Klingt das, als ob Gott abgehakt wäre?
Nein, gerade nicht. Er ist Geschichte — also mittendrin in der Geschichte. Er schreibt sie. Er gestaltet sie. Und ist drin bis heute!
Gedanken zur Weihnachtsgeschichte zu Heiligabend in der Stadtkirche St. Marien Wittenberg
Vor der Predigt wurde Lukas 2,1–20 gelesen.
Predigt zu Lukas 2
„Es begab sich aber zu der Zeit.“ Ist das nicht faszinierend? Mich begeistert es, wie Lukas die Weihnachtsgeschichte, die Geburt von Jesus beschreibt. Ich liebe seine – naja, dann doch auch Martin Luthers Wortwahl. Mein liebster Satz ist und bleibt der von den Hirten: „Es warten Hirten in derselben Gegend bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde.“
Ein Knochenjob, den die Hirten haben. Eine undankbare Arbeit. Das war ja kein alpenländisches Sommer-Freizeit-Urlaubsidyll. Die Viecher stanken, wenn es nass war. Und trocken war es kaum besser. Grüne Weide? Muss man erst einmal finden. An die Wölfe und Bären gar nicht zu denken. Lebensgefahr beschreibt es ziemlich kurz und treffend.
„Und es schlugen sich ausgegrenzte, unterbezahlte, abgerissene, hartgesottene, grobschlächtige Kerle die Nacht um die Ohren auf einer Weide, die mit der Bezeichnung Gestrüpp noch hochgelobt gewesen wäre, fluchten vor sich hin und wehrten sich mit Haut und Haaren gegen Bären und Wölfe. Da wurde mancher zum Krüppel.“
Hätte Luther auch schreiben können – oder Lukas im Original. Und ML macht daraus ein Gedicht im Stil einer Alliteration: Hirten bei den Hürden hüten die Herde. Poesie pur.
Soweit bin ich in diesem Jahr aber gar nicht gekommen. Ich hänge immer noch am Anfang der Geschichte: “Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war.”
Augustus ist Kaiser in Rom und Quirinius ist Statthalter in Syrien. Gouverneur könnte man auch sagen. Direkter Vertreter des Kaisers ist er und hat in der Provinz Syrien das Sagen.
Warum ist das so besonders? Weil so Geschichte beschrieben wird – mit Zeitangaben. Märchen fangen anders an: „Es war einmal“, heißt es da. Und dann kommt die Mär von dem Mädchen, das seine Großmutter im Wald besucht oder von den Geschwistern, die die Datsche der Hexe anknabbern, weil ihr Waldbungalow aus leckeren Lebkuchen zusammengesetzt ist.
Jesus aber ist keine Märchenfigur. Jesus wird als Mensch von seiner Mutter Maria geboren. Und zur Zeit seiner Geburt war Augustus der Kaiser in Rom. Könnt ihr nachlesen in den Geschichtsbüchern. Quirinius war Statthalter. Steht in den Geschichtsbüchern. Ach – Herodes war König in Jerusalem. Auch das ist aufgezeichnet. Und Lukas erwähnt den schon im 1. Kapitel. Es stimmt wohl: mit Quirinius und Herodes gibt es ein paar Schwierigkeiten. Denn der König starb 4 vor Christus, der andere war erst Statthalter ab 6 nach Christus. Doch auch dafür gibt es heute beachtenswerte Erklärungen, die durchaus nachvollziehbar sind. Quirinius war ein guter Vertrauter des Kaisers und vielleicht schon früher in Syrien unterwegs – womöglich sogar zu einer Volkszählung. Und Lukas hat es vielleicht der Einfachheit halber so beschrieben, ohne noch tiefer ins Detail zu gehen.
Das Wichtigste aber – und das beschäftigt mich zunehmend: Jesus kommt zu einer sehr genau bestimmten Zeit in die Welt. Und er kommt in eine konkrete, wirkliche, existierende Welt hinein. Er kommt in den Alltag der Menschen hinein – und zwar so, wie er gerade ist, mit Höhen und Tiefen.
Er kommt in die römische Kaiserzeit. Er kommt in ein unterdrücktes Volk. Er kommt hinein in politische Querelen, in Vetternwirtschaft, in Korruption, in Besatzungsrecht, in Alltagsarmut, in den Kampf ums tägliche Überleben, in Duckmäusertum und Revolte. Er kommt in die frommen Streitereien zwischen Pharisäern und, zwischen Priestern und Volk. Gott wird konkret. Und Gott handelt konkret.
Manchmal glaube ich, dass wir mit unseren Rauschgoldengeln und dem vielen Glitzerschmuck zu sehr einen kitschigen Himmel an die Weihnachtsbäume hängen, als dass wir Gott in der Welt ernstnehmen könnten. Manchmal denke ich: So, wie die vielen Schnitzkrippen, Schwibbögen und Pyramiden aussehen, war es mit Sicherheit nicht. Und deswegen glaubt auch keiner, dass Gott wirklich Mensch wurde und auch heute wieder mittendrin ist.
Seit Donnerstagfrüh geht mir nun ein anderer Anfang der Geschichte durch den Kopf:
Es begab sich aber zu der Zeit, da Olaf Scholz Kanzler von Deutschland war, dass seine Regierung eine Gaspreisbremse beschlossen hatte. Und die Bremse war die allererste und kam zu der Zeit, als ein Krieg in Europa tobte, den der russische Präsident vom Zaun gebrochen hatte. Gefühlt ging jedermann auf die Privatinsolvenz zu und mehr denn je war auf den Straßen Hetze und Hass zu hören und große Angst griff um sich.
Und seitdem lässt mich das nicht mehr los. Wenn Gott doch so konkret wird vor 2.000 Jahren – warum rechne ich denn heute nicht damit?
Es gibt kein politisches Setting, das Gott aus dieser Welt heraushalten kann. Unter islamistischen oder kommunistischen Diktaturen werden Christen verfolgt. Wer sich als Muslim zum Christentum bekehrt muss damit rechnen, ermordet zu werden. Gefängnis und Folter sind das mindeste, was einer zu erwarten hat. Und doch wachsen Gemeinden zum Beispiel in China oder auch im Iran. Überall gibt es Christen und kein politisches System der Welt hält Gott auf.
Es gibt keine Notlage, in die Gott nicht hineinwirken kann und wirkt. Wer nur ein wenig auf die Suche geht findet Menschen, die von ihrer Sucht frei geworden sind. Er entdeckt Lebensberichte von Menschen, die trotz einer Krankheit für andere zu Mutmachern wurden.
Ein Beispiel – nicht nur – für die Jüngeren sind die Real Live Guys. Die Zwillinge Philipp und Johannes Mickenbecker und einige Freundinnen und Freunde machen verrückte Projekte und animieren Jugendliche dazu, hinter Gameboys und Computerspielen hervorzukommen und ins pralle Leben hineinzupacken, etwas zu unternehmen – auch wenn es verrückt ist: ein Baumhaus mit allem Komfort, einen Tesla auf Baggerketten setzen und durch einen Tagebau brettern, eine Badewanne zum funktionsfähigen U‑Boot umbauen. Aber mehr noch: Philipp erkrankte an Krebs und starb 2021 daran. Aus der Krankheit machte er keinen Hehl, sondern sprach offen darüber – über die Krankheit, seinen Zorn, seinen Glauben an Gott und seine Zweifel, sein Vertrauen und seinen Mut, der ihm dann durch Gott zugewachsen ist. Auf YouTube und anderen Social-Media-Kanälen gibt es die Storys der Real Live Guys und die Geschichte von Philipp.
Bei Trauergesprächen – kürzlich auch wieder – erzählen mir manchmal Menschen, dass sie sich auf Gottes Neue Welt freuen, in der es Tod und Leid nicht mehr gibt. Und dass sie fest darauf hoffen, dass sie gewiss sind: diese Welt kommt.Aber das ist nicht nur eine Zukunftsvision. Gott wirkt in ihnen schon jetzt. Er ist nämlich jetzt da. Heute.
Damals waren es Hirten – tatsächlich eher die Outlaws am Rand der Gesellschaft – zu denen Gott zuerst kam. Ihre Armut und ihre religiös gewiss nicht geschliffene Sprache, ihr rauer Umgangston hielten ihn nicht davon ab, dass seine Engel zuerst bei Ihnen auftauchten und die Nacht zum Tag machten.
Es war Maria, eine zweifelhaft schwanger gewordene junge Frau, es war Josef, ein Vater ohne Kenntnis seiner Vaterschaft, denen Jesus geboren wurde.
Zu Fischern kam Jesus, zu Kollaborateuren, zu Gelehrten, zu Bettlern, zu Aussätzigen ging er. Er saß am Tisch mit ihnen und feierte Gottes Liebe mit diesen Trauergestalten der Gesellschaft.
Gott kommt in unsere Welt hinein – dorthin, wo Apotheken nicht genug Arzneimittel haben und Krankenhäuser nicht alle versorgen können, weil unsere Welt nur nach Gewinn strebt.
Gott kommt dorthin, wo Menschen ihm fluchen, obwohl und weil sie ihn überhaupt nicht kennen. Er kommt dorthin, wo keiner nach ihm fragt. Er kommt dorthin, wo wir uns ablenken und ihm gar nicht begegnen wollen, weil er uns gerade in unserem Wohlsein oder in unserem Ärger stört.
Er kommt zu denen, die schon wieder 3 kg zugenommen haben ob all der Weihnachtsfeiern und zu denen, die auf der Straße schlafen.
Er kommt in die Welt von Putin und Scholz, von Ayatollahs und Warlords. Er kommt in die Welt von DAX und Zentralbank, von Elon Musk und Donald Trump.
Trauen wir ihm das zu? Traust du ihm das zu, dass er heute zu dir kommt – in deine Welt?
Ich meine: Jesus hat damals die Welt verändert. So sehr, dass wir heute unsere Zeit nach seiner Geburt berechnen. Das kann doch nicht bedeutungslos sein. Jesus verändert heute Menschen, so dass sie mutig werden und Zuversicht fassen. Menschen überwinden den Hass und lernen zu lieben. Menschen werden frei von Süchten. Menschen sehen ihren Nächsten und kümmern sich um ihn. Menschen trauen dem Leben, trauen ihrem eigenen Leben, weil es sich auf Gott gründet.
Es begab sich aber zu der Zeit, da die Stadtkirchengemeinde Weihnachten feierte, dass ein neuer Wind durch Wittenberg wehte – der Geist der Liebe und Freundlichkeit, der Geist von Zuversicht und Besonnenheit, der Geist von Lebenslust und Lebensmut. Und die Menschen suchten Gott und fanden ihn – in ihren Herzen und in der Gemeinschaft untereinander, mitten in seiner ihrer Welt. Und die Engel im Himmel staunten und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe, der so ein Wunder tut. Friede sei den Menschen auf der Erde, die Gott Raum in ihrem Herzen geben, so dass er mitten unter ihnen wohnen kann und seine Wundertaten wirkt.
Ich bin gespannt auf die Fortsetzung. Und die schreibt ihr. Denn: Euch ist heute der Heiland geboren!