Wer ist denn mein Nächster? Und was fange ich mit ihm an?
Gedanken zu einer altbekannten Geschichte.
Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis 2022
Lukas 10,25–37
Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Predigt
Was für ein Mensch, dieser Samariter. Der traut sich was. Das muss man sich vorstellen. Auf der unübersichtlichen Straße durch Berg und Tal sind nun einmal Räuber. Sie kommen wie aus dem Nichts, verprügeln einen einsamen Reisenden und verschwinden wieder. So war es ja geschehen. Aber der Samariter bleibt dennoch stehen. Nein, er gafft nicht nur. Er leistet erste Hilfe. Er unterbricht seine eigene Reise. Dabei hatte er vielleicht auch einen engen Zeitplan. Und gewiss wäre er froh, wenn er diese gefahrvolle Strecke schon hinter sich hätte. Naja. Wir kennen die Geschichte. Vielleicht sogar zu gut, als dass sie uns noch etwas sagen könnte.
Zurück zum Anfang. Auch wenn die Geschichte fast jeden Tag so geschehen sein könnte – Jesus erzählt sie als Gleichnis. Sie ist die Antwort auf die Frage: „Wer ist denn mein Nächster?“ Und die wiederum kommt aus einem kurzen Gespräch Jesu mit einem Gesetzeslehrer. Gemeint ist einer, der sich in der Tora, den Schriften und Prophetenbüchern auskennt. Das beweist er sogleich, als Jesus ihn fragt, was er aus dem Gesetz kennt. „Was liest du?“ Also: „Was meinst du selbst denn, wie der Weg zum ewigen Leben aussieht? Was ist wohl das, was Gott am meisten ehrt und worin man alle seine Gebote und Wegweisungen erfüllt?“ „Gott lieben – von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft und ganzem Gemüt. Und: deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das war ja einfach. Mach das und alles ist gut!
Ich bin überrascht, dass der Schriftgelehrte den größten Block aus seiner eigenen Antwort gar nicht mehr bedenkt im kurzen Nachgespräch. Mit Gott scheint ihm alles klar zu sein. Er stürzt sich ganz auf den Nächsten. „Wer ist mein Nächster?” Und Jesu Antwort bleibt ganz bei dieser Frage.
Wäre nicht erst einmal zu klären, wie das mit der Liebe zu Gott ist? Ich meine: da stehen gleich vier Herausforderungen: von ganzem Herzen lieben, von ganzer Seele lieben, mit aller Kraft lieben, mit meinem ganzen Gemüt lieben.
Manchmal verzweifle ich an jeder einzelnen dieser vier Herausforderungen. Wie voll ist mein Herz mit anderen Dingen? Gerade vor Kurzem stieg mal wieder die Kommunikationstechnik aus. So etwas nervt mich. Ich bilde mir ein, dass ich ausreichend minimal Ahnung habe und dann hänge ich stundenlang dran, bis der Kram wieder flutscht. Meine Seele? Oft ist sie gut gelaunt, aber sie kennt Höhenflüge und tiefe Täler – zu mancher Zeit spielt sie Achterbahn. Überschaubar meist, aber ein still ruhender See, ganz und eins ist sie oft nicht. Mit aller Kraft? Das ist wie beim Herzen. Meine Kraft ist aufgeteilt. Alltägliches, Außergewöhnliches oder Spontanes bekommt seinen Anteil an Kraft. Und dann gibt es immer diesen einen Punkt: „Ach Mist, das muss ich auch noch machen.“ Gott? Ja, ein Teil ist auch für ihn. Gemüt? So wie die Seele spielt das Gemüt sein eigenes Spiel. Ganz ist es halt nicht immer. Darüber hätten Jesus und der Schriftgelehrte mal reden sollen.
Ist die Frage nach dem Nächsten ein Ablenkungsmanöver, um nicht über die Beziehung zu Gott nachdenken zu müssen? Oder führt sie gerade zum Kern? Für uns klingt dieses doppelte Gebot – Gott lieben, den Nächsten lieben – wie eins. So taucht es in den Evangelien auf, immer zusammen. Aber in der Tora, in den fünf Büchern Mose, stehen die beiden weit auseinander. Gott lieben – das wird im 5. Buch Mose gefordert (Deu 6,5). Und den Nächsten lieben findet sich im 3. Buch Mose (Lev 19,18). Also muss man die erst einmal zusammenbinden. Bei Matthäus, Markus und Lukas aber ist es klar, dass die beiden Gebote zusammengehören. Gar keine Frage mehr.
Geht die Liebe zu Gott nur durch die Liebe zum Nächsten? Das ist wohl zu eng geführt. Aber gewiss geht die Liebe zu Gott nicht ohne die Liebe zum Nächsten. Der Apostel Johannes bringt das sehr klar auf den Punkt. In seinem 1. Brief im 4. Kapitel schreibt er:
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe. (1. Johannes 4,19–21)
Und was sagt Jesus dazu? „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Zuvor hatte Jesus ein Gleichnis erzählt. Zwei Gruppen von Menschen stehen da. Die einen haben ihn, Jesus, gespeist als er hungrig war. Sie haben ihm zu trinken gegeben. Sie haben ihn, den Fremden, bei sich aufgenommen. Sie haben ihm Kleidung gegeben. Sie haben ihn besucht, als er krank oder im Gefängnis war. Die andere Gruppe hat das alles nicht getan. Und die Menschen wundern sich – auf beiden Seiten. „Wann? Wo? Wie haben wir das alles getan? Daran erinnern wir uns gar nicht.“ Die Antwort: Was ihr andern getan habt, habt ihr mir getan. (Matthäus 25,31–46)
Ob der Schriftgelehrte, ob wir die Tragweite der Frage erkennen? Wer ist mein Nächster? Ob wir die Tragweite der Antwort Jesu begreifen? Wem werde ich zum Nächsten? Da kommt mir Gott entgegen – in dem Menschen, der mir gerade begegnet. Und diese Menschen können so unterschiedlich sein. Manchmal rattern in unseren Köpfen und Herzen die Fragen und Vorbehalte auch gleich los. Was durchaus verständlich ist. Wir haben unsere Erfahrungen.
Kurz zurück zum Samariter. Warum geht der nicht auch weiter? Ich vermute, dass es damals noch kein Gesetz über unterlassene Hilfeleistung gab, so wie wir es heute haben. Wir sind zur Ersten Hilfe verpflichtet. Und das nicht nur, wenn wir gerade frisch einen Erste-Hilfe-Kurs besucht haben. Nein. Jede und jeder muss nach den Möglichkeiten helfen, die einer hat.
Der Samariter könnte ja auch die Frage stellen, warum dieser Mensch alleine so eine gefährliche Strecke gegangen ist. Mensch! Das weiß doch jeder, dass es hier Räuber gibt. Oder wilde Tiere. Oder dass mal ein Felsbrocken runterkracht. Da geht man doch nicht alleine. Selber schuld!
Ist der Raser auf der Autobahn nicht selbst schuld? Vor Jahren sagte mir mal ein Freund, als er mit dem Auto kräftig aus der Kurve geflogen war (zum Glück gab’s nur Blechschaden): „Ich bin zu langsam gewesen.“ Er hielt sich für einen Moment wohl für Walter Röhrl – der war damals der Rallyefahrer schlechthin – bewundert von uns frischgebackenen Führerscheininhabern.
Der Samariter fragt nicht. Er geht nicht vorbei. Anders als die beiden Negativbeispiele. Irgendwie haben die nur Gott im Sinn, den Nächsten aber nicht. Kann man zu fromm sein, um den Nächsten in seiner Not zu sehen? Was aber tut der Samariter? Jesus fasst es mit einem Wort zusammen, das uns im kirchlichen Jargon sehr vertraut ist: Barmherzigkeit.
Das ist ein so großes Wort. Barmherzigkeit ist etwas, das unser Herz mit Gottes Herz verbindet. Gott selbst ist barmherzig. Manchmal reden wir ihn so an: „Barmherziger Gott“. Und wir erahnen oft nur wenig, wie viel das wirklich bedeutet. Gottes Herz brennt für uns. Wir sind seine große Liebe. Er erbarmt sich über uns, er wendet sich uns zu. „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten“, heißt es im 103. Psalm (V. 13)
Wie groß muss unser Erbarmen sein, damit wir da überhaupt rankommen? Vielleicht schreckt uns das ab. Überfordert uns Gottes Erbarmen etwa? Aber dann lese ich, was der Samariter getan hat und was Jesus alles unter Erbarmen oder Barmherzigkeit fasst.
Das Erste: Der Samariter sieht den, der überfallen wurde und die Not des Überfallenen jammert ihn. Da beginnt es! Sehe ich meinen Nächsten? Sehe ich den Menschen, an den Gott mich weist? Und lasse ich mir seine Angelegenheit zu Herzen gehen? Barmherzigkeit ist: Der andere Mensch liegt mir am Herzen und ich lasse mein Herz von ihm berühren. Traue ich mir so viel Nähe zu? Erlaube ich mir so viel Nähe durch einen anderen Menschen? Der muss mich noch nicht mal angesprochen haben dafür. Bin ich ihm schon so nah, meinem „Nächsten“?
Was macht der Samariter weiter? Öl und Wein gießt er auf die Wunden des Verletzten und verbindet ihn. Er lindert mit den Mitteln, die er hat, die Not. Manchmal frage ich mich, ob das reicht, was ich kann und habe. Nicht nur, wenn mal ein Erste-Hilfe-Fall eintritt. Und ich entdecke: Ja, es reicht. Das, was ich kann und habe – und sei es noch so unzureichend – ist mehr als das, was mein Nächster gerade hat. Also reicht jede kleinste Gabe, jede kleinste Fähigkeit.
Der Samariter hebt den Verletzten auf sein Reittier und bringt ihn zur Herberge. Barmherzigkeit ist so etwas Einfaches und Geringes wie das. Ich gehe ein Stück auf dem Weg des anderen. Ich gehe mit ihm ein paar Schritte weit, ein paar Schritte weiter, als ich vorhatte.
Im Buch Rut wird von eben dieser Rut erzählt und von ihrer Schwester Orpa und ihrer Schwiegermutter Noomi. Letztere will nach dem Tod ihres Mannes und ihrer beiden Schwiegersöhne aus dem Land Moab zurück in ihre Heimat Juda. Ihre beiden Schwiegertöchter, Moabiterinnen, begleiten sie bis zur Landesgrenze. Dort bedankt sich Noomi für die Barmherzigkeit, die die beiden an ihr getan haben. Was das war? Sie haben sie begleitet. Sie sind einfach nur einen Weg mitgegangen. Das ist so etwas Großartiges, dass Noomi es Barmherzigkeit nennt.
Zuletzt kümmert sich der Samariter um eine gute Hilfe für den Verletzten. Hier kommt etwas ins Spiel, was gut zu dem kleinen Nachsatz im Liebesgebot passt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das heißt, achte auch auf dich. Schau auf deine Kräfte und setze sie ein. Und kenne auch die Grenzen deiner Kraft und Möglichkeit. Natürlich können und sollen wir Gott auch bitten, dass er uns schenkt, was uns an Kraft fehlt. Gott lässt uns über uns hinauswachsen. Aber dabei überfordert er uns nicht. So sollten wir das auch selbst nicht tun.
Der Samariter war auf seiner eigenen Mission unterwegs. Der hatte auch ein Reiseziel, eine Aufgabe. Und so kann er nun die Hilfe delegieren. Er ist nicht allein. Das mit der Ersten Hilfe ist mir hier auch eine Hilfe zum Verstehen. Vielleicht habe ich keine Kraft, um einen Verunglückten aus dem Auto zu bergen. Aber vielleicht habe ich ein Mobiltelefon und kann die Rettungsleitstelle anrufen. Vielleicht weiß ich nicht mehr – oder bin zu aufgeregt – wie ein Verband angelegt wird. Aber ich habe eine Decke im Auto und kann sie als Kopfkissen zur Verfügung stellen.
Wozu reichen meine Fähigkeiten? Keine ist zu klein. Barmherzigkeit heißt: Ich lass mir Fantasie und Mut schenken. Ich spüre in meinem Herzen die Not. Ich lasse mich berühren. Und ich handle nach meiner Kraft. Und alles davon ist im Tiefsten göttlich. Es ist Gottes Art zu handeln. Nur ist meine Kraft eingeschränkt. Er aber tut und gibt alles. Seine Liebe kennt keine Einschränkung.
Ein Gedanke noch. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Kann ein Mensch lieben, der selbst keine oder wenig Liebe empfangen hat? Kann ein Mensch barmherzig sein, der keine Barmherzigkeit erlebt hat? Warum wird einer zum Kriegstreiber ohne Erbarmen? Warum gehen Menschen voller Hass auf die Straße oder auf die virtuellen Marktplätze im Internet? Ich ahne nur: Vieles von dem, was Menschen einander antun, hängt auch damit zusammen, wie viel oder wenig Herzlichkeit sie empfangen haben. Herzen werden nicht von sich aus kalt. Sie erfrieren, wenn sie keine Wärme entgegengebracht bekommen.
Gott kommt uns mit seiner Liebe und großen Barmherzigkeit entgegen. Das ist zuerst unsere größte Chance, ein warmes, weiches Herz zu bekommen. Schauen wir uns Gottes Erbarmen jeden Tag neu an. Er setzt alles, sein ganzes Herz, seine ganze Liebe, sein ganzes Leben für uns ein. Alles! Für uns! Wenn das unser Herz erwärmt, dann können wir diese Barmherzigkeit weitergeben. Und auf diese Weise werden wir zu Wärmespendern. Wenn wir Gottes Liebe empfangen haben und ausstrahlen, haben andere Herzen die Möglichkeit aufzutauen.
Wer ist mein Nächster? Der, der mir gerade begegnet. Die, die mir im Herzen sind und die Gott mir aufs Herz legt, auch in der räumlichen Ferne. Die, an die ich gerade denke. Und das können auch die sein, die mir gerade einen Schrecken einjagen und über die ich den Kopf schüttele. Wenn sie mir in den Sinn kommen, sind sie meine Nächsten. Die Liebe, dich ich diesen Nächsten zeige, ist Teil der Liebe, mit der ich Gott liebe. Und sie ist ein Weg zum Leben – schon in dieser Welt.