von dir abbringen. Du bist nicht zu klein, zu schwach, zu frech, zu brav, zu unscheinbar, zu laut, zu schräg. Egal, wie unsichtbar du dich im Moment auch fühlst, für ihn bist du nie unsichtbar. Fürchte dich nicht vor Gott!
Ein paar Zusagen aus der reichhaltigen Auswahl?
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43,1). „Ich stärke dich. Ich helfe dir. Ich halte dich fest.“ (Jesaja 41,10). „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.“ (Jeremia 29,13). „Wenn du in Not bist, rufe nach mir! Dann rette ich dich, und du wirst mich ehren.“ (Psalm 50,15 Basisbibel). „Alle eure Sorge werft auf Gott, denn er sorgt für euch. (1. Petrus 5,7). „Seid gewiss: Ich bin immer bei euch, jeden Tag, bis zum Ende der Welt.“ (Matthäus 28,20 Basisbibel)
Manche haben das, was sie mit Gott erlebt haben, auch als Bekenntnis formuliert. Das Bekannteste ist vielleicht der 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Zu Hagar und dem Gesehen werden passt auch gut der 139. Psalm: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Das waren nur ein paar der bekannteren Verheißungen. Es lohnt sich, Gottes Versprechen wieder zu entdecken und ihnen zu trauen.
Und was uns auch gut täte – und was viele ja auch tun und üben: Wenn wir uns gegenseitig sehen. Die Geschichte von Hagar lenkt unsern Blick auf Gott. Aber sie lenkt unseren Blick auch auf den Nächsten. Wir selbst könnten zu solchen Boten Gottes für andere werden. „Ich sehe dich an. Ich nehme dich wahr. Ich nehme dich ernst.“
Was erhebt das einen Menschen, wenn ich ihn wirklich wahrnehme, mir Zeit für ihn nehme. Und wie gut tut es zu spüren, dass einer seine Frage ernst meint: „Wie geht es dir?“ Und auch nicht lockerlässt, wenn ich einfach die Standartantwort gebe. „Gut.“ Weil er mehr sieht und spürt.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Danach sehne ich mich und ich strecke mich aus nach diesem Gott. Und ich will es weiter üben, andere zu sehen, sie wahr- und ernst zu nehmen. Wer weiß: Vielleicht können wir so füreinander zu Engeln werden.