Predigt zu Offenbarung 5,1–14
Advent – die Zeit der großen Hoffnungen und Erwartungen. Vier Wochen bis Weihnachten. Die Lichter in den Vorgärten und Fenstern leuchten wieder. Weihnachtsbäume auf Marktplätzen erhellen die Orte, Weihnachtsmärkte laden zum Bummeln und genießen mit allen Sinnen ein. Angebote flattern ins Haus, damit wir mit Geschenken auch die Erwartungen erfüllen können. Heute kaufen, nächstes Jahr erst bezahlen und so weiter. Vergessen geht dabei, dass der Advent nicht nur die Spannung auf Weihnachten und die Geschenke steigert, sondern auf ein Drama mit kosmischen Ausmaßen hinweist. Von diesem Drama erzählt Johannes in seiner Offenbarung. He, werden da manche sagen. Offenbarung, das ist doch erst in der Zukunft, oder? Neue Welt Gottes und so …
Advent, das geht aber doch auf eine alte Geschichte zurück, eben die Geburt von Jesus. Allerdings hat die Adventszeit in der Kirche immer einen dreifachen Sinn.
Erstens erzählt sie natürlich die Geschichten der Vergangenheit: Wie die Propheten Israels auf die Ankunft und die Art des Messias hingewiesen haben, wie das Anfing mit Maria und Josef, und Heiligabend dann die Geburt von Jesus im Stall von Bethlehem.
Aber schon ihr zweiter Sinn geht über die Erinnerung hinaus. Darauf weist die liturgische Farbe hin. Im Advent liegt auf den Altären nicht weiß oder rot oder grün – das liegt ja meistens auf. Im Advent haben die Altäre violette Decken oder Behänge, Paramente genannt. Violett als Zeichen der besonderen Vorbereitung auf ein Ereignis, ein Symbol für Umkehr, Einkehr, Buße und Erneuerung. So, wie Jesus damals zu den Menschen in Israel kam, will er zu jedem Menschen in jeder Zeit kommen. Glauben musst du selbst, sagt uns der Advent. Jesus, der ist etwas für dich heute. Beschränke den nicht auf die alten Geschichten.
Und dann gibt es noch das Dritte, das im Advent wieder wichtig ist und wach gerufen wird: Jesus wird sichtbar auf diese Erde zurückkommen. Er selbst hat das in manchen seiner Reden angedeutet und vorhergesagt. Und die ersten Jünger, die von ihm erzählten, haben das weitergetragen. Johannes schließlich hat es in seiner Offenbarung in fantastischen Bildern beschrieben. Advent: Gott kommt zu euch – und zu seiner Zeit wird er dabei die ganze Erde verwandeln.
Ein Teil dieses kosmischen Geschehens, auf das der Advent auch hinweist, steht in Offenbarung 5:
Offenbarung 5,1–14
1 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.
4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.
5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.
7 Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
8 Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen,
9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen
10 und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.
11 Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war vieltausendmal tausend;
12 die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.
13 Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!
14 Und die vier Gestalten sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.
Wer ist würdig, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen? Das wäre ja fast schief gegangen. Was schon sehr verwundert, oder? Da stehen vieltausend mal tausend Engel um den Thron Gottes – alles ehrfurchtgebietende Gestalten, denke ich mir. Diener Gottes ohne jeden Makel, ohne jeden Fehler – und keiner von ihnen darf dieses geheimnisvolle Buch öffnen? Wer denn dann, wenn schon nicht die Engel? Niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, ist würdig, dieses Buch zu öffnen.
Das passiert uns ja manchmal auf Erden, im Bild gesprochen. Liegt dann aber weniger an der fehlenden Würde. Manchmal begegnen uns Dinge, die für uns wie ein Buch mit sieben Siegeln sind. Wir blicken nicht dahinter.
Für einige ist der ganze Elektronikschnickschnack unserer Zeit ein Buch mit sieben Siegeln. Wie kann es sein, dass so viele Fotos, wie ein Mensch in seinem Leben auf Papier knipsen kann, plötzlich auf ein Stück Plastik passen, das so groß ist wie ein Daumennagel? Ein Buch mit sieben Siegeln. Oder wie funktioniert das eigentlich mit dem Geld? Wie kann man Geschäfte machen mit Geld, das gar nicht vorhanden ist, mit Waren, die es noch gar nicht gibt, und sogar mit dem Verlust von Geld oder Waren? Das geht doch gar nicht, oder doch? Ein Buch mit sieben Siegeln. Irgendwelche Menschen blicken dann doch durch und machen’s möglich.
Nicht so im Himmel. Da kommt nicht irgendein Mensch an. Es kommt – ein Lamm. Geübte Predigthörer und Bibelleser wissen schon: Dieses Lamm ist das Lamm Gottes. Johannes der Täufer hat einmal ganz am Anfang der Geschichte von Jesus über diesen Jesus gesagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ (Johannes 1,29) Er redet da ganz im Denken und in der religiösen Tradition seiner Zeit und spricht von einem Opferlamm, mit dem die Beziehung zwischen Mensch und Gott wieder ins Reine gebracht wird. Schon lange vor dieser Aussage von Johannes reden die Propheten Israels von dem Lamm Gottes. Die christliche Kirche hat diese alten Verheißungen und Prophezeiungen auf Jesus Christus hin gedeutet. Jesus Christus also, der Sohn Gottes, der Mensch und Gott in einem vereint, ist allein würdig, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen.
Verwirrend ist allerdings, dass er nicht nur als Lamm beschrieben wird, sondern auch als Löwe aus Juda. Auch das eine alte Verheißung. Als der Stammvater der Israeliten, Jakob, stirbt, segnet er zuerst noch seine Söhne. Das sind die, die den Stämmen des Volkes Israel ihre Namen gegeben haben: Ruben und Simeon, Sebulon, Gad, Asser und wie sie alle heißen. Einer davon ist Juda. Aus diesem Stamm Juda kam lange nach Jakobs Tod König David. Im Gebiet Judas lag und liegt die Hauptstadt Jerusalem mit dem Tempel. Von ihm tragen noch heute die Juden ihren Namen. Der alte Jakob hat für jeden seiner Söhne ein besonderes Segenswort übrig. Und über Juda sagt er: „Juda ist ein junger Löwe. … Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen.“ (1. Mose 49,9*.10) Das deuteten die Juden auf die immer währende Herrschaft des Königshauses von David und übertrugen es auf ihre Erwartung eines Messias, eines Befreiers vom Joch der Völker, die sie unterdrückten. Zurzeit Jesu warteten die Juden auf einen solchen Befreier, der die Römer aus dem Land werfen sollte. Gar mancher politische Messias war gleichzeitig mit Jesus im Land unterwegs – und alle hatten den Anspruch, dieser kraftvolle und siegreiche Löwe Judas zu sein.
In seinem bildgewaltigen himmlischen Drama setzt Johannes nun Löwe und Lamm gleich in einer Person: Jesus selbst ist es, der von David und letztlich von Juda abstammt. Er allein regiert in Ewigkeit. Aber anders, als alle sich das dachten. Er regiert, in dem er sich für die Menschen opfert. Er übt seine Herrschaft aus, in dem er auf seine Macht als Sohn Gottes verzichtet und als kleiner, ohnmächtiger Mensch im Stall von Bethlehem geboren wird. Er lässt sein Leben für seine Menschen wie ein Opferlamm. Am Ende der Zeiten aber kommt beides wieder zusammen: das scheinbar ohnmächtige Opferlamm ist der Retter der Welt und wird zum Herrscher der Welt, zum Löwen. Und er allein bestimmt den Fortgang der Welt, bestimmt das Ende der Zeiten und das Geschick des Kosmos, indem er dieses Buch mit den sieben Siegeln öffnet.
Ein überwältigendes, unvorstellbares Drama, das sich im Himmel abspielt – verborgen vor unseren Augen und auch gar nicht vorzustellen. Und das zum Auftakt der Adventszeit, die uns doch so greifbar ist und uns mit ihren Lichtern und dem Glanz, mit ihren Gerüchen und Geschmäckern und all ihren Klängen sinnlich so nah ist, wie kaum etwas anderes. Hat uns die Geschichte aus dem Himmel, die uns trotz allem ja noch ein Buch mit sieben Siegeln ist, trotzdem etwas zu sagen? Oder ist sie nur fantastische Literatur – und wir gehen nach dem Gottesdienst doch wieder zur Tagesordnung über?
Diese Geschichte könnte unsere Erwartungen an die Zukunft, an Gottes Zukunft neu entfachen: Mir sagt sie: Die Rätsel und ungelösten Fragen unseres Lebens werden nicht unbeantwortet, nicht ungelöst bleiben, auch wenn sie jetzt noch wie ein Buch mit sieben Siegeln für uns sind. Gerade vor einer Woche haben wir den Ewigkeitssonntag gefeiert und der Verstorbenen gedacht. Die Frage nach dem Warum hat manchen Angehörigen noch einmal bewegt. Diese und viele andere Warum-Fragen lassen uns in dieser Welt nicht los, warten auf eine Antwort. Manches geschieht, das so sinnlos zu sein scheint. Und wir hoffen, dass manches in unserem Leben, das wir heute noch nicht deuten können, doch einen Sinn haben möge, einem Ziel dienen möge, das gut ist. Ungerechtigkeiten bestehen auf unserer Erde – und sie können nicht aufgelöst werden. Manches, vielleicht vieles bleibt ungerecht, trotz aller ehrlichen und gut gemeinten Anstrengung. Wir sehnen uns nach Gerechtigkeit und wissen selbst oft auch keine Lösung. Es mag auf einer Seite etwas gut werden – aber der Preis ist doch oft eine neue Ungerechtigkeit auf der anderen Seite.
Es ist zum Heulen, zum Verzweifeln. Wer wollte diesen Johannes, der da weint, „weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen“, nicht verstehen? Mir erweckt dieses Bild aus der Offenbarung die Hoffnung wieder neu, dass keine Frage unbeantwortet bleibt und alles in unseren Leben seinen Sinn finden wird. Aber die Antworten kann nur einer geben, den Sinn, den Sinn des Lebens kann nur einer geben. Wir können uns die Antworten und den Sinn nicht basteln.
Ich musste an die Seligpreisungen (Matthäus 5) denken, in denen Jesus ja gerade Menschen glücklich preist, die mitten in solchen ungelösten Warum-Fragen stecken.
4 „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ – oft findet ihr Leid in dieser Welt nicht einmal Beachtung, geschweige denn Linderung oder Trost.
5 „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ – die Sanftmütigen, die bekommen doch eher noch mehr Schläge; Herren der Erde sind sie selten.
6 „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ – allerdings wird in unserer Welt doch bestenfalls der Durst nach Rache gestillt; gerecht wird dadurch noch nichts.
10 „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“ – und wenn wir den Blick dabei ganz auf der Erde und unseren Möglichkeiten lassen, dann nutzt uns der Himmel wenig.
Das Lamm Gottes, Jesus Christus steht aber dafür ein, dass seine Seligpreisungen tatsächlich wahr werden, und zwar mit Hilfe des Himmels.
Wenn wir unser Leben losgelöst von diesem unvorstellbaren Geschehen betrachten, losgelöst von Gottes Plänen und seiner Zukunft betrachten, dann bleibt das Buch mit den sieben Siegeln zu. Aber wenn wir diese Vision nicht nur als Wunschtraum verstehen, sondern so ernst nehmen, wie sie gemeint ist, dann weckt dieses Bild Hoffnung, dass wir mit unserem Leid, mit unserem Hunger, mit unserer Sehnsucht tatsächlich selig werden. Und so hat sie ihren Platz ganz zu Recht am Anfang der Adventszeit. Sie bindet das Geschehen damals im Stall von Bethlehem zusammen mit unserer eigenen Geschichte und mit dem Ziel, das Gott schon längt gesehen hat.
Der damals Mensch geworden ist, Jesus Christus, ist derjenige, der heute mit uns unterwegs ist und der die Antworten auf alle Fragen geben wird. Damals hat er sich selbst als Mensch unter die Widersprüche des Lebens gestellt. Warum musste Jesus am Kreuz sterben? Wir können nicht einmal auf diese Frage, die doch im Zentrum des christlichen Glaubens steht, eine wirklich befriedigende Antwort geben. Heute geht Jesus als der Auferstandene mit uns durch unser Leben. Noch können wir die Antworten auf unsere Fragen nicht verstehen, können sie noch nicht erhalten. Aber an unserer Seite ist einer, der erstens diese Fragen sehr gut kennt, weil er unter ihnen als Mensch ebenfalls gelitten hat, und der uns hilft, die Spannung auszuhalten, nicht unter diesen sieben Siegeln zu verzweifeln. In Gottes Zukunft, in die wir hineingehören, wird derselbe Jesus die Antworten geben – und wir werden sie hören und verstehen können. Ob wir daran denken, wenn wir auf das Geburtstagsfest zugehen?
Der da geboren wird, ist tatsächlich der Retter der Welt. Soweit hat schon der Engel gedacht, als er den Hirten auf dem Feld vor Bethlehem die gute Nachricht, eben das Evangelium gebracht hat: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ (Lukas 2,11) Das meint doch schon damals in der Botschaft des Engels mehr als einen, der mal ein bisschen freundlich ist und sowohl die weltlichen als auch geistlichen Herren in bisschen aufmischt. Das meint schon damals den, der für uns sterben wird, der den Tod überwinden und die Regentschaft über Himmel und Erde übernehmen wird. Ob uns die Adventszeit neu sehen lernt, wessen Geburtstag wir da so lieblich und nett anzusehen feiern? Das jedenfalls ist ihr Zweck, dass sie uns die Augen öffnet für das Kind in der Krippe und wir uns darauf vorbereiten, dem Mensch gewordenen Gott neu zu begegnen. Und dann können wir – werden wir – mit allen Geschöpfen im Himmel und auf Erden singen, was Johannes in seiner Vision schon einmal anklingen lässt: „Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.“
Amen.