eine Predigt zu Lukas 9,57–62
Das ist schon ziemlich abgedreht, was sich derzeit in Deutschland, in der Welt und im Nördlichen Zeitz abspielt. Etwas, das man mit bloßem Auge gar nicht sehen kann, zieht doch alle Blicke und alle Aufmerksamkeit auf sich.
Corona heißt das kleine Ding. Und wenn es nicht zugleich auch dramatisch wäre, läge das Wortspiel nahe: Es ist in aller Munde.
Ab morgen werden die Schulen und KiTas im Land geschlossen bleiben. In allen Bundesländern ist das so. Viele Kirchengemeinden, Kreise, Dekanate, Bistümer haben Empfehlungen herausgegeben, bei allen Gemeindeveranstaltungen darüber nachzudenken, wie damit umzugehen ist. Und das geht von Gottesdiensten über alle Gemeindegruppen bis zur Musik und anderem.
Die Gemeinden der Region Nördliches Zeitz werden bis Ostern alle Veranstaltungen aussetzen. Vier Wochen ohne Alles. Fasten von Gemeinschaft. Das ist ziemlich hart. Sind doch Gottesdienste und Gruppen wichtige Begegnungsstätten. Und lebt Kirche nicht von der Gemeinschaft aller Gläubigen?
Genau da liegt auf der anderen Seite das Problem. Gemeinschaft, also räumliche Nähe, ist das Feld, auf dem sich das Virus ausbreitet. Auch wenn Vieles erst näher erforscht wird ist klar, dass Nähe die Ausbreitung der Epidemie fördert. Nur Distanz unterbricht die Übertragungskette. Genug der medizinischen Mini-Gedanken.
Der Schritt der Region ist getragen von Verantwortung. Christen leben und handeln in der Welt und sind in ihren Entscheidungen nicht herausgenommen. Bei vollstem Vertrauen auf Gott und seine Leitung – und sein Handeln! – haben wir in dieser Welt zugleich völlig innerweltlich zu denken, zu entscheiden und zu handeln.
Martin Luther sagte: „Bete, als ob alles Arbeiten nichts nützt und arbeite, als ob alles Beten nichts nützt.“ Beides ist dran.
Bei all den Gesprächen und Entscheidungsprozessen in diesen Tagen kann man in die Gefahr kommen, den aus dem Blick zu verlieren, der unsere Lebensgrundlage ist: Jesus Christus selbst. Bei aller Diskussion darüber, was gut und notwendig und überzogen und einfach schwierig ist, kann man in diese Gefahr geraten.
Wie überraschend passend, was Lukas dazu in seinem Evangelium schreibt – und dass es gerade an diesem Sonntag Predigttext ist „Vom Ernst der Nachfolge“ spricht er. Drei Menschen stellt er exemplarisch vor. Bei allen geht es darum, dass sie Jesus folgen.
Einer will mit Jesus mitgehen. Der ist erfrischend begeistert. So stelle ich ihn mir vor. Er sieht Jesus, trifft ihn auf dem Weg an, während er mit seinen Jüngern vielleicht in angeregtem Gespräch durch die Felder zieht. „Jesus! Nimm mich mit! Ich will dir folgen, egal wohin.“ Nur ein Satz bei Lukas. Aber so stelle ich mir den Menschen vor.
Begeisterung für eine Sache oder Person. Klasse. Am vergangenen Wochenende durfte ich bei dem Musical Cats mitwirken, als einer im Orchester. Diese Begeisterung der Jugendlichen, mit der sie eins der bekanntesten Musicals auf die Bühne brachten. Fantastisch.
Und was macht Jesus? Er stoppt seine Begeisterung und stellt sie auf den Boden der Tatsachen. Hat was von Corona.
Ein anderer ist da. Vielleicht sitzt er am Wegesrand und raucht eine Pfeife. „Folge mir nach!“ Jesus reißt ihn aus seinem Tagtraum und will ihn mitnehmen. „Lass mich erst meinen Vater begraben.“ Recht so. Das ist anständig. Und was macht Jesus? „Lass die Toten ihre Toten begraben.“ Diplomat ist Jesus nicht – zumindest nicht einer, der mit seichter Art daherkommt, samtbehandschuht und nichtssagend.
Ein dritter ist da – eine Mischung aus eins und zwei. „Ich will dir folgen, aber erst noch Abschied nehmen zuhause.“ Auch anständig. Viel besser, als einfach zu verschwinden. Und wieder Jesus: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ Der Blick fürs Wesentliche. Der Blick für die Grundlage.
Das kenne ich gut, was die beiden Letzten ausmacht: „Ich muss erst noch.“ Es findet sich immer etwas, das ich erst noch muss. Corona. Ich muss erst noch organisieren, planen, darüber informieren, was im NöZZ in den nächsten Wochen los ist. Geistliches Wort dafür finden. Worte auswählen, verwerfen, neu formulieren. Mir macht es Freude, mit Worten zu arbeiten. Nicht als Poetry-Slammer oder Geschichtenerzähler, dichtend, lyrisch. Aber eben mit Worten arbeiten mag ich.
Ich muss erst noch. Worum geht’s?
Vielleicht geht es darum, Jesus genau anzuschauen. Es ist Passionszeit. Eines der Passionslieder bittet: „Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken“ (EG 91). Ein anderes: „Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken“ (EG 88). Die schönen Geschichten von Jesus, die schauen wir gerne an. Weihnachten war wieder toll. Alle Engel, Hirten und Wirte vereint an der Krippe – voller Frieden. Fehlen nur Freude und Eierkuchen. Die Wundertaten – ob Jesus nun Menschen heilte oder den Sturm stillte – wunderbar. Aber wer will Geiseln, Schläge, ausspeiende Menschen, hassverzerrte Gesichter sehen? Und dann das Kreuz. Wer will im Grunde den Grund für das alles sehen: unsere Unfähigkeit, diesem Jesus wirklich zu folgen, Gott wirklich zu glauben, alles von ihm zu erwarten, ihn allein anzubeten und zu verehren. Ihn von ganzem Herzen zu lieben.
Ich muss erst noch. Das lenkt uns gut ab. Selbst Corona, diese Epidemie, alle Einschränkungen, die sie mit sich bringt, lenkt uns gut ab von einem Gott, der für uns stirbt. Freuen könnten wir uns über diese Liebe Gottes. Aber dazu müssten wir uns auch selbst anschauen – und das, was Gott seine Liebe kostet. Dann aber würde sie gelingen, die Nachfolge. Voller Begeisterung für diesen Gott der Liebe, der sich nirgends festsetzt und einmauert in seinem Nest, seinem Tempel und seiner Burg. Nein – er ist für uns und mit uns unterwegs. Auch wenn er unter freiem Himmel dafür übernachten muss.
Worum geht’s? Es geht darum, dem Tod in jeder Form das Leben entgegenzuhalten. Es klingt hart, wenn Jesus sagt: „Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Gewiss hat er nichts gegen Trauerriten oder dass wir als Familien und Freunde in Zeiten der Trauer zueinanderstehen. Doch gibt er uns schon darin die Aufgabe mit, das Leben zu verkündigen. „Du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes.“ Das machen wir ja bei unseren christlichen Trauerfeiern. Sie sind geprägt von Gottes Zusagen für das Leben. Selbst wir ohnmächtigen Menschen und vielleicht auch ohnmächtig Predigenden überlassen dem Tod nicht das letzte Wort.
Corona. Selbst wenn derzeit Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen ausfallen, überlassen wir uns nicht diesem Virus, der das öffentliche Leben lähmt. Wir finden andere Wege. Wir haben den lebendigen Gott an unserer Seite. Wir entwickeln Ideen, wie wir Gemeinschaft pflegen, selbst wenn wir nicht zusammen in einem Raum sind.
In Gemeindekreisen in den letzten Wochen habe ich von Herrnhut und den Losungen erzählt. Was mich an der Geschichte der Losungen wirklich beeindruckte und mir erst einmal selbst richtig ins Bewusstsein stieg: Schon im Jahr, nachdem die erste Losung gedruckt wurde, zogen Missionare aus Herrnhut in die weite Welt, um „das Reich Gottes zu verkündigen“. Sie hatten keine große Gemeinschaft um sich. Sie hatten sich, eine kleine Gruppe von Menschen. Aber sie hatten Worte dabei, die Losungen. Gottes Worte. Worte, die zuhause gelesen wurden und die andere Missionare in anderen Ländern lasen. Jeder wusste: Hier sind wir zwar nur zwei oder drei, aber weltweit haben wir dieses eine Wort, diesen einen Gedanken, dieses eine Gebet. Und vor allem: Es ist der eine, selbe, lebendige Gott, der uns hier und in der Heimat und auf dem Kontinent gegenüber hält.
Verkündige das Reich Gottes. Und das ist nun einmal nicht Corona und es ist auch nicht die Trauer über die völlig andere Gestalt von Kirche, die sich gerade entwickelt.
Daran hängt auch der dritte Gedanke: Schau nach vorne! Schau auf das, was vor dir liegt. Die wenigsten sind noch Landwirte, die pflügen. Schon gar nicht mit Ochse oder Pferd. Aber es gilt ja für Läufer und Radfahrer und Autofahrer gleichermaßen: Wenn du in Bewegung bist, dann schau nach vorne. Hast du dich erst einmal in Bewegung gesetzt, dann schau nicht zurück. Guck auf den Weg, der vor dir liegt. Nimm den nächsten Abschnitt in den Blick und verliere das Ziel nicht aus den Augen.Auch das ist aktuell: Wir haben eine Situation, die uns vor Herausforderungen stellt, die wir bislang nicht kannten. Wir können zurückblicken und hängenbleiben bei dem, was war. Und nebenbei: Was auch nicht ersatzlos gestrichen ist. Es macht im Moment Pause. Fastenzeit. Ist in der Wüste wie Jesus vor seinem ersten öffentlichen Auftreten. Hängenbleiben – bei dem was war und was in unseren Augen gut war. Vielleicht hatte es aber auch diverse Macken. Macken, unter denen wir auch gelitten haben. Wenn von 100 % Gemeindegliedern nur 20 % oder weniger am kirchlichen Leben teilnehmen, dann kann uns das doch nicht zufrieden sein lassen. Wenn wir Gottesdienste gefeiert haben, die alles waren aber nicht das, was wir sonst unter Feier verstehen. Wenn Gemeindegruppen kleiner werden und wir immer noch so tun, als wären sie der Renner.
Wir könnten nach vorne blicken. Wir könnten sogar so verrückt sein, den Kern von Kirche zu entdecken, ihn freizulegen, freizupflügen. Wer weiß. Vielleicht geht in diesen vier Wochen bis Ostern kirchlich manches krachen. Vielleicht – und das wäre echt verrückt und würde zugleich einem alten Prophetenwort entsprechen – vielleicht aber würde ein neuer Hunger nach Gott und seinem Wort und Gemeinschaft entstehen.
Siehe, es kommt die Zeit, spricht Gott der Herr, dass ich einen Hunger ins Land schicken werde, nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn, es zu hören.
Bei dem Propheten Amos (8,11) ist das ein Gerichtswort. Diese Sehnsucht wird da sein, aber sie wird – nicht sogleich – gestillt. Dann aber (Amos 9):
11 Zur selben Zeit will ich die zerfallene Hütte Davids wieder aufrichten und ihre Risse vermauern und, was abgebrochen ist, wieder aufrichten und will sie bauen, wie sie vorzeiten gewesen ist…13 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass man zugleich ackern und ernten, zugleich keltern und säen wird. Und die Berge werden von Most triefen, und alle Hügel werden fruchtbar sein. 14 Ich will die Gefangenschaft meines Volkes Israel wenden, dass sie die verwüsteten Städte wieder aufbauen und bewohnen sollen, dass sie Weinberge pflanzen und Wein davon trinken, Gärten anlegen und Früchte daraus essen. 15 Ich will sie in ihr Land pflanzen, dass sie nicht mehr aus ihrem Lande ausgerottet werden, das ich ihnen gegeben habe, spricht der Herr, dein Gott.
Könnte so etwas sein? Könnte so etwas werden? Was aus Nachfolge werden könnte, scheint mir ziemlich verrückt und groß und verheißungsvoll zu sein. Und gerade jetzt, wo uns alles von Jesus ablenken will und wo uns Sorge die Sicht verstellen will, könnte ein neuer, gewisser Blick auf Jesus uns vorwärtsbringen. Gerade jetzt, wo das „ich muss erst noch“ völlig irrwitzig durchbrochen wird – auch wenn es sich noch einmal aufbäumt – könnten wir nur ein „ich muss erst noch“ aussprechen: Ich muss erst noch zu Jesus gehen.
Was wohl daraus wird? Ich bin gespannt.
Amen.