Aus dem Gottesdienst zum drittletzten Sonntag des Kirchenjahres
Psalm 85,9–14
9 Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten. 10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; 11 dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; 12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; 13 dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe; 14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.
Lukas 17,20–24
20 Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; 21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. 23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! 24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.
Predigt zu Psalm 85
Sind Sie schon mittendrin? „Mittendrin statt nur dabei.“ Ein Werbeslogan, der direkt aus der Bibel kommen könnte. Wo ist Gottes Reich? Es ist schon mitten unter euch! Naja. Es ist so eine Sache mit den Werbeslogans. Wie wahr sie sind, wie viel Wirklichkeit in ihnen steckt, muss sich erst noch zeigen. Vielleicht sogar bei Gott und seinen Verheißungen?
„Könnte ich doch hören“ – so haben wir mit Psalm 85 gebetet. Könnten wir doch sehen, dass Frieden da ist. Könnten wir doch erleben, dass sich Ost und West, Nord und Süd, Schwarz und Weiß die Hand reichen und herzlich und freundlich miteinander umgehen. Dann wäre das Reich Gottes bei uns angekommen. Und wir säßen mittendrin in seinem Friedensreich. Manchmal, vielleicht auch heute, scheint Gott so weit weg zu sein. Ob er am Ende gar das Handtuch wirft? Es war einmal anders. Sogar im Psalm sagt einer: „Früher war alles besser.“ Jedenfalls beginnt so Psalm 85:
2 Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Jakobs; 3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und all ihre Sünde bedeckt hast; 4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns: 5 Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
Ich mag diese Übersetzung. Bei einer schnellen und gewiss nur oberflächlichen Durchsicht anderer Bibeln habe ich doch nur bei Luther dieses schöne Wort „vormals“ gefunden. Es betont, was auch ohne das Wort in den ersten Versen klar wird: „Gott, so war das damals. So bist du gewesen. So hast du gehandelt. Einst, vormals, früher. Da war alles besser, als du gnädig gewesen bist. Da war das Leben behütet, als du die Schuld bedeckt hast. Da konnten wir durchatmen, als du nicht zornig gewesen bist.
Offensichtlich ist es nicht mehr so. Sonst würden die Söhne Korach – so werden die Autoren benannt – ihr Lied so nicht beginnen. Und ich fühle mich erinnert an den Spruch, der so oft in vieler Munde ist: Früher war alles besser. War nicht sogar in der Kirche früher alles besser? Mehr Menschen, tiefer Glaube, klares Bekenntnis, Verbindlichkeit, ein Ort der Ruhe und des Friedens. Manchmal gehen wir mit den gleichen hängenden Ohren durch unsere Straßen wie die Psalmensänger damals. Oft reicht es nicht einmal zu einer lauten Klage. Die Hände über dem Kopf zusammenschlagen ob all der Ungerechtigkeit?
Viele sind abgestumpft. Es gibt zu viele schlechte Nachrichten – und wir laden uns damit voll über Zeitung, Rundfunk und Fernsehen und erst recht über die Sozialen Medien. Wer resigniert, hat nicht mehr die Kraft, sich zu erheben. Wer resigniert, kann nicht einmal mehr aufschreien. Früher, ja damals.
Was mich zuerst bewegt: Steckt in mir überhaupt noch die Sehnsucht nach Frieden? Sehne ich mich noch nach Gerechtigkeit? Oft bin ich eher eingelullt. Wenn mich nur keiner in meiner kleinen Welt stört. Sie mag zwar auch nicht ganz heil sein, aber es ist zum Aushalten. Und ich erschrecke bei dem Gedanken. Wo ist das Leben hin, die Lebendigkeit? Denn dieser Art Gleichgültigkeit fallen nicht nur Zorn und Wut zum Opfer. Mit ihr gehen auch Freude und Lebenslust verloren. Ob das anders werden kann? Vielleicht gibt es einen Geist von früher, ja. Oder vielleicht sogar etwas Neues, das stärker ist.
„Das Reich Gottes ist mitten unter euch“, sagt Jesus. Und eine lange Zeit vor ihm bitten die Söhne Korach darum, dass Gott wieder mittendrin ist. Dass sie wieder mittendrin sein können in seinem lebendigen, gerechten Reich. Sie wollen wieder in einem Frieden leben, der sich nicht in sich zurückgezogen hat, in Resignation mit einem Hauch Selbstzufriedenheit. Im Gegenteil – krachen soll es vor Freude, der Himmel soll die Erde berühren, so sehr, dass sich Gerechtigkeit und Frieden auf der Straße küssen und ein Freudenfest feiern.
Träumerei? Ich schaue noch einmal im Psalm nach und merke: Die tun etwas dafür, dass das Leben wieder lebendig wird. Die singen nicht nur Psalmen im Tempel, abgeschieden von der Welt. Die erinnern sich an Gott und daran, wie es früher mit ihm war. Nur dass sie nicht in der Vergangenheit stehen bleiben. Sie blicken darauf, wie Gott schon gehandelt hat. Er hat „die Gefangenen Jakobs“ erlöst. Daran erinnern sich die Juden jedes Jahr – wie Gott sein Volk aus Ägypten befreit hat und welches Fest das war, das sie nach der Rettung am Schilfmeer gefeiert haben. Mirjam schlägt auf die Pauke, Mose singt, alle tanzen. So war das.
Haben wir nicht auch diese Erinnerungsfeste? Gott wird Mensch und wir feiern mit viel Licht und leckeren Speisen. Warum eigentlich? Um es drei Tage später wieder zu vergessen? Weil es im Grunde ja nicht so gewesen sein kann? Jesus besiegt den Tod. Und wir feiern – mit Ostereiern und bunten Sträußen, rufen uns zu: „Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.“ Wobei wir diesen Wechsel manchmal schon im Gottesdienst üben müssen. Weil wir es nicht mehr so recht glauben?
Die Erinnerung ist gut. Das bewegt mich in diesem Psalm. Gott hat gehandelt. Das ist eine Tatsache. Das sind sogar viele Tatsachen. Vielleicht fällt uns sogar ein, wo er bei uns gehandelt hat. Klar – die große Geschichte steht uns in diesen Tagen wieder vor Augen. Am 9. November fiel die Mauer. Das hat viele rausgerissen, hinein in die Nacht, die plötzlich nicht mehr dunkel war. Aber sind da nicht auch die kleinen Geschichten, in denen Gott uns begegnet ist? Erinnern ist gut. Davon reden ist gut. Nicht um die Vergangenheit zu verklären. Aber wir könnten doch auf die Idee kommen und Gott bitten:
„Gott, mach dich auf den Weg zu uns! Reiß deinen Himmel auf! Die Welt liegt im Argen. Gott, greif ein! Mach uns lebendig! Fülle uns mit Sehnsucht, die losgeht. Fülle uns mit Geist, der uns nicht mehr stillsitzen lässt. Damit unsere Lieder lauter klingen, damit unsere Freude wächst, damit unser Mut groß wird für uns und diese Welt.“
„Könnte ich doch hören“, sagen die Beter im Psalm. Dann bricht es aus ihnen heraus: „Doch ist ja seine Hilfe nahe.“ Und alles kommt, was sie erhoffen: Ehre – und vielleicht Menschenwürde? – halten Einzug. Güte breitet sich aus wie ein warmer, schützender Mantel. Treue wächst in den Himmel hinein. Das Land wird fruchtbar. Und das meint gewiss mehr als nur den Ackerboden. Könnte? Nein! Gott kommt und das wird so. Das ist sogar schon so. Am Himmel geht ein Fenster auf und die Gerechtigkeit lehnt sich auf das himmlische Fensterbrett. Sie lugt auf die Erde herab und was sie sieht, lässt sie schmunzeln und strahlen. Sie springt runter, nimmt den Frieden in den Arm, küsst ihn und sie tanzen durch die Straßen. Ich kann mich diesem Bild nicht entziehen.
Wann glauben wir es wieder, dass Gott uns wohlgesonnen ist? Wann packt uns diese Hoffnung wieder so sehr, dass wir mit ihr in unseren Tag gehen? Ich muss – sieben Wochen zu früh – an Weihnachten denken. Zugegeben: für Geschenke ist das schon knapp. Aber die habe ich auch nicht im Sinn. Wie singen die Engel? „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Ja, ja, denke ich. „Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Land.“ Irrtum! Das gilt immer noch. Und das entdecke ich im 85. Psalm. Erinnern. Und dann merken: Ich bin gemeint. Wir sind gemeint. Gott kommt zu uns.
Mit der Sehnsucht beginnt es. Und zwar mit einer Sehnsucht, die nicht die Vergangenheit verklärt, sondern die aus ihr lernt. Gott hat gehandelt. Er ist gekommen. Er ist mitten bei seinen Menschen gewesen – in der Sklaverei, schon in der einsamen Wanderung eines Abraham, im Exil in Babylon. Er ist mit uns unterwegs gewesen – mit den Jüngerinnen und Jüngern, in der Besatzung durch die Römer und sogar im Tod. Gott war da 1989. Er war da, als irgendwo ein Kind geboren wurde. Er war da, als eine alte Oma in Frieden sagen konnte: „Ich gehe jetzt heim“, und sie starb in Gottes Arme hinein. Er war da, als sich Menschen versöhnten, als Flüchtlinge Aufnahme fanden und sie und selbst zu einem Zeugnis wurden für Hilfe und Freundlichkeit. Er war da beim Gespräch am Krankenbett, beim Besuch eines Geburtstagskindes – und von dem ich getröstet weg ging, obwohl ich selbst doch Trost bringen wollte.
Immer noch ist diese Sehnsucht nach Gott da. Und sie wagt zu beten: „Gott, komm heute. Komm jetzt!“ Sie beruft sich auf die Erinnerung: „Du bist gnädig Gott. Ich selbst habe es erlebt. Andere haben es erlebt. Und deswegen: Sei es wieder. Erbarme dich heute!“ Deswegen können wir auch handeln. Wir können uns in Frieden begegnen. Und auch wenn wir uns nicht gleich alle küssen, lächeln wir und strahlen und geben Gottes Freundlichkeit weiter. Vormals? Daraus soll Gegenwart werden. Gegenwart Gottes, die wohltut, die Leben schafft und es fördert. Wir sind beschenkt und lassen uns anstiften zum Frieden. Das ist eine Eigenschaft der Kinder Gottes – unsere Eigenschaft. Wir bringen Frieden und Gottes Heil, das er nicht geben könnte, sondern das er gibt. Heute. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren.