Gedanken über das Evangelium, die Scham, darüber zu reden und die weltumspannende Wirkung, die die unverschämte Einladung Gottes hat.
Zusammengefasst im Gottesdienst am 22. Januar.
Weltumspannende Wirkung: “Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.” (Lukas 13, 29 — der Wochenspruch)
Wirkung für einen einzelnen — den “Hauptmann von Kapernaum” (Matthäus 8,5–13)
Predigt zu Römer 1,13–17
Sie kommen von allen Seiten: von Osten und Westen, von Norden und Süden. Ein Auflauf ist das, eine Versammlung von Menschen – unvorstellbar. Wittenberg 2017? Oder auch 2023, wenn die Touristensaison wieder losgeht? Würde passen. Kirchentage sind ja so ähnlich. Dieses Jahr geht’s nach Nürnberg. Allerdings an dem Wochenende, an dem Luthers wieder Hochzeitstag haben. Doch auch da werden Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammenströmen.
Bei vielen Familien ist das heute ähnlich. Die einen wohnen und arbeiten im Rheinland, die anderen hat es nach Baden-Württemberg verschlagen – und zu Weihnachten und Ostern trifft man sich irgendwo zwischen Hamburg, München und Dresden.
Ein etwas schräger Gedanke, aber: Auch Flüchtlingsrouten verlaufen so. Manche kommen aus Italien nach Deutschland, andere über den Balkan. Man könnte auch über Schweden einreisen oder von den Niederlanden her. Das geschieht weniger, geht aber auch.
Auf der Suche sind sie alle – nach dem gelobten Land, nach der Familie, die man lange nicht gesehen hat, nach ein Stück Erinnerung und Heimat, nach Glück und Lebenssinn, nach besonderen Erlebnissen. Nach Leben?! Die große Sehnsucht verbirgt sich hinter dem Wochenspruch. Und die große Erfüllung der Sehnsucht verspricht er uns. Es wird. Alle werden kommen.
Für einen Einzelnen ist das wahr geworden. Er hat ein Stück Leben gefunden, der Hauptmann von Kapernaum, ein römischer Offizier. Jesus setzt ihn – im Bild gesprochen – mit Abraham und Isaak und Jakob an einen Tisch. Der Heide gehört auf einmal zu den Auserwählten. Er gehört zum Volk Gottes. Und der Grund dafür ist nur sein Glaube. Er hat dafür nichts getan. Er hat keine frommen Regeln eingehalten, alle die vielen Gesetze Israels. Er ist nicht konvertiert. Er schaut nur Jesus an und vertraut ihm, glaubt ihm. Das sagt Jesus selbst über diesen Römer.
Für einen anderen ist es zur Lebensaufgabe geworden, denen, die bislang noch nicht auserwählt waren, die Tür zum Volk Gottes zu öffnen. Paulus zieht los, um den Heiden das Evangelium zu verkünden. Und von dieser Aufgabe schreibt er den Christen in Rom in seinem Brief (Römer 1,13–17 Basisbibel):
13 Ich will euch eines nicht verschweigen, Brüder und Schwestern: Ich habe mir schon oft vorgenommen, zu euch zu kommen. Aber bis jetzt wurde ich immer daran gehindert. Denn ich wollte, dass meine Arbeit auch bei euch Frucht trägt wie bei den anderen Völkern.
14 Das bin ich allen schuldig – ganz gleich, ob sie Griechen sind oder nicht, gebildet oder ungebildet.
15 Wenn es nach mir geht – ich bin bereit, auch bei euch in Rom die Gute Nachricht zu verkünden.
16 Denn ich schäme mich nicht für die Gute Nachricht. Sie ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt – an erster Stelle die Juden, dann auch die Griechen.
17 Denn durch die Gute Nachricht wird Gottes Gerechtigkeit offenbar. Das geschieht aufgrund des Glaubens und führt zum Glauben. So steht es schon in der Heiligen Schrift: »Aufgrund des Glaubens wird der Gerechte das Leben erlangen.«
“Gottes Gute Nachricht ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt.” Oder wie es bei Martin Luther heißt: Das Evangelium “ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben.”
Geht es nicht darum, selig zu werden? Danach streben doch Menschen. Glücklich möchten wir sein. Und es geht im Letzten nicht um oberflächliches Glück, mal hier und da ein gutes Gefühl. Wir wollen Frieden in uns haben. Wir wollen frei von Sorgen sein. Körper und Seele sollen frei von Verletzungen sein, von Schmerzen, von Traurigkeit, von Mangel. Selig oder gerettet – diese beiden Worte stehen in den meisten Übersetzungen. Es ist zu kurz gegriffen, wenn wir dabei nur an ein Glücksgefühl denken. Genauso genügt es aber nicht, nur das nackte Überleben sicherzustellen.
Selig und gerettet bedeutet: Alles an mir und in mir wird heil, wird ganz. Meine Seele hängt ganz an meinem Schöpfer und Gott. Meinem Körper geht es gut. Mein Geist findet sein Zuhause und kommt zur Ruhe. Meine Sehnsüchte sind gestillt. Mein Hunger nach Leben, nach Liebe, nach Sinn ist gestillt. Ist so etwas möglich? Kann es das geben? Paulus sagt es hier. Die Gute Nachricht, das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die rettet und selig macht, die vollkommen herstellt, was wir so oft nur als Bruchstücke des Lebens wahrnehmen.
Was aber ist dieses Evangelium, diese Gute Nachricht Gottes? Ich habe für mich mal versucht, eine Definition zu formulieren in drei Abschnitten.
Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat seine himmlische Heimat verlassen, ist Mensch geworden, hat unsere Schuld vollständig auf sich genommen und ist dafür gestorben. So hat er uns zu Kindern Gottes gemacht, die an allem Anteil haben, was Gott hat und ist.
Jesus ist von den Toten auferweckt worden und durch ihn, mit ihm werden auch wir vom Tod erweckt. Wir werden vollständig verwandelt – Geist, Seele und genauso der Körper, so dass wir das gleiche Leben haben wie Jesus: ewiges Leben, das vollkommen ganz ist.
Und das Ganze geschieht, indem wir uns völlig auf Jesus verlassen und annehmen, was er für uns getan hat. Eben: Glauben.
Kompliziert? Ja. Viel zu dicht. Und das ist nur eine kurze Beschreibung in drei Anläufen gewesen. Nur ein paar Gedankengänge dazu.
Der erste Gedanke: Gott stellt uns wieder her. Er macht uns zu dem, was wir von Anfang an sein sollten. Wir lieben so intensiv, so rein und heilig und umfassend wie er. Wir sind kreativ wie er. Wir bebauen und bewahren. Wir fördern das Leben. Wir fördern die Schönheit des Lebens. Wir leben in völligem Einklang mit Gott, in inniger Gemeinschaft.
Wir haben das aus eigener Kraft nicht geschafft. Wir sind ungerecht geworden. Haben schon auf der Erde nicht erfüllen können, was Gott von uns wollte. Unter unserer Herrschaft werden Menschen benachteiligt und übersehen. Wenn wir bebauen, dann zerstören wir eher, als dass wir bewahren. Und aus der Beziehung zu Gott sind wir ausgestiegen. Gott für die Seele, für Notlagen, für ein paar Dinge, die wir nicht erklären können. Aber für alles andere brauchen wir ihn nicht.
Gott selbst aber stellt das Recht wieder her. Und das bedeutet: Er rückt wieder gerade, was wir verbogen haben. Er zeigt, wie es sein soll und er schafft es auch selbst. Und er stellt die Beziehung wieder her. “Ihr seid meine Kinder. Ihr seid mein Abbild, mein Ebenbild. Ich selbst setze euch in diesen Status ein. Dieses Recht, meine Kinder zu sein, hatte ich euch von Anfang an zugedacht. Und dieses Recht übertrage ich euch wieder. Ich mache euch gerecht in meinen Augen. Ihr seid es.”
Der zweite Gedanke: Diese Macht zur Wiederherstellung hat nur die Gute Nachricht von Jesus Christus. Wir scheitern schon an irdischer Gerechtigkeit. Und kommen zugleich auf den verrückten Gedanken, dass wir Gott genug bringen könnten.
Schau mal, was ich heute Gutes getan habe, Gott: Ein freundliches Wort kam mir über die Lippen. (Aber eine Schimpftirade ging auf den Radfahrer nieder, der mich in der Dunkelheit übersehen hatte.) Ich habe einem Fremden geholfen. (Aber den Nachbarn, der sich mit seiner Mülltonne abmühte, habe ich bewusst übersehen. Ich mag ihn nicht.) Ich bin im Gottesdienst, ganz andächtig. (Und zugleich sind meine Gedanken bei meiner Arbeit, die zuhause liegen bleibt.)
Ich kriege es nicht hin – auch wenn ich das nicht zugeben will. Jesus, der schafft es! Und weil er für mich Gottes Liebe erfüllt und sein Recht erfüllt, macht er mich frei von meiner Ungerechtigkeit und Blindheit und Lieblosigkeit. Jesus hat die Kraft. Seine Liebe hat die Kraft, aus mir den Menschen zu machen, den Gott vor sich sieht – sein Ebenbild und Kind.
Letzter Gedanke: Ich schäme mich nicht für die Gute Nachricht, für das Evangelium. Heißt das, dass ich immer und in jeder Situation so mutig bin zu sagen: “Ich bin Christ, ich glaube an Gott!”? Bestimmt gehört das dazu.
Was Paulus vorhat – nach Rom zu gehen und dort auch von Jesus zu erzählen, ist gewiss mutig. Und er hat diesen Mut immer wieder gezeigt. Die Folgen hat er aber auch gespürt. Mal wurde er leicht belächelt, mal schon kräftig verspottet. Aber auch Steine sind geflogen und er wäre fast gestorben an den Verletzungen. Im Gefängnis war er in vielen Städten. Es gehört Mut dazu, von Jesus zu erzählen. Vor allem dort, wo Christen bis heute verfolgt und ermordet werden.
Ich glaube aber, dass Paulus noch etwas anderes im Sinn hat. Die Neue Genfer Übersetzung ist an der Stelle etwas ausführlicher als Luther oder die Basisbibel: “Zu dieser Botschaft bekenne ich mich offen und ohne mich zu schämen, denn das Evangelium ist die Kraft Gottes, die jedem, der glaubt, Rettung bringt.”
Ich bekenne mich offen. Das meint den vielleicht den Mut, von Jesus zu reden. Allerdings schreibt Paulus tatsächlich von der Scham. “Ich schäme mich nicht.” Wofür sollte ich mich denn schämen? Für Gott muss ich das doch nicht. Dann kann es doch nur meine eigene Unzulänglichkeit sein.
Ich schäme mich dafür, dass ich nicht so liebe, wie ich es sollte – und sogar, wie ich es will. Ich schäme mich dafür, dass ich Menschen sogar sehe, aber sie bewusst übersehe, weil ich jetzt keine Zeit habe, keine Lust auf ein Gespräch und schon gar keine Lust auf die Lösung eines Konfliktes. Ich schäme mich dafür, dass Gott mir im Alltag nicht so oft in den Sinn kommt. Ich surfe lieber durchs Netz als zu beten. Ich schäme mich dafür, dass ich Jesu Vergebung brauche. Dass ich einen Gott brauche, der mich erlöst. Dass ich einen Gott brauche, der mich jeden Tag wieder sucht, weil ich ihn von mir aus nicht finde. Das Evangelium, die Gute Nachricht sagt: Du Mensch wirst ausschließlich von Gott erlöst und gerettet. Und du brauchst diese Rettung. – Mist. So schwach bin ich also wirklich.
Meint Paulus vielleicht das? Er war nämlich ein toller Typ. Pharisäer war er, und noch dazu einer der besten und frömmsten. Studiert hat er bei dem größten Gelehrten seiner Zeit, Gamaliel, eine Koryphäe, eine Institution jüdischer Gelehrsamkeit und Weisheit. Und voller Einsatz war er für Gott, voller Tatendrang – auch wenn der erst einmal in die falsche Richtung wies. Nach seiner Bekehrung zu Jesus legte er aber mit gleichem Eifer los. Und der muss zugeben, dass das alles nichts nutzt? Wie soll das erst bei mir sein, der ich an Paulus nicht rankomme?
Was Paulus aber hier schreibt, macht mir Mut. Ich schäme mich nicht, dass ich ganz auf Jesus angewiesen bin. Ich bekenne es offen, dass mein Leben ganz von Gott abhängt, dass mein Glaube sogar ganz von Gottes Güte abhängt. Ich lebe, weil Gott mich rettet und mich gerecht spricht. Ich lebe, weil Gott mir Herz und Sinn und Hände füllt mit allem, was ich brauche. Ich bekenne Gott – weil ich nicht auf mich schauen muss, sondern auf ihn schaue. Ich bin glücklich, weil Gott mein Gott ist. Ich bin fröhlich, weil er mich über die Maßen liebt. Ich kann aufrecht gehen, weil Gott mich aufrichtet.
Gottes Botschaft an uns ist: “Ihr lebt, weil ich euch liebe. Ihr seid erfüllt, habt alles, was mir gehört, weil ihr meine Kinder seid. Ihr seid meine Kinder, weil ich euch dazu erkläre. Und diese Erklärung widerrufe ich nicht. Ihr seid herrlich und heilig, gerecht, gerettet und selig, weil ihr meine geliebten Kinder seid. Und was euch gilt, das gilt allen Menschen. Sagt es ihnen weiter – in Rom und in Wittenberg, in Briefen und direkt. Sagt es so, wie ihr es erlebt und wie ihr es in euren Worten ausdrücken könnt.”
Am Schluss komme ich zum Anfang zurück: Es kommen Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammen an Gottes Tisch, in Gottes Haus. Und damit sie sich auf den Weg machen ist es an uns, in alle Himmelsrichtungen zu gehen und ihnen die Einladung Gottes zu bringen – ohne Angst und ohne Scham. Gottes Nachricht hat die Kraft, jedem Menschen das Leben zu geben, das Gott uns zugedacht hat: gerecht, erfüllt, frei, ewig, selig. Glaubt es!