Predigt aus dem Gottesdienst am 4. Sonntag vor der Passionszeit
Psalm 107
Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. So sollen sagen, die erlöst sind durch den Herrn, die er aus der Not erlöst hat. Die mit Schiffen auf dem Meere fuhren und trieben ihren Handel auf großen Wassern, die des Herrn Werke erfahren haben und seine Wunder im Meer, wenn er sprach und einen Sturmwind erregte, der die Wellen erhob, und sie gen Himmel fuhren und in den Abgrund sanken, dass ihre Seele vor Angst verzagte, dass sie taumelten und wankten wie ein Trunkener und wussten keinen Rat mehr, die dann zum Herrn schrien in ihrer Not und er führte sie aus ihren Ängsten und stillte das Ungewitter, dass die Wellen sich legten und sie froh wurden, dass es still geworden war und er sie zum ersehnten Hafen brachte: Die sollen dem Herrn danken für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, und ihn in der Gemeinde preisen und bei den Alten rühmen.
EG 244 Wach auf, wach auf, ’s ist hohe Zeit
- Wach auf, wach auf, ’s ist hohe Zeit, Christ, sei mit deiner Hilf nicht weit! Das wütend ungestüme Meer läuft an mit Macht und drängt uns sehr.
- Hilfst du nicht bald, so ist’s geschehn, zugrund wir müssen eilends gehn. Bedroh der Wellen wild Gebrüll, so legt es sich und wird ganz still.
Es lohnt sich, auch die anderen Strophen zu lesen oder auch reinzuhören, etwa bei der Liederdatenbank.
Matthäus 14,22–33
22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!
Predigt
„Wach auf, wach auf, ‘s ist hohe Zeit!“ Manchmal durchfährt mich solch ein Schrecken, wenn ich die Zeit vergessen habe und dann schnell los muss zu einem Termin. Dann wird’s „höchste Eisenbahn“.
Der Liederdichter Ambrosius Blarer hat eine andere Situation vor Augen. Es geht nicht darum, verschlafen zu haben. Vergessene Zeit ist nicht das Problem. Er denkt an die Jünger im Sturm. Es ist wohl nicht der Predigttext, den er vor Augen hat. Aber es ist auch eine Sturmgeschichte aus der Bibel, vielleicht sogar auch aus dem Matthäusevanglium. Dort, Matthäus 8,23–27, war Jesus mit im Boot, aber er schlief, als der Sturm losbrach Die Jünger rüttelten ihn wach. „Wir verderben“, rufen sie voller Angst. Hier, im Predigttext, sind die Jünger alleine unterwegs. Doch der Sturm ist genauso bedrohlich. Ihre Angst ist ähnlich. Der Sturm wird ihr Untergang sein, wenn keine fremde Hilfe kommt.
Der Liederdichter Blarer schreibt seine Zeilen in einem ähnlichen Sturm. Nicht auf dem Meer, aber in den Kämpfen, denen die Kirche ausgesetzt ist. Anfangs wirkte er als Reformator in Konstanz. Er war ein Studienkollege von Philipp Melanchthon, hatte Kontakt mit etlichen Reformatoren, darunter vor allem auch mit den süddeutschen und Schweizer Reformatoren, etwa Zwingli in Zürich oder Bucer in Straßburg. 1561, als er das Lied schrieb, war Konstanz wieder katholisch und Blarer durfte nicht mehr in die Stadt. Die Kirche war zerstritten. Im Großen standen sich Evangelische und Katholische verfeindet gegenüber. Aber auch unter den reformatorischen Kirchen selbst gab es großen Streit. Lutheraner gegen Reformierte. Die einen warfen alle Bilder und sogar die Kirchenmusik aus den Kirchen, die anderen behielten sie bei und empfahlen ihren Fürsten, die Aufstände der Bauern oder der Täufer mit Gewalt niederzuschlagen. Und beim Abendmahl war man sich auch nicht einig. Blarer saß zwischen den Stühlen, denn er konnte sowohl Luther als auch den Reformierten etwas abgewinnen. Vermitteln aber konnte er nicht. „Wach auf, es ist höchste Zeit!“ Denn deine Kirche, Jesus, bricht auseinander. Sie bricht auseinander, so wie ein Boot im Sturm zerbrechen kann.
Zurück auf den See Genezareth, zurück zu Jesus, Petrus und den anderen Jüngern. Die Jünger sind alleine unterwegs. Jesus braucht Zeit für sich. Zu viel hatte sich angesammelt, was er nun in Stille mit seinem Vater besprechen wollte. Erst erzählt Matthäus davon, dass Johannes der Täufer, der Cousin oder Großcousin von Jesus, von König Herodes ermordet worden war (Matthäus 14,1–12). Da hatte Jesus schon versucht sich zurückzuziehen. Aber die Menschen suchten ihn und er konnte nicht alleine sein. 5.000 Zuhörer waren zusammen, ohne Frauen und Kinder mitzuzählen, so schreibt es Matthäus (Matthäus 14,13–21). Jesus heilte Kranke, er predigte. Und als es Abend wurde und alle hungrig waren, speiste er alle mit fünf Broten und zwei Fischen. Alle wurden satt und zwölf Körbe mit Resten sammelten die Jünger ein.
Jetzt aber drängt Jesus die Jünger, im Boot vorauszufahren. Endlich Ruhe. Die Zeit gehört nun ihm allein. Und die Jünger? Geraten in den Sturm. Sie haben heftigen Gegenwind. Das Boot gerät in Not. Der Sturm zerrt an den Segeln, die Wellen reißen an den Planken, das Boot ächzt und kracht und droht zu zerbrechen. Ob’s daran liegt, dass Jesus nicht da ist? So denken viele Menschen bis heute: „Ich bin in Not, also ist Gott wohl tot.“ Oder er schläft, macht Pause, hält sich raus. Jedenfalls bin ich ihm wohl egal. „Wo ist Gott, wenn man ihn mal braucht?“ Gott, wach auf!
Das Lied von Ambrosius Blarer ist übrigens das einzige Lied im Gesangbuch, das Gott aufwecken will. Alle anderen „Wach-Auf-Lieder“ wende sich an den Menschen oder auch mal an den „Geist der ersten Zeugen“ – also letztlich auch wieder an den Menschen in seiner Lebenshaltung. Hier rufen die Jünger nicht. Jesus ist ja nicht mit an Bord. Sie kämpfen einfach mit der Situation. Und Jesus kommt übers Wasser.
Das setzt meiner Erwartungshaltung an Gott etwas gegenüber, das ich oft nicht wahrhaben will. Wo Gott ist, ist Frieden. Wo Gott ist, gibt es keine Not, keine Zweifel, keine Ängste, denke ich. Aber weit gefehlt. Wenn ich die Bibel durchlese, dann entdecke anderes, ob ich will oder nicht.
Psalm 23: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück – du bis bei mir.“ Im finsteren Tal ist Gott dabei. Und ich muss durch diese Todesschlucht hindurch, obwohl Gott da ist. Josef in der Zisterne, in der Sklaverei in Ägypten, im Gefängnis – verkauft von seinen Brüdern, verleumdet, vergessen. Obwohl er sich auf Gott verlässt und Gott bei ihm ist (1. Mose 37 und 39). Paulus, eifrig für Gott unterwegs: fast zu Tode gesteinigt, oft im Gefängnis, auch im Sturm unterwegs. Petrus: im Gefängnis. Und sogar Jesus selbst!
Jesus kommt – und der Sturm bläst weiter. Jesus läuft nicht über die glatte See, umgeben von einem schönen Lichtsaum, das Wasser leuchtet angenehm blau. Nein, auch unter seinen Füßen tobt die schwarze See, die Gischt spritz auf, seine Kleider sind nass, sein Haar vom Sturm zerzaust. Er geht mitten hinein in den gleichen Sturm, auf das gleiche aufgewühlte Meer, auf dem die Jünger ihr Leben fast schon verloren geben. Weil es aber um Gott herum – in unserer Vorstellung – Licht sein muss und Frieden herrschen muss – glauben wir allenfalls an Hirngespinste, an Gespenster.
Meine erste Entdeckung: Ich muss mein Denken korrigieren. Not heißt nicht, dass Gott nicht da ist. Not heißt genau hinzusehen, wo er ist. Und ihn nicht als Hirngespinst abzutun. Not heißt: Ja, Mensch, lerne tatsächlich wieder beten in der Not! Denn Gott ist schon längst mittendrin in dem, was dein Leben bedroht. Er lässt sich seine königlichen Kleider zerreißen und vom aufgewühlten Meer durchnässen, weil er auf dich zugeht, weil er neben dir steht.
„Fürchtet euch nicht!“ 42 Mal werden Menschen in der Bibel so angesprochen. „Fürchte dich nicht!“ Das ist gar 68 Mal zu lesen. Jesus, die Engel, Gott selbst müssen es immer wieder sagen. Denn wenn Gott uns begegnet, wenn dieser Unvorstellbare und Ewige uns begegnet, fürchten wir uns.
„Seid getrost! Ich bin’s.“ Ich muss schmunzeln. Wenn wir nach Hause kommen und klingeln, sagen wir das in die Sprechanlage an der Haustür: „Wir sind’s.“ Und es ist schon klar, wer da ist. Die Stimme ist bekannt. Und meist werden wir ja auch erwartet zu einer gewissen Zeit.
„Ich bin’s“, sagt Jesus. Das reicht. Seine Stimme ist vertraut. Mir fällt ein Bild aus dem Johannesevangelium ein. Jesus sagt von sich: „Ich bin der gute Hirte. Die Meinen kennen mich. Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir.“ (Johannes 10,14.27*)
Ich bin’s. Das sagt auch Gott zu Mose, als der wissen will, wie er sich und seinen Auftraggeber bei den Israeliten vorstellen soll. Sein Auftrag: Er soll sie aus der Sklaverei in Ägypten befreien. „Was sage ich dem Volk, wenn sie mich fragen, wer mich gesandt hat?“ Sag ihnen: Der „Ich bin’s“ hat dich geschickt. „Ich bin, der ich bin.“ (2. Mose 3,13–15)
„Ich bin’s.“ Und alles ist gut. Obwohl der Sturm noch tobt. Jesus ist da und alles ist gut.
Mein zweiter Gedanke dabei: Wenn ich erst einmal merke, dass es Jesus selbst ist, der mir beisteht, dann wird es gut. Dann kehrt tatsächlich Frieden bei mir ein – drinnen in mir. Selbst wenn es draußen noch stürmt, werde ich ruhig und stark. Und mutig.
Bleibt noch der verrückte Petrus. Petrus heißt Fels. Jedes Kind weiß, dass ein Stein untergeht, wenn man ihn ins Wasser wirft. Aber der verrückte Petrus muss natürlich aus dem Boot hüpfen. Kaum sieht er Jesus und erkennt ihn auch, ist es mit seiner Vernunft und Erfahrung vorbei. „Jesus, wenn du das bist, dann will ich auch. Ruf mich und ich laufe sogar übers Wasser.“ Das Gefährliche bei solchen Glaubensausbrüchen Jesus gegenüber: Der nimmt uns beim Wort und ruft.
Na dann mal los, denke ich. Petrus springt über Bord und geht auf dem Wasser. Das übrigens immer noch tobt. Es ist noch nicht still, der Sturm braust noch und die Wellen türmen sich. Und heimlich bewundere ich ihn. Er sieht Jesus und alles andere – Sturm und Not, Vernunft und Erfahrung – geraten aus seinem Blickfeld. Jesus allein. Wenn mir das doch gelingen würde, Jesus alleine zu sehen und mich nicht mehr ablenken zu lassen von allem anderen.
Manchmal ist es so, für einen Moment. Dann sehe ich nur Jesus. Wie lange dieser Blick reicht? Oft wie bei Petrus nur ein paar Schritte. Manchmal reicht der Blick nicht einmal so weit, über Bord zu springen. Zu kurz der angstfreie Moment. Und bei Petrus lerne ich: Besser als gar nicht. Was mich wirklich begeistert und beschämt zugleich: Petrus zögert nicht. Er sieht Jesus und geht los. Im selben Moment, in dem Jesus ihn ruft, geht er los. Es ist egal, dass er nach ein paar Schritten schon im Wasser einsinkt. Er ist losgegangen. Er hat nicht gezögert. Und es passiert ihm nichts! Denn Jesus hält ihn fest. Jesus ist so nah, dass er Petrus sofort ergreifen kann. Er ist immer so nah, dass er mich sofort ergreifen kann.
Klatschnass betreten sie beide das Boot. Der Sturm legt sich. Und die Jünger im Boot fallen vor Jesus auf die Knie: „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“ Der Sturm ist weg. Der Wind legt sich. Aber erst in dem Moment, in dem Jesus das Boot betritt. Vorher nicht. Nicht schon in dem Moment, in dem Petrus auf dem Wasser läuft. Nicht schon in dem Moment, als Jesus ihn festhält und rettet. Wenn ich dann nur nicht vergesse, dass Gott selbst den Sturm beseitigt hat. Das ist der letzte Gedanke.
Manchmal, oft gehen Menschen durch den Sturm hindurch. Schritte fallen schwer. Die Frage nach Gott, der Ruf nach ihm wird laut: „Bist du da, Gott? Rette mich!“ Oft erst im Nachhinein kann ich seine Spur entdecken. Hinterher kann ich sehen, dass er da war, immer da ist. Wenn ich es dann nur nicht vergesse, sondern mich den Jüngern im Boot anschließe: „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn.“
Wer weiß – vielleicht traue ich mich im nächsten Sturm ja, dieses Bekenntnis noch eher auszusprechen: „Jesus, du bist da. Dann wage ich mich auch in diesen Sturm hinein. Du wirst mich halten.“Also glaube ich: Gott ist da. Und er ist es auch dort, wo ich nichts von ihm sehe und erkenne. Gott ist da. Und deswegen muss alles gut werden. Gott ist da. Und ich lobe ihn und wachse in meinem Vertrauen. Amen.