Gottesdienst zum 11. November 2012
November – und der Herbst zeigt sich oft von seiner grauesten Seite. Während der Oktober oftmals den schönen Beinamen „der Goldene“ trägt, und das in diesem Jahr auch wieder ganz zu Recht, ist der November der Graue.
Die Blätter sind größtenteils schon von den Bäumen gefallen, ein paar wenige Standhafte schimmern noch farbig. Aber auch sie werden bald den Rest abwerfen. Die Sonne lässt sich seltener blicken und hat schon oft Mühe, sich durch die morgendlichen Nebelschleier zu kämpfen. Wärme bringt sie immer seltener mit. Regenschauer, Nieselregen, farb- und glanzloser Himmel. Grau ist der November.
Die wenigen kirchlichen Feiertage reihen sich zum Teil in dieses Grau ein. Zuletzt wird der Totensonntag begangen. Viele erinnern sich an diesem Tag noch einmal besonders an einen Menschen, den sie im zurückliegenden Jahr hergeben mussten. Eine Woche davor steht Volkstrauertag im Kalender. Der Blick geht zurück bis zu den beiden großen Kriegen im vergangenen Jahrhundert. Aber auch an die vielen Leidenden unserer Tage erinnern manche Gedenkveranstaltungen. Hass und Gewalt sind weit verbreitet, selbst in an sich friedvollen und reich beschenkten Ländern. Der Bußtag unterbricht zusätzlich den Alltag. An einem Mittwoch im Monat klingt dieses Schlagwort zumindest innerhalb der Kirche und erinnert daran: „Mensch, du bist selten ein Licht für deine Welt. Eher deckst auch du alles mit einem Grauschleier zu durch dein unklares Verhalten, durch manches böse Wort.“
Grauer, kalter November. Früh schon wird es dunkel in diesen Tagen vor langer Zeit, 340 Jahre nach der Geburt Jesu. Die Reiter der römischen Legion kehren in ihr Quartier im französischen Amiens zurück. Den Pferden dampft der Atem aus den Nüstern. Und ihren Herren legt sich der Nebel feucht auf die Schnurrbärte, die Augenbrauen und Wimpern. Feuchte Kälte kriecht in die Kleidung. Wohl dem, der einen Mantel um sich schlingen kann und von der Wärme des Reittieres ein bisschen abbekommt.
Unbemerkt von den dahin trottenden Reitern ist einer von ihnen mit seinem Pferd stehen geblieben. Etwas hat ihn aufgehalten. Das kümmert die anderen nicht, sie sind ja bald in ihrem Quartier. Und reiten sowieso in einer Art Trance vor sich hin. Die Gäule kennen den Weg. Der eine ist Martinus, ein Ungar, der seit Jahren in der römischen Legion dient und derzeit in Frankreich stationiert ist. Er hat im Novembergrau einen Bettler gesehen. Und er hat ihn nicht nur gesehen. Der Anblick des Bettlers bringt ihn dazu, sein Pferd anzuhalten. Und dann kommt die Tat, der Sankt Martin seinen Ruhm zu verdanken hat: Er teilt mit dem Bettler seinen Mantel.
Der Tag des Heiligen Martin ist einer der hoffnungsvollen Tage im Jahreskreislauf. Mitten im November, im Grau des Alltags spielt sich eine Geschichte ab, die Hoffnung weckt, die Wärme ausstrahlt, die Gleichgültigkeit und Resignation überwindet und die herausfordert.
Ein eigenartiges Bild habe ich entdeckt. Es zeigt Martin, wie er seinen Mantel teilt. Aber der Bettler fehlt auf dem Bild, er fehlt bei dieser Skulptur, die aus dem 15. Jahrhundert stammt. Versonnen blickt Martin auf die Stelle, an der der Bettler sein müsste. Sein Schwert hat den Mantel schon halb durchgeschnitten. Das Pferd will schon weiter traben, aber die Szene ist ja eingefroren. Was, wenn es diesen Bettler gar nicht gegeben hätte? Dann hätte die schöne Geschichte nicht stattfinden können. Martin steht da, und der Anlass seines Handelns ist weg. Dennoch teilt er den Mantel. Dennoch handelt er. Widersinnig?
Eine Ostergeschichte passt dazu, die genau dasselbe eigenartige Geschehen beschreibt: Die Hauptfigur verschwindet aus der Szene, von der Bildfläche, als die Geschichte an ihrem Höhepunkt ankommt. Die Rede ist von den Emmausjüngern (Lukas 24,13–35). Zwei Jünger, die vom Geschehen des Karfreitags entsetzt und bestürzt waren, sind auf dem Weg nach Hause, von Jerusalem nach Emmaus. Unterwegs gesellt sich ein Fremder zu ihnen. Der erklärt ihnen anhand vieler Beispiele, Verheißungen und Andeutungen aus dem Alten Testament, dass alles, was geschehen ist mit Jesus, genauso geschehen musste. Beim Abendessen, da erkennen sie in dem Fremden plötzlich Jesus selbst, dessen Tod sie eben noch betrauert hatten. Daran, wie er das Brot brach und dafür dankte, haben sie ihn erkannt. Und in diesem Moment verschwindet Jesus vor ihren Augen. Die drei Teller und Weingläser stehen noch auf dem Tisch, das Brot ist geteilt, aber der Sinngeber der Geschichte ist nicht mehr im Bild.
Die beiden Geschichten sind miteinander verwandt. Von Martin wird erzählt, dass er in der Nacht einen Traum hatte, der ihm die eigenartige Begegnung mit dem Bettler deutet. Jesus Christus erscheint in diesem Traum und macht Martin deutlich: „In diesem Bettler bin ich selbst dir begegnet.“ In beiden Erzählungen, der biblischen von den Emmausjüngern und in der Legende von Martins hilfreicher Tat, begegnet Jesus Christus einem Menschen und verändert in einem Augenblick sein Leben. Was mit Martin geschieht, erzählt seine weitere Lebensgeschichte. Er quittiert seinen Dienst in der römischen Legion. In Tours wird er zum Bischof gewählt. Von seinem Handeln erzählen heute viele Geschichten. Nur noch einen Herrn kennt er: Jesus Christus. Und er lässt sich das Vorbild Jesu zum Vorbild für sein eigenes Leben werden. Ein Augenblick genügte, in dem er für einen Moment Jesus in die Augen gesehen hat – in den Augen des unbekannten Bettlers vor Amiens -, und er wird ein anderer.
Heute kennen viele Menschen Sankt Martin. Selbst Vereine, die mit Kirche gar nichts zu tun haben, haben ihn als willkommenen Anlass entdeckt, in den tristen Herbsttagen ein Fest zu feiern, bei dem man noch einmal Lagerfeuer und Budenzauber veranstalten kann. Oft ist die Kirche mit dieser Geschichte beteiligt, manchmal läuft’s ohne die Institution. Mir kommt es so vor, als ob der Bettler aus unseren Geschichten und Feiern auch gelegentlich verschwunden ist. Wohl steht da noch die vorbildliche Einzeltat des römischen Soldaten vor Augen. Schließlich reitet er auch heute hoch zu Ross durch die Straßen und führt Laternenumzüge an. Aber der Bettler spielt nur eine Nebenrolle. Im Umzug taucht er nicht mehr auf. Und dass durch ihn Jesus Christus das Herz dieses frühen Ritters berührt hat, wird nicht einmal überall zusammen mit der Geschichte erzählt.
Mich macht das nachdenklich. Wo ist eigentlich der Blick, der Augen-Blick, der mein Leben verändert? Wo schaue ich so in die Augen Jesu, dass hinterher nichts mehr ist, wie es war? Welche Begegnung verändert mich so sehr, dass das sogar andere merken?
Als erstes lerne ich dabei von Martin: Halte Ausschau nach solchen Momenten und sei bereit, für einen Moment stehen zu bleiben! Im Bild ohne Bettler verhält sich das Pferd wie gewohnt. In seinem üblichen Trott will es weitergehen. Das ist unser Alltag. Der geht ständig weiter und lässt sich nicht anhalten. Regelmäßige Termine erfordern, dass ich mit ihnen mithalte. Ob das der wöchentliche Termin ist, an dem ich die Infos für die Zeitung abgeben muss, ob das Veranstaltungen sind, die zu meinem Beruf gehören – es geht gleichmäßig und ungebremst weiter. Die alltäglichen Notwendigkeiten sind auch so ein weitertrabendes Pferd. Der Einkauf fürs Essen muss ja erledigt werden. Und wenn die Straße voller Laub liegt, muss gekehrt werden. Unser Alltags-Pferd trottet ständig weiter, und oft fehlt uns die Chance, so in die Zügel zu greifen, dass der Gaul wirklich einmal stehen bleibt.
Martin hat es für einen Moment geschafft. Zwar hebt das Pferd schon den Fuß, aber er ist noch mit seinem Blick bei dem Bettler. In unseren Tagen kann das vielleicht ein Bibelwort sein, das uns beim Frühstücksgebet trifft. Das kann ein Gedanke sein, der uns im Gottesdienst kommt. Das kann auch eine Krankheit sein, die uns regelrecht von unserem davon galoppierenden Ross reißt. Das kann die Not eines anderen sein, genauso wie ein glücklicher Moment, der uns dem Grau des Tages enthebt. Stellen wir uns einer solchen Gelegenheit? Lassen wir uns anhalten, um genauer hinzusehen?
Die Frage können wir ja sogar an unsere Gemeinde stellen. Sie kennen gewiss die sieben letzten Worte der Kirche? „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Der kirchliche, gewohnte, traditionelle Trott kann nämlich auch zu diesem dahin schreitenden, müden Gaul werden, der sich nicht mal umdreht, sondern immer nur in seinen gewohnten Bahnen vor sich hin latscht. Dabei sind es nicht die kirchlichen Gewohnheiten, die uns den Bestand der Kirche garantieren, sondern es ist der lebendige Gott, der auch Veränderungen schafft, der sich nicht auf einen Weg, auf ein Bild, auf eine Tradition festlegen lässt. Auch in der Gemeindearbeit einmal stehen bleiben, innehalten, einen Mantel teilen und dann etwas Neues anpacken.
So lerne ich bei Martin auch ein Zweites: Er bleibt nicht bei seinem mildtätigen Ausrutscher stehen. Hätte ja auch so sein können: Martin, in einer Anwandlung von Mitleid, die einem römischen Soldaten nicht gut steht, hat seinen Mantel geteilt. Er zieht sich den Spott seiner Kameraden zu und verteidigt sich: „Ja, der Bettler hat mir in dem Moment leid getan. Aber Morgen jagen wir dieses Pack von der Straße.“ Das wäre eines Kriegers durchaus angemessen gewesen, vor allem, wenn er sich für sein weiches Herz vor seinen kampferprobten Kumpanen rehabilitieren muss.
Martin nicht. Sein Zögern beim Anblick des Bettlers bleibt kein einmaliger Ausrutscher. Wie er da so sinnend auf seinem Pferd sitzt, ist sein Entschluss schon gereift: Es muss, es soll, es wird ab jetzt anders werden. Er hört im Herzen den Satz, den Jesus oft zu Menschen gesagt hat: „Folge mir nach.“ Ein Petrus ließ daraufhin seine Fischernetze liegen und ging mit Jesus mit. Ebenso machten es Andreas, Johannes und Jakobus, die ersten Jünger, von denen die Bibel erzählt (Markus 1,16–20). Matthäus gibt seinen Job als Zollbeamter auf. Ein guter Job war das, mit ordentlich selbst bestimmten Einkommen (Lukas 5,27–32). Der blinde Bartimäus fällt nicht in seinen Betteltrott zurück, nachdem er von Jesus seine Sehkraft zurückbekommen hat. Er zieht mit Jesus durch Israel (Markus 10,46–52). „Folge mir nach!“ Für den Soldaten Martin hieß das: kündigen bei der Armee und Pfarrer, Priester, Bischof werden, sich in den vollzeitigen Dienst in der Gemeinde einspannen lassen.
Ist unser christliches Leben manchmal vielleicht eher eine Aneinanderreihung von gelegentlichen christlichen Ausrutschern? An Heilig Abend wird wieder so mancher in die Kirche rutschen – hoffentlich nicht wörtlich zu nehmen – der das ganze Jahr über den Jesus wohlverpackt auf dem Dachboden lagert und nur im Dezember auspackt. Ein nostalgischer, romantischer Ausrutscher, und möglicherweise ohne Bedeutung. Aber das ist ja nur das augenfällige Beispiel.
Das andere Extrem ist ja vielleicht der Pfarrer oder auch ein ehrenamtlich Mitarbeitender, der sich für die Kirche ein Bein ausreißt. Täglich sitzt der Pfarrer an seinem Schreibtisch und produziert – in gewohntem Trott – geistliche Veranstaltungen. Geistlich? Oder nur noch traditionell? Die Grenze mag fließend sein. Wagen es auch erfahrene, gestandene Christen, Berufschristen und Ehrenamtschristen, ihrem durchaus ehrwürdigen Traditionsgaul mal in die Zügel zu greifen? Mir geht es schon so, dass ich den genauen Blick zur Seite vergesse – oder dass dieser Blick mich nur für einen Moment gefangen nimmt ohne etwas zu verändern – obwohl ich ahne, dass da am Wegesrand meiner christlichen Gewohnheiten der wahre Christus steht.
Christsein, Jesus Nachfolgen, das ist kein Ausrutscher, der uns mal passiert. Jesus will uns verändern, von Grund auf. Er will unseren Alltag ändern. Was auch immer der kurze Blick auf den Bettler am Lebensrand unseres Lebens sein mag – dieser kurze Blick, den Gott uns gewährt, zu dem er uns einlädt, will Folgen haben. Das ist, ich gebe es zu, ein ganz anderer Blick auf den Sankt Martin, der uns doch so vertraut geworden ist mit seiner wunderbaren Geste der konkreten Hilfe. Deswegen reitet uns auch nach dem Gottesdienst kein Heiliger auf dem Pferd vorneweg und wir wandern auch nicht mit Laternen hinterher. Die wunderbare Geste Martins will uns tiefer blicken lassen auf ein Leben, das von Gott vollständig verwandelt wurde. Und das soll unser Leben sein. Der sich da völlig umgestalten und in sein Leben, seine Karriere, seinen Trott, seinen Alltag hineinreden lässt, das sollen wir sein. Um nichts weniger geht es bei dem Blick auf einen Heiligen. Wenn uns Sankt Martin in dieser Weise ansteckt, dann stecken wir mit ihm unter einer Decke – und das wäre ein wunderbares Ereignis.
Amen.
Foto aus: image Gemeindebriefmaterial 9/2012 (Martinsfiger 15. Jh., Magdeburg, Skultpurenpark)