Predigt zu Matthäus 20,1–16
1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.
Leonard Bernstein betritt den großen Musikvereinssaal in Wien. Die Philharmoniker haben die Instrumente gestimmt und erwarten einen der größten Dirigenten der Welt. Auf dem Programm steht die 9. Symphonie von Anton Bruckner. Der Maestro führt das Orchester durch alle Höhen und Tiefen. Es stürmt und braust, es umschmeichelt die Ohren, sanft und zart. Das schwere Blech erhebt sich kraftvoll. Die Streicher arbeiten sich an ihren Saiten ab, die Flöten überfliegen den Grundklang. Und immer wieder schwenkt die Kamera zum Dirigenten, der alles im Griff hat, es mag noch so chaotisch wirken und kaum zu bändigen sein, was dort im Notengewimmel über- und durcheinander notiert ist.
Eine Symphonie ist ein gewaltiges Stück Arbeit. Und sie ist so, wie sie ist, von einem genialen Geist zu Papier gebracht. Vom ersten bis zum letzten Ton ein Gesamtwerk, nur einem verantwortlich: seinem Schöpfer.
Nein, das wird keine Musik-Vorlesung. Musik muss man hören – oder selber machen. Aber ein eigenartiges kleines Wort im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ließ mich an eine Symphonie denken.
Der Hausherr nämlich ist auch ein Symphoniker. Oder vielleicht besser gesagt: Jesus komponiert eine Geschichte, in der wie in einer Symphonie vieles anklingt, zusammenklingt und daraus ein spannendes Werk wird. Das Gleichnis ist eine „Symphonie der Gerechtigkeit Gottes“.
Gleich am Anfang, als der Hausherr zu Tagesbeginn die ersten Arbeiter für seinen Weinberg verpflichtet, einigt er sich mit ihnen auf den Lohn der Arbeit: einen Silbergroschen. Und dort spricht Jesus von der Symphonie. Der Hausherr und die Tagelöhner, die Arbeiter treffen sich in einem Ton, in einem Klang. „Symphoneo“ heißt das griechische Wort für die Einigung.
Alle Stimmen, die im Gespräch über den Arbeitslohn mitreden, kommen zusammen und finden den einen Zielton: „Ein Silbergroschen, ja, darauf verständigen wir uns. Wir sind miteinander im Einklang über diesen Lohn.“ Die Arbeiter werden es nicht so gestelzt gesagt haben. Aber mir ging von diesem Moment an die Symphonie nicht mehr aus dem Kopf.
Wie in einer symphonischen Dichtung schreitet das Gleichnis voran. Die ersten, schon früh am Morgen, ziehen los in den Weinberg. Es gibt viel zu tun. Im Morgengrauen, noch von der Kühle des neuen Tages umgeben, fangen sie an, sind voller Elan. Sie haben Arbeit. Tagelöhner müssen sich jeden Tag etwas Neues suchen, wie der Name schon sagt. Sie sind froh, dass einer sie gefunden hat und eingestellt für diesen Tag, für festes, gutes Geld. Der Tag plätschert dahin. Es gibt noch viel mehr zu tun. Der Hausherr ist drei Stunden später wieder am Markt. Müßig stehen dort einige. Er kann sie brauchen. „Arbeitet für mich und ich werde zahlen, was recht ist!“ Auch um die sechste Stunde, also gegen Mittag, und am Nachmittag findet der Weinbergsbesitzer noch Arbeitslose. Sie sind schon müde und matt vom Herumstehen. Es ist heiß. Und dass niemand sie bisher zur Arbeit brauchen konnte, drückt auf die Stimmung. Was wird da im Weinberg los sein, wenn der Besitzer immer noch Leute braucht? Gegen Abend, nach einem langen Tag dreht er gar eine letzte Runde. Und immer noch finden sich welche, die er brauchen kann.
Den ganzen Tag über waren Menschen eifrig am Werk im Weinberg des Herrn. Welche Symphonie mag das gewesen sein? Welch Zusammenklang aus dem Schlagen und Scharren der Hacken, dem Zischen der Messer, den Rufen der Arbeiter. Vielleicht hat einer ein Lied angestimmt und andere haben mitgesungen. Kommandos schallen. Dann wieder schlagen die Hacken. Vielleicht prasselt ein Feuer, weil dürre Zweige gleich verbrannt werden. Womöglich lässt der Besitzer des Weinbergs auch Fleisch braten für seine Arbeiter. Der Duft lässt manchen ein „Ah“ ausrufen, man hört Schmatzen. Vielleicht entweicht auch mal ein Bäuerchen, das darf sein.
Der Abend ist da. Er brachte nicht nur noch einmal frische Kräfte vom Markt. Nein, jetzt ist auch die Stunde der Belohnung gekommen. Fröhliches Murmeln. Die zuletzt kamen, bekommen zuerst ihren Lohn. Das mag eigenartig sein, aber so hat es der Weinbergseigner angeordnet. Hauptsache jeder bekommt, was ihm zusteht.
Erstes Raunen macht sich breit. Die nur eine Stunde gearbeitet haben, erhalten einen Silbergroschen. Da machen sich diejenigen, die schon früh dabei waren, Hoffnung auf mehr. Sie haben schließlich den ganzen Tag hier verbracht. Bei günstigster Prognose wäre das elfmal so viel Lohn.
Und dann diese Dissonanz, dieser Missklang in der Symphonie. Die am längsten gearbeitet haben erhalten den gleichen Lohn wie diejenigen, die zuletzt noch kamen, um gerade einmal die letzten trockenen Reiser einzusammeln und beim Aufräumen zu helfen. Das kann doch nicht wahr sein. Die Symphonie geht auf ein dramatisches Ende zu.
Während ich schreibe, laufen ein paar Takte von Bruckners 9. Symphonie. Ich musste sie in der Abiturprüfung analysieren. Eine spannende Aufgabe. Mich hat dabei immer das Blech beeindruckt. Da ducken sich alle anderen weg, wenn Trompeten und Hörner und Posaunen und Tuben loslegen. Und die hat Bruckner wahrlich gewaltig besetzt: acht Hörner, vier Wagner-Tuben, drei Trompeten, drei Posaunen, Kontrabasstuba. Das Blech ist der Gewinner. Wenn die sollen, dann knallt es richtig im Orchester.
Und so ähnlich dürfte es im Weinberg geknallt haben. Der Aufstand der Fleißigen schwillt an zu einem großen Murren. „Wie kannst du nur? Wir haben alles hier erledigt von Anfang an. Wir haben die Mittagshitze ausgehalten. Wir haben durchgehalten, da waren andere noch gar nicht hier. Und du enthältst uns den gerechten Lohn vor?“ Jede Gewerkschaft würde sich auf ihre Seite stellen. Und irgendwie steht unser Herz wohl auch auf der Seite derer, die so fleißig waren.
Aber – es ist nicht unserer Symphonie. Der die Partitur geschrieben hat, ist allein Herr des Geschehens, auch hier. Und der lässt sich das Heft, den Taktstock nicht aus der Hand nehmen. Eins müssen Orchestermusiker wissen, müssen alle Musiker, die miteinander musizieren, wissen: Es geht nach den Noten und allein nach dem, der vorne steht. Gewiss: Profimusiker und genauso Laien, die zusammenspielen, reden miteinander, tauschen Meinungen und Empfindungen aus. Aber die letzte Entscheidung trifft der Dirigent. Die erste Verpflichtung gilt der Partitur, der Notenschrift.
Ist das ungerecht? Im Orchester entscheidet die Ausrichtung auf den Dirigenten darüber, ob eine Aufführung gelingt oder nicht. Darauf haben sich alle zu Beginn ihrer Tätigkeit geeinigt, haben sich auf diese Symphonie, diesen Zusammenklang oder Einklang eingelassen.
Das führt der Weinbergsbesitzer auch an: „Freund, wir haben uns geeinigt. Am Anfang des Tages spielten schon alle in der gleichen Symphonie mit. Und im Lauf des Tages sind noch etliche Stimmen hinzugekommen. Aber alle in einer Symphonie, alle haben sich auf den einen Klang geeinigt.“
Es verwirrt uns aber immer noch. Oder? Beim Arbeitslohn hört die Freundschaft auf. Und wir stutzen: Moment, das ist ja gar keine Arbeitskampfgeschichte. Das Ganze sollte doch ein Gleichnis sein.
„Mit dem Himmelreich ist es wie …“ – so fangen die Gleichnisse meistens an. Ist das der Himmel?
Wir müssen noch einmal zurück in unserer Symphonie. In den zweiten Satz quasi, der zur dritten Stunde spielt. Der Hausherr hat schon die ersten Arbeiter gewonnen und losgeschickt – für einen Silbergroschen Tageslohn. Und nun beauftragt er die zweite Gruppe um die dritte Tagesstunde herum, also gegen 9 Uhr nach unserer Zeit.
Ein kleines Wort entscheidet dort über das ganze Gleichnis: „Ich will euch geben, was recht ist“, sagt der Arbeitgeber. Was aber ist recht? Was meint dieses „recht“. Das griechische Wort macht hellhörig: „dikaios“ steht dort. Was hier mit „recht“ übersetzt wird, heißt an anderer Stelle auch „gerecht“. Und das lässt aufmerken. Die Gerechten in der Bibel, das sind diejenigen, die in Gottes Augen recht sind. Gerechtigkeit ist das, was Gott einem Menschen zuspricht, ihm zueignet.
Martin Luther ist über diese Gerechtigkeit zuerst erschrocken und gestolpert: Wenn Gott nach meiner Gerechtigkeit schaut, dann sieht es schlecht aus mit mir. Vor Gott bin ich nicht recht, niemals. Aus eigenen Stücken, mit noch so vielen Taten und guten Werken, mit noch so viel Bußleistungen wie Fasten oder Almosen geben oder auch Selbstkasteiungen werde ich doch niemals in Gottes Augen gerecht. Da lag er, der arme Mönch aus Wittenberg und kam nicht weiter. Er war genauso gestolpert wie die Arbeiter im Weinberg, die dachten, sie hätten das Recht, die Gerechtigkeit verstanden.
Und dann kam ihm die Erkenntnis: Es geht nicht um mein Verständnis von erechtigkeit. Es geht nicht darum, dass ich vor Gott um mein Recht kämpfe und es mir erwerbe. Gott spricht mir das Recht zu. „Ich will euch geben, was recht ist“, lässt es Jesus im Gleichnis vom Himmelreich erklingen. Und er gibt allen. Er erweist sich als gütig und barmherzig, als reich gegenüber jedermann. Gott schenkt seine Gerechtigkeit jedem, der zu ihm kommt.
Der Tagelöhner, der morgens schon der Erste ist im Weinberg, bekommt, was er zum Leben braucht. Nicht weniger. Er bekommt das Leben! Der Tagelöhner, der erst abends dazu stößt, bekommt genauso, was er zum Leben braucht. Er erhält genauso das Leben, das volle Leben geschenkt.
Das ist wie in einer Symphonie, wie in der Aufführung eines Werkes, an dem viele mitwirken. Am Ende bekommen alle den ganzen Applaus. Die Musiker, die vor allem Pausen zählen mussten und dann ein paar brillante Stellen hatten genauso wie die Streicher, die sich zumeist ja durchgehend abrackern müssen und eindeutig die meisten Noten zu spielen haben. Alle zusammen haben sie zum Gelingen des Werks beigetragen und alle zusammen bekommen sie den Lohn des Publikums.
Ja – das Beispiel hinkt, wie auch ein Gleichnis nicht bis in alle Details hinein ausgedehnt werden darf. Natürlich bekommt die eine oder andere Gruppe oder gar ein Solist auch einmal mehr Applaus. Aber der Gesamteindruck wird nur von allen gemeinsam erschaffen.
Im Reich Gottes, im Himmelreich wird nicht nach Leistung abgerechnet. Alle bekommen das volle Leben geschenkt. Alle sind Teil des großen ganzen Kunstwerkes. Alle bekommen die volle Gerechtigkeit von Gott zugesprochen.
Das fällt uns auch innerhalb der Gemeinde manchmal schwer zu verstehen. „Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?“ Ja, das tun wir manchmal. Statt uns zu freuen, dass ein Mensch von Gottes Liebe angesteckt ist, dass ihm ein vielleicht einmaliges Lob Gottes über die Lippen kommt, zählen wir, was sonst noch alles zu finden ist bei ihm oder ihr. Und wenn die Summe nicht stimmt, dann fangen wir an zu fragen, zu murren, scheel dreinzusehen. Dabei vergessen wir, dass wir doch mit Gott über unser Leben übereinstimmen, in Einklang gekommen sind. Wir haben der Symphonie des Reiches Gottes und unserer Lebenssymphonie doch zugestimmt. Und vergessen es so leicht wieder.
In diesen Tagen, in denen gerade in unseren großen Städten wie auch im kleinen Tröglitz so viel von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit die Rede ist, macht mich dieses Gleichnis besonders nachdenklich. Laut kommen die Parolen daher, die sich auf unsere Leistung berufen: wie wir dieses Land aufgebaut haben, was wir alles erwirtschaftet haben. Die Rente wird angeführt, die wir uns ehrlich verdient haben. Das Häuschen, das Eigentum, die Sozialleistungen, die uns zustehen, alles wird aufgeführt.
Und dann gibt es welche, die das streitig machen. Die einfach kommen – ob als Kriegsflüchtling, als Asylsuchender, als einer, der hier ein besseres Leben zu erlangen sucht – und uns alles wegnehmen.
Gewiss kann man dieses Gleichnis nicht rückübertragen in den politischen und gesellschaftlichen Alltag. Es dient gewiss nicht als Verhandlungsgrundlage für das Gespräch, weder wenn es um Asylbewerber geht, noch im Streit zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Aber muss es uns als Christen nicht nachdenklich machen gerade in diesen Fragen, die so intensiv zur Diskussion gestellt werden wie schon lange nicht mehr? Und die die Gesellschaft – auch innerhalb der Kirche – zu spalten drohen?
Ist es wirklich unser Recht, auf unsere Errungenschaften und Leistungen zu pochen und sie nicht mit denen zu teilen, denen alles zum Leben fehlt?Vielleicht vergessen wir dabei, dass uns selbst doch alles geschenkt wurde, was wir heute haben.
Ich sage bewusst geschenkt, auch wenn ich sehr wohl weiß, wie viel harte und ehrenwerte, bewundernswerte Arbeit dahinter steht und wie hart so mancher auch nur um ein Stückchen Lebensqualität ringen musste und immer noch muss. Dennoch — geschenkt: Zuerst einmal das Leben und alle Gesundheit und Schaffenskraft. Dass es uns gibt, war nicht unser Entschluss. Dass wir die ersten Lebensjahre überstanden haben, war nicht unsere Leistung. Dass wir im Westen – ich muss das als Westdeutscher so sagen – nicht enteignet wurden und das Wirtschaftswunder aktiv gestalten und genießen konnten – ein Geschenk. Dass 1989 die Diktatur im Osten nicht fortgesetzt wurde und keine Waffen gegen das Volk eingesetzt wurden wie noch Tage und Jahre zuvor etwa an der innerdeutschen Grenze und heute noch zum Beispiel in China oder Nordkorea – ein Geschenk. Dass einer ein Leben lang genug Arbeitskraft hat und damit auch etwas anzufangen weiß – ein Geschenk. Dass einer nicht schon mit 30 durch einen Schlaganfall umgeworfen und aus der Bahn geworfen wird – ein Geschenk. Dass wir in Mitteleuropa leben, wo es keine Wüste, keinen unerträglichen Dauerfrost, keine endlose Trockenheit gibt – ein Geschenk. Dass wir in einer Demokratie leben – mit all ihren Macken zwar, aber frei und wohlbehütet und versorgt – ein Geschenk.
Kann man allen ernstes scheel darauf sehen, dass Güte und Barmherzigkeit anderen Menschen wiederfährt? Muss es uns nicht im Gegenteil freuen, dass andere die Chance zum Leben erhalten? Wir sind Teil der großen Symphonie Gottes, dieser Symphonie seiner Gerechtigkeit, seines Himmelreiches. Und wir sind es, weil Gott selbst uns dort hineingenommen hat, weil er uns darin haben will. Darüber können wir uns zuallererst freuen.
Und dann können wir darüber fröhlich werden, wo andere auch einen Platz in dieser Symphonie finden. Denn Gott macht die Tore nicht dicht, er schaut immer wieder auf dem Marktplatz des Lebens nach, wen er noch einladen kann. Ja, mehr noch: Er schickt uns als seine Haushofmeister, als seine Haushalter los, Menschen einzuladen und ihnen die Gerechtigkeit, die Güte und Barmherzigkeit entgegenzubringen, die Gott uns schon entgegengebracht hat. Dabei schauen wir nicht danach, was einer mitbringt, wie intensiv er sich schon engagiert, wie lange er schon dabei ist. Wir teilen Würde und Achtung nicht nach Vorleistungen zu sondern gehen allein davon aus, wie Gott einen Menschen ansieht. Und das gilt innerhalb und außerhalb der christlichen Gemeinschaft.
Der Lohn, der uns erwartet, ist das Leben selbst – und das ist unteilbar und nicht verhandelbar.
Amen.