Gedanken zu Heiligabend
Ideen muss man haben. Ein bisschen die Fantasie anstrengen. Kreativ werden. Immerhin geht es um Weihnachten. Das ist schließlich das wichtigste Fest im Jahr – zumindest, was den Konsum angeht. Schon seit September buhlen die Märkte um die Gunst der Kunden, liegen Lebkuchen im Einkaufsmarkt, reiht sich Stollen an Stollen, füllen süße und bunte Angebote die Sonderangebotsflächen. Um in dieser umsatzstärksten Jahreszeit mitzuhalten, muss man sich etwas einfallen lassen.
Ideen muss man haben. Auch für die Geschenke. Es soll ja nicht immer das Gleiche sein. Schon lange nicht mehr gefragt ist die SOS-Lösung für den Herrn: Schlips, Oberhemd, Socken. Wer trägt heute noch Schlips? Und manche Terminplanung verlangt auch nach viel Fantasie und Kreativität. Je größer die Familie, umso schwieriger wird es manchmal, alle unter einen Hut zu bringen. An Weihnachten muss man ja sagen: Alle unterm einem Baum zusammenzubringen. Es könnten durchaus ein paar Feiertage mehr sein, damit man allen Besuchswünschen nachkommt. Dieses Jahr klappt es besser, wir haben drei Feiertage, denn nach den beiden offiziellen Weihnachtsfeiertagen schließt sich gleich der Sonntag an.
Ideen muss man haben, auch was den Platz angeht. Wenn der Platz am Tisch nicht mehr ausreicht, muss mindestens ein größerer Tisch her. Oder ein Anbau.
Ideen muss man haben. Schon in der Weihnachtsgeschichte wimmelt es davon, ist Fantasie gefragt. Wer hätte zum Beispiel daran gedacht, dass gerade eine Steuerbehörde, quasi das Finanzamt, großen Anteil daran hat, dass ein altes Bibelwort erfüllt wird? Der Heiland, der Christus soll in Bethlehem geboren werden. So sagte es eine Ankündigung des Propheten Micha lange vor der Geburt von Jesus ausgesprochen. Heiland und Christus – so nennt ja der Engel dieses Kind, das da zur Welt kommt und zu dem die Hirten dann hinlaufen. Heiland – das bedeutet: Dieses Kind bringt Gutes für die Menschen, macht sie wieder heil, bringt die Beziehung zu Gott wieder in Ordnung. Und der Christus ist einer, der von Gott selbst zu einer besonderen Aufgabe erwählt ist.
Nach Bethlehem nun mussten Maria und Josef, in die Stadt, in der schon König David geboren worden war, der zweite König Israels, tausend Jahre vor Jesus hat er gelebt und regiert.
„Hat einer eine Idee?“ Ich weiß nicht, ob Gott im Himmel lange um Rat gefragt hat, wie er Maria und Josef von Nazareth nach Bethlehem schickt. Das ist doch sehr menschlich gedacht. Aber der Weg ist schon fantasievoll. Die Finanzbehörde, von der wir ja nicht gerne hören, gibt eine Aufforderung heraus, die uns auch heute ganz schön nerven würde. Jeder soll in seine Geburtsstadt gehen – der Kaiser braucht eine neue Steuereinschätzung. Da muss man erst einmal drauf kommen. Aber die Folge: Jesus, der Heiland, kommt in Bethlehem zur Welt. So sollte es sein.
Und wie wird diese Geburt bekannt gemacht? Amtsblatt und Mitteldeutsche Zeitung gab es noch nicht, geschweige denn ARD und ZDF, MDR und die vielen privaten Fernsehsender. Gott aber hat nicht nur Fantasie, er hat auch die Mittel dazu: Engel sind seine Boten, die direkt vom Himmel – und ganz ohne Rundfunksatelliten – die himmlische Botschaft unters Volk bringen. Gott hat auch Humor und den Blick für die einfachen Leute. Wichtige Nachrichten, die gar die Welt verändern, gehören sonst in die Regierungshäuser, in die Königspaläste, in die Amtsstuben. Denn dort muss man ja auf wichtige Ereignisse reagieren. Und sie nötigenfalls anpassen an die eigenen politischen Ziele. Gott will aber, dass die Nachricht direkt ankommt bei allen Menschen; sie soll gerade bei denen ankommen, die oft aus dem Blick geraten, die nicht mitreden dürfen und die selten etwas Gutes erfahren und bekommen. So erfahren Hirten draußen vor der Stadt Bethlehem als erste von der Geburt Jesu. Keine Studioaufzeichnung vor ausgewähltem Publikum; live und mitten im Leben stellt Gott sich und seinen Retter bei denen vor, die oft vergessen werden.
Aber es sind nicht nur die geradezu und wahrhaft göttlichen Ideen, die mich dieses Jahr an der Weihnachtsgeschichte begeistern. Es ist die menschliche und in der Bibel eher nur am Rand erwähnte, fantasievolle, helfende Idee eines vermutlich gestressten Menschen, die mich beschäftigt. Noch dazu ist das ein Mensch, der in der Erzählung der Bibel gar nicht vorkommt, aber im Krippenspiel in der Regel nicht fehlen darf.
Wusstet ihr, dass die Wirte in der Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium gar nicht mitspielen? Wohl kommt das Gasthaus vor, die Herberge, in der kein Raum war. Aber der Wirt oder gar mehrere Wirte werden mit keinem Wort genannt. Wer Lukas 2 kennt, erinnert sich.
Der Wirt, der gar nicht vorkommt in der Geschichte, aber so oft im Krippenspiel dabei ist, erinnert mich sehr an uns heute. Er hatte offensichtlich ein volles Haus. So erklären wir uns ja bis ins Krippenspiel hinein diesen einen, kleinen Nebensatz: „…, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Da war einfach kein Platz mehr, alle Gästezimmer belegt.
Wer in den Adventstagen ins Erzgebirge fährt und in den berühmten Weihnachtsorten wie Seiffen oder Annaberg-Buchholz und anderen Raum in der Herberge sucht, wird auch schwer etwas finden. Ist halt Saison. „Kein Platz, ist einfach so. Wir sind ausgebucht, tut mir Leid. Nächstes Jahr gerne, aber buchen Sie rechtzeitig“, so hören es Last-Minute-Touristen heute manchmal. Vielleicht hat das der eine oder andere ja auch schon erlebt, dass es mit dem Wunschhotel oder auch nur mit dem gewünschten Ort für den Urlaub nicht geklappt hat. Im Endeffekt ist das nicht so tragisch, wir haben ja andere Möglichkeiten und wer weiß: vielleicht entdeckt man auf diese Weise sogar einen neuen Ort mit neuen Sehenswürdigkeiten und Annehmlichkeiten.
Maria und Josef aber waren gar keine Touristen. Die waren unterwegs, weil die Steuergier des Kaisers sie dazu zwang, nach Bethlehem zu reisen. Und Maria erwartete jeden Moment ihr Kind. Eine ziemliche Notlage. Da war nun Fantasie gefragt und eine helfende Idee. Wenn im Krippenspiel mehrere Wirte mitspielen, dann sind die meisten von ihnen ja einfach nur stur und lassen die Not der werdenden Eltern an sich abprallen. Eine fantasievolle Lösung fällt ihnen nicht ein, sie suchen auch erst gar nicht danach. Nur einer hat in der Regel Mitleid und erinnert sich an den Stall, den er anbieten kann.
Was mich an ihm bewegt: Der sieht nicht nur sein volles Haus. Der sieht nicht nur die extra Mühe, die ihn erwartet. Der ahnt nicht nur, dass die beiden ihn nicht fürstlich entlohnen können, wenn er eine Sonderleistung zur Verfügung stellt. Der denkt wirklich über eine Lösung nach. Der macht sich wirklich Gedanken, wie er Maria und Josef helfen kann.
Vielleicht ist das mit dem Stall nicht die allerschönste Lösung, aber immerhin gibt es ein Dach über dem Kopf. Und sieht eine Futterkrippe, wenn sie erst einmal gereinigt, weich ausgelegt und mit Decken eingehüllt ist, nicht sogar ein bisschen wie eine Babywiege aus? Klar, auch da spielt nun meine Fantasie eine Rolle. Ich denke mir, dass der Wirt Tücher und Decken zur Verfügung stellt. Die hat er ja mehr, als er Betten hat. Und er sorgt auch für etwas zu essen; werden schon ein paar Vorräte mehr dagewesen sein. Das wäre sonst ein schlechter Gastwirt. Egal, wie viel wir uns über den Wirt ausdenken mögen – am Ende steht in der Weihnachtsgeschichte der einfache Satz: „Maria gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Aber eben weil ein Wirt Fantasie hatte und so eine Lösung fand, hatten sie diesen Raum.
Es ist klar, warum mich das in diesem Jahr besonders bewegt. Denn in diesem Jahr sind wir die Wirte in Deutschland und Europa. In diesem Jahr kamen Vertriebene, Geflüchtete, Notleidende, Suchende zu uns. Und wir sind wie die Wirte im Krippenspiel, wie die ungenannten Wirte in der Weihnachtsgeschichte.
Viele haben Fantasie und sind voller Ideen. Und sie bringen für mich eine Menge Licht, nicht nur in eine dunkle Jahreszeit, sondern auch in eine manchmal recht düstere Situation. Da gibt es auch heute Menschen, die sagen: „Ich hab da eine Idee.“
Und dann setzen sie sich in ihr Auto, packen Werkzeug ein und rufen einen befreundeten Handwerker an. Was vorher noch eine große Halle war – vielleicht sind das die weihnachtlichen Ställe unserer Tage – wird so zu einem Raum in der Herberge. Nicht der schönste Raum, aber ein Raum, mit Fantasie und Ideen gestaltet.
„Ich hab da eine Idee“, sagen manche, und gründen eine Initiative, die jedes Mal, wenn Flüchtlinge in ihren Ort zugewiesen werden, da ist. Menschen, die Flüchtlinge zu ihrer Unterkunft begleiten, ihnen erste Informationen an die Hand geben, eine Kleinigkeit für sie vorbereitet haben.
„Ich hab da eine Idee“, sagen andere, und klären über Vorurteile auf, ermöglichen Begegnungen, bei denen sich Flüchtlinge und Einheimische kennenlernen können, laden zu Begegnungskaffees und Adventsfeiern ein.„Ich hab da eine Idee“, sagen welche, und sorgen dafür, dass Menschen ankommen können.
Wie der Wirt damals. Der gab einfach ein paar Menschen Raum. Das ist ja auch so etwas, was mich an der Weihnachtsgeschichte sehr bewegt. „Gott wird Mensch“, so sagen wir Christen gern. So einfach ist Weihnacht zu erklären – und so kompliziert zugleich.
Aber der Wirt, der wusste das vermutlich gar nicht. Der stellte nur zwei Menschen einen Raum zur Verfügung und machte es möglich, dass ein dritter, kleiner, völlig hilfloser Mensch, ein Baby eben, in dieser Welt, in Bethlehem ankommen konnte. Mehr nicht. Der gab nicht Gott einen Raum. Der gab nur ein paar Menschen Raum. Aber das veränderte bis heute alles.
So geschah das, was auch heute noch der Kern von Weihnachten ist. Weil zwei Erwachsene und ein Baby einen kleinen Raum bekamen, kam Gott selbst in die Welt. Weil ein Wirt, der schon ein volles Haus hatte, Fantasie, eine Idee und gewiss auch ein gutes Herz hatte, kam Gott selbst bei ihm an. Weil da ein Mensch einfach nur menschlich – human! – handelte, berührte der Himmel die Erde.
Genau das zeigen uns Krippenspiel und Schwippbögen, kunstvolle Weihnachtskrippen unterm Weihnachtsbaum und auf der Fensterbank: Es braucht nur ein wenig Raum, und Gott selbst kommt zur Welt. Er braucht dazu keine falsche Idylle, wie wir sie uns gerne vorstellen bei all den Schnitzwerken und kunstvoll bemalten Kostbarkeiten erzgebirgischer und bayrischer und anderer Kunst. Die sind schön, die sind liebreizend – und ganz gewiss auch zu Recht. Denn sie greifen den Gruß der Engel auf: Friede soll auf Erden sein. Den darf man so darstellen.
Aber Gott wartet nicht auf die Idylle. Er kommt ins Chaos, dorthin, wo es auch Ablehnung und böse Worte gibt, wo Stiefel dröhnen und Fackeln Unheil ankünden. Er braucht keine Idylle. Er braucht nur ein wenig Raum in Herzen, die Mut und Fantasie haben. Er braucht keine heile Welt im Vorfeld. Er braucht nur Menschen, die ihm zutrauen, dass er die Welt heilen kann. Er braucht Menschen, die einfach nur menschlich und barmherzig sind, die ein wenig die Tür öffnen, die einen Raum für andere haben in ihren Herzen und in ihrem Alltag. Egal wie klein dieser Raum ist – wenn Gott ihn betritt, kommt der ganze Himmel hinein.
Und so wünsche ich es mir, dass wir an diesem Heiligabend gerade von dem Wirt lernen, der gar nicht in der Weihnachtserzählung ausdrücklich genannt wird. Gott kommt zu uns – und er kommt als Mensch, der Raum in unseren Herzen sucht.
Amen.