„Spieglein, Spieglein an der Wand, sag mir, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Das fragt die böse Königin – und muss leider hören, dass es da eine gibt, die noch tausendmal schöner ist als sie.
Das ist doch DIE Frage schlechthin, die Menschen in den unterschiedlichsten Variationen beschäftigt: Wer ist die Schönste im Land? Bin ich der Beste? Wer ist der Stärkste? Kann jemand klüger sein? Verdiene ich am meisten? Wie komme ich noch höher hinaus, schneller voran, weiter als andere? Höher, besser, weiter, bekannter, angesehener – das ist ein alter Menschheitstraum, oder auch ein Alptraum.
In Babel lebten einst die Menschen in großem Wohlstand und Frieden zusammen. Eines Tages dachten sie sich: „Es muss doch noch mehr gehen. Wir leben hier in einer flachen Gegend, in dieser Ebene im Land Schinar. Man sieht uns nicht. Wir brauchen ein Wahrzeichen, das uns in aller Welt bekannt macht. Also: Wir bauen einen Turm, dessen Spitze den Himmel berührt.“ Heute sagen wir dazu Wolkenkratzer, und bei den über 800 Metern des Burj Khalifa in Dubai könnte man die Wolken berühren – wenn es dort denn mal Wolken gäbe. Die Sache damals im Land Schinar ging schief. Denn mit einem Mal war es mit dem Frieden und der Verständigung vorbei. Plötzlich sprach jeder auf der Baustelle eine andere Sprache. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel gehört zu den Anfangsgeschichten der Bibel (1. Mose 11).
Schneller, höher und weiter – nichts ist gut genug. In nichts bin ich mir gut genug.
Das ist ja auch ein Diktat unserer Zeit: Du musst immer besser werden, dich ständig fortbilden, neue persönliche Leistungen erzielen, sonst bist du Weg vom Fenster. Im Berufsleben gilt das. Die Konkurrenz ist groß. Und wenn eine Firma nicht ihr Spezialgebiet hat und darin unübertroffen ist, dann kann es geschehen, dass sie schnell verschwindet, geschluckt oder verdrängt wird von anderen. Im Sport ist das so. Immer noch einen Zentimeter höher hinaus, immer noch eine Tausendstel Sekunde schneller. Die Technik – auch die pharmazeutische Technik – macht es möglich.
Im Privaten ist es nicht anders. Sehr augenfällig zu sehen ist das in der Adventszeit. Da gibt es zwischen manchen Nachbarn ein regelrechtes Wettrüsten – mit welchem Wort soll man es sonst bezeichnen? – wer nun die meiste und schönste und bunteste Weihnachtsbeleuchtung hat. Ich liebe ja den Weihnachtsfilm „Hilfe, es weihnachtet sehr“ – oder auch „Schöne Bescherung“ mit Chevy Chase in der Hauptrolle als Clark Griswold. Meine Lieblingsszene: Er hat sein Haus mit 25.000 italienischen Glühbirnen bestückt. Und als er sie endlich einschalten kann, gehen in der Stadt kurzfristig alle Lichter aus und ein zweites Kraftwerk muss zugeschaltet werden. Na, und jetzt, wo die Gartensaison wieder eröffnet wird, geht doch auch der Wettlauf um die schönste Rose, die größte Sonnenblume und den dicksten Kürbis los. Besser sein – um jeden Preis?
Dabei hat das Streben nach vorne ja auch gute Aspekte. Es ist eine wichtige Antriebskraft. Menschen machen Erfindungen, die das Leben erleichtern. Krankheiten werden gemildert oder verschwinden ganz aus der Welt. Die Lebenserwartung steigt, die Lebensqualität ebenso – zumindest in Ländern, in denen Fortschritt ermöglicht ist. Da wäre schon wieder nach den Kosten zu fragen, nämlich auf wessen Kosten unser Wohlstand denn geht. Nach mehr zu streben, sich mehr anzustrengen ist manchmal ja auch wie eine Flucht nach vorn. Wenn es mit dem aktuellen Einsatz von Kraft und Ideen nicht so floriert, dann heißt es, Neues und Besseres anzuwenden, anzubieten. Das rettet manchen Arbeitsplatz – manchmal. Aber gibt es ein Ziel für dieses Streben, eine Punkt an dem es gut ist, gut genug im besten Sinn?
Ich bin ja immer wieder beeindruckt von der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1). Gott baut diese Welt, Stück für Stück. Zuerst macht er die äußeren Bedingungen klar, Licht, Himmel und Erde, Land und Meer, Gras und Bäume. Kurzer Blick darauf geworfen: gut geworden. Dann geht es an die Feinheiten: Tag und Nacht, Sonne, Mond und Sterne. Kurzer Blick drauf: gut geworden. Tiere braucht es, um die Welt zu beleben. Beeindruckend die Elefanten und der König der Tiere, der Löwe. Witzig die Affen und Erdmännchen. Ein bisschen unheimlich die Spinnen. Und wieder wirft Gott am Ende eines Schöpfungstages seinen Blick drauf: gut geworden.
Eins fehlt noch. Das alles ist gut, wirklich gut. Aber Gott will ein Gegenüber. Gott will jemanden, der nun weiterbaut, der selbst erfinderisch wird und mit dem er über die Welt reden kann in Rede und Antwort, gegenseitigem Gespräch, ja Liebe. Und so schafft Gott den Menschen, uns! Noch einmal lässt er seinen Blick über die ganze Schöpfung wandern. Und seine Beurteilung ändert sich. „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“
Ziel erreicht, Zeit für den Sonntag, den Ruhetag. Denn es gibt nichts zu verbessern. Es ist perfekt.
Das Problem aber, salopp gesagt: Gott hat nicht mit dem Menschen gerechnet, der sich selbst nicht gut genug ist (1. Mose 3). „Du bist zwar Mensch, aber du könntest auch wie Gott sein“ – so flüstert es in Adams und Evas Herz. „Mensch, gut genug als Mensch, aber ich könnte auch wie Gott sein. Besser als ein Mensch.“ Mit dem Griff nach Gott aber fällt der Mensch tiefer, als er sich hätte träumen lassen.
Die Lutherbibel überschreibt in ihrer Standardausgabe das 3. Kapitel vom 1. Mosebuch immer noch mit der Überschrift „Der Sündenfall“. Denn genau das ist es. Der Mensch baut sich eine behelfsmäßige Leiter, weil er sich auf seiner Position nicht gut genug ist, und fällt runter.
Wenn ich mir’s recht überlege, ist es genau das, was hinter dem Streben nach immer mehr und immer besser steht: mehr sein als „nur“ ein Mensch.
Wenn ich versuche, diese Sehnsucht nach dem noch vollkommeneren Ziel als Christ zu deuten, dann ist das der innere Motor, der geistliche Motor in uns Wesen aus Geist, Seele und Leib: Wir sind uns oft als Menschen nicht genug, jedenfalls nicht so, wie wir sind. Vermutlich würde keiner von uns dabei sagen, dass er oder sie wie Gott sein will. So vermessen sind wir nicht. Aber vielleicht sagt es die Bibel ja nur so zugespitzt, damit wir merken, was vor sich geht: Wir möchten doch nur bessere Menschen, stärkere, gesündere Menschen, klügere und vielleicht bedeutendere Menschen sein. Und merken nicht, dass wir dabei im Grunde Gottes Schöpfung in Frage stellen. „Gott, es geht noch besser. Und wenn du das nicht hinkriegst, dann lass uns mal ran.“
Diese Beobachtung, die ich heute zu sagen wage, ist eine Provokation, eine Herausforderung. Sie provoziert – hoffentlich – die Starken und Gesunden, die Schönen und Mutigen. Provokation, weil sie nämlich unser Sterben nach mehr und besser, das wir hoch ansehen und das ohne Zweifel viel Gutes hat, rigoros in Frage stellt. Warum strebst du nach mehr? Was erhoffst du dir davon – in dieser Welt und in der zukünftigen, noch unsichtbaren?
Wir sind herausgefordert, uns in unsrer Stärke hinterfragen zu lassen. Die Herausforderung heißt: Seht euch wieder neu als Geschöpfe Gottes an, die aus ihm heraus, von ihm alle Stärke und Kraft bekommen haben. Lernt neu, für eure Möglichkeiten dankbar zu sein. Schaut nicht auf andere herab, die nicht so mutig in die Zukunft sehen wir ihr und die manches nicht so anpacken können wie ihr. Lauft anderen nicht davon, die mit eurem Tempo nicht mitkommen. Aber nicht nur das. Akzeptiert auch die Grenzen, an die ihr kommt, selbst wenn die vielleicht sehr weit gesteckt sind und ihr sie immer noch ein bisschen weiten könnt.
Das kirchliche Motto für dieses Jahr heißt: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2. Korinther 12,9) Der das aber gesagt bekommt, ist Paulus, der Apostel, der damals um 50 nach Christus das ganze Mittelmeer bereist hat, um von Jesus zu erzählen. Ein Schwacher war der gar nicht. Nur: dieser starke Typ war an einer persönlichen Grenze angekommen. Und natürlich hat er daran gerüttelt und versucht, sie abzuschütteln oder wenigstens noch ein bisschen zu weiten. Paulus schreibt kurz bevor er von Gott diesen Satz hört, dass er dreimal Gott darum gebeten hat, ihn von einem „Stachel im Fleisch“ zu befreien – also vielleicht von einer Krankheit, einem persönlichen Gegner, der ihn immer wieder angegriffen hat oder Gewissensnöten, die ihn wegen seiner Vergangenheit als Christenverfolger immer neu plagten. Was genau wissen wir nicht, aber es muss für Paulus unerträglich gewesen sein.
„Lass dir an meiner Gnade genügen. Auch du Starker hast hier jetzt eine Grenze deiner Möglichkeiten. Fang jetzt an, zu vertrauen. Und beschränke das nicht auf diese Grenze. Glaube und vertraue auch in dem, was du kannst und wo du gut bist. Denn: du bist wirklich gut genug!“ Provokation für die Starken.
Aber auch, vielleicht erst recht Provokation für andere, die in sich nicht so viele Möglichkeiten sehen, die vielleicht unter einer Krankheit leiden, die sie an manchem hindert. Provokation und Herausforderung für diejenigen, die sich zurückgelassen sehen, die mit dem Tempo unserer Zeit nicht mithalten können. Rigorose und schmerzliche Provokation, denn sie sagt uns: „Du bist als Mensch geschaffen, auch und sogar mit deinen Gebrechen, deinen Sorgen und Ängsten, deiner Schwachheit. Und doch gilt dir: Du bist gut genug.“
Das tut weh, denn wer vielleicht für kurz, vielleicht sogar für immer an mancher Schwäche leidet, der spürt es zum einen selbst, und zum anderen lässt unsere Gesellschaft, die auf immerwährendes Wachstum ausgerichtet ist, das einen solchen Menschen auch gnadenlos wissen. Alte und Kranke werden an den Rand gedrängt. Es zählt nur, wer mobil ist und mithalten kann. Die anderen werden nicht nur stehen gelassen. Sie werden – weil man sie nicht sehen will, weil man nicht an seine eigene Gebrechlichkeit erinnert werden will – an den Rand geschoben, in Heime und Randbezirke abgeschoben.
Eine Provokation, ihnen zu sagen: „Du bist Mensch, und als Mensch bist du wunderbar gemacht, du bist gut, gut genug.“ Das ist keine Provokation, die verhöhnen möchte. Das ist die Herausforderung, Gottes Wertschätzung für unser Leben anzunehmen und ernst zu nehmen, ihm zu glauben. „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Gott stellt sich vor uns hin, vor das Haus unserer Schwäche, unserer Krankheit, unserer Angst und pro-voziert uns, ruft uns aus dem Haus heraus – das bedeutet pro-vozieren, wenn man’s wörtlich nimmt. Da kann es passieren – wenn ein Mensch sich so provozieren, herausrufen lässt – dass er zu Gott sagt: „Ja, Gott, ich glaube, dass ich als Mensch gut genug bin. Du sagst ja sogar, dass erst mit mir, dem Menschen, deine Schöpfung sehr gut ist. Du sagst, dass deine Kraft mächtig ist, in mir mächtig ist, selbst wenn ich mir selbst gar nichts zutraue und mich elend und schwach fühle, ja es bin. Aber nun, Gott, sag mir, welche Aufgabe du für mich hast. Zeig mir, wo du durch mich mächtig handeln willst.“
Das kommt uns vielleicht verrückt vor. Das wagt doch keiner. Soviel Mut bringt doch keiner auf, der wirklich leidet.
Wirklich nicht? Von Nic Vujicic, dem Mann ohne Arme und Beine, habe ich schon öfter erzählt. Der macht Motivationsseminare für Manager, für starke Persönlichkeiten, die dafür auch viel Geld bezahlen. Weil er nämlich eine ganz andere Kraftquelle hat, die ihn so stark macht, dass er davon anderen reichlich abgeben kann. Von Jonas Helgesson habe ich gelesen – und auch schon mal hier erzählt. Der war von Geburt an spastisch gelähmt. Zur Erleichterung seines Alltags bekam er als Jugendlicher einen Rollstuhl, und ein Arzt bemerkte, dass er den wohl nie verlassen wird. Eines Tages hatte Jonas die Faxen dick und hat den Rollstuhl weggeschmissen. Hat ihn viele blaue Flecke und manche Abschürfung gekostet. „Zeig mir, Gott, was du aus meiner Schwäche heraus machen willst. Ich wage es.“ Seine Geschichte erzählt er in dem Buch mit dem deutschen Titel: „Das Unmögliche erreichen kann man erst, wenn man das Absurde versucht hat.“ Er ist Autor, tingelt als Komödiant durch die Lande und hält Vorträge über sein Leben und wie er in der Schwäche die Kraft Gottes entdeckt hat.
Und es gibt noch mehr, die gar keine Bücher geschrieben haben und nicht so bekannt sind. In der Hospizbewegung, nicht nur hier im Burgenlandkreis, engagieren sich oft Menschen, die einen Angehörigen verloren haben, die aus ihrer Trauer herauskommen und mit ihrer Erfahrung andere begleiten, die den Abschied von einem lieben Menschen vor sich haben. Gut genug. Ja, das könnten andere überhaupt nicht besser.
Aus der Schwäche, aus seiner Menschlichkeit, die einer annimmt mit allen starken und schwachen Seiten, kommt eine unvergleichliche Stärke für andere.
Das ist für mich der Effekt unserer Jahreslosung. Das ist die Folge, wenn jemand sich Gottes Zusage zu Herzen nimmt und damit sein Leben in die Hand nimmt: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Egal, wie du bist, Mensch. Du bist gut, du bist gut genug. Und lass dir das eine sagen: Ohne dich fehlt dieser Welt etwas. Nur mit dir bekommt sie das Prädikat „sehr gut.“ Ob wir uns davon einmal provozieren lassen, herausfordern lassen – als solche, die wir uns ganz schön stark fühlen, aber immer noch nicht stark genug? Und als solche, die von ihrer Schwäche immer wieder eingeholt werden und die sich nach Stärke sehnen?