Gedanken zum Pfingstfest
Pfingsten ist so ein richtiger Vorher-Nachher-Tag: Davor fast keine Bewegung, danach geht’s rund. Davor zurückgezogene Jüngerinnen und Jünger, danach mutige Predigt mitten in der Stadt Jerusalem. Davor einige, die mit Jesus unterwegs waren. Danach entsteht im Lauf von wenigen Jahrzehnten eine Kirche, die heute die ganze Welt umspannt. Und diese Kirche war zur Zeit von Paulus in der ganzen damals bekannten Welt ums Mittelmeer etabliert.
Pfingsten – der Vorher-Nachher-Tag. Bevor etwas Neues beginnen kann, muss etwas anderes zu Ende gebracht sein. Und genauso beginnt der Apostel Paulus seine Gedanken über „das neue Leben im Geist“. Im 8. Kapitel des Römerbriefs beschreibt er dieses Leben. Hören wir mal kurz hinein in vier Verse (Römer 8,1–2.10–11):
Es gibt also keine Verurteilung mehr für die, die zu Christus Jesus gehören. Das bewirkt das Gesetz, das vom Geist Gottes bestimmt ist. Es ist das Gesetz, das Leben schenkt durch die Zugehörigkeit zu Christus Jesus. Es hat dich befreit von dem alten Gesetz, das von der Sünde bestimmt ist und den Tod bringt.
Wenn Christus jedoch in euch gegenwärtig ist, dann ist euer Leib zwar tot aufgrund der Sünde. Aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Gott euch als gerecht angenommen hat. Es ist derselbe Geist Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Wenn dieser Geist nun in euch wohnt, dann gilt: Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, wird auch eurem sterblichen Leib das Leben schenken. Das geschieht durch seinen Geist, der in euch wohnt.
Vorher – nachher. Vorher: Ein altes Gesetz, das uns sehr gut bekannt ist. Es hat verschieden Namen und verschiedene Paragraphen. So heißt einer der Paragraphen „Wie du mir, so ich dir.“ Isst du meinen Schokoriegel, dann esse ich alle deine Erdbeerbonbons. Lässt du deine Hecke über den Zaun wachsen, mähe ich Rasen, wenn du gerade von der Nachtschicht ausschlafen willst. „Wie du mir, so ich dir“, oder auch „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ein anderer Paragraph heißt: „Einmal Sünder, immer Sünder.“ Das Wort ist unpopulär, aber es lässt sich ja auch moderner formulieren: „Einmal Betrüger, immer Betrüger. Einmal Dieb, immer Dieb.“ Wer unten ist, kommt so schnell nicht wieder hoch. Wer kann dem noch trauen, der mal im Knast saß?
Und stellt sich Gott nicht als jemand vor, der absolut gerecht ist? Wenn der nun ernst macht mit „Auge um Auge“? Gott, dann bin ich raus. Gott, dann bin ich tot – für dich. Und Gott sagt: „Ja, warst du. Du warst raus, hattest keinen Zugang zum Himmel. Das Paradies war dir versperrt. Der Kontakt zu mir? Undenkbar.“ Bis Jesus kam und die Tür aufgeschlossen hat. Bis Jesus dieses „Auge um Auge“ durchbrochen hat. „Schluss damit“, sagt Jesus. „Wer glaubt, hat das ewige Leben. Und wird nicht mehr angeklagt. Nie wieder.“ „Es gibt keine Verurteilung mehr für die, die zu Jesus gehören!“
Jetzt kann es losgehen! Jetzt beginnt das Neue, nachdem Gott selbst unter das alte Gesetz einen Schlussstrich gezogen hat. „Der Geist erfüllt euch mit Leben“, schreibt Paulus. Oder noch prägnanter bei Luther: „Der Geist aber ist Leben.“ Wir leben im Zeitalter der Begeisterung. Seit Jesus die Versöhnung zwischen Menschen und Gott erwirkt hat, seitdem er am Kreuz alle Schuld aus der Welt geschafft hat, leben wir mit einem neuen Leben. Oder besser noch: Leben wir in einem neuen Leben.
Moment mal. Ich stolpere über meine eigenen Worte. Und vielleicht stolpern Sie ja gleich mit mir zusammen. „Zeitalter der Begeisterung“? Bund und Bahn haben das 9‑Euro-Ticket eingeführt. Die Kommentare in Deutschland – und ich bin einer, der da in die gleiche Kerbe haut, das gebe ich freimütig zu: Das kriegt die Bahn gar nicht hin. Es fehlen ihr die Waggons und vor allem das Personal. Kann also nicht funktionieren. Der Bund führt einen Tankrabatt ein. Das kann nicht gehen. Die Konzerne bereichern sich daran, aber der Bürger merkt nichts davon. Und außerdem werden am 1. Juni erst mal alle Tankstellen leergetankt sein.
Begeisterung sieht anders aus. Dieser Tage sah ich ein kurzes Interview mit einem Soziologen und Mobilitätsforscher. Er bekam genau diese kritischen Fragen vorgelegt, die viele so gerne ins Feld führen. Und was macht er? Er strahlt in die Kamera und sagt sinngemäß: Erst einmal das Gute daran sehen. Die Leute könnten entdecken, dass Bahnfahren toll ist. Auch wenn Züge voller sind, wird der Nahverkehr von vielen erstmals wahrgenommen. Das ist doch toll. Klar hat er eingeräumt, dass das Ganze auch seine Tücken hat – angefangen beim fehlenden Nahverkehr auf dem Land bis hin zu vollen Zügen. Aber: erst einmal die positiven Effekte sehen, begeistern lassen.
Weg von diesem Thema, über das ich nicht streiten will. Aber so ist es oft. Es gibt eine Idee, die einen im Grunde begeistern müsste, und viele reagieren nur mit kritischen Nachfragen. Zeitalter der Begeisterung? Vielleicht noch beim Fußball. Aber nur wenn die eigene Mannschaft gewinnt. Das „Aber“ scheint uns angeboren zu sein. Selbst im Schönsten finden wir es ganz schnell. Ja, ein toller Sonnenuntergang. Aber der Wind. Ja, ein ganz leckeres Eis, aber die Wespen. Ja, Gott hat mich erlöst. Aber …
Aber was? Fehlt mir der Geist? Oder lasse ich ihn nur nicht wirken? Fehlt mir das Gefühl dafür, was es bedeutet erlöst zu sein? Kann ich die unendliche Güte Gottes nicht wahrnehmen?
Petrus predigt auf dem Marktplatz in Jerusalem, 3.000 kommen zum Glauben – und die Kritiker halten ihn für besoffen (Apostelgeschichte 2). 3.000 kommen zum Glauben und mancher sagt: Oah, ob das ernst ist? Ob die wirklich glauben? Müssten die nicht auch erst einmal drei Jahre mit Jesus durch Galiläa und Judäa und Samarien ziehen? Die hatten doch gar keinen Konfirmandenunterricht? Die können das Glaubensbekenntnis gar nicht auswendig? Was es beides damals noch nicht gab, aber so stelle ich mir manche Frage auch vor. 3.000 neue Gemeindeglieder? Da müssten wir die Stadtkirche erweitern. Ich hör‘ schon den Denkmalschutz, der mir sagen will, dass das nicht geht.
Ich muss noch einmal Paulus zitieren: „Aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Gott euch als gerecht angenommen hat. Es ist derselbe Geist Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Wenn dieser Geist nun in euch wohnt, dann gilt: Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, wird auch eurem sterblichen Leib das Leben schenken. Das geschieht durch seinen Geist, der in euch wohnt.“
Wir sind gewohnt, bei solchen Worten sofort an das Jenseits zu denken, an die Auferweckung der Toten. „… der wird auch eurem sterblichen Leib das Leben schenken.“ Klar. In der Ewigkeit. In ferner Zukunft.
Was, wenn das tatsächlich jetzt schon für unseren sterblichen Leib gilt? Wenn Gott uns so, wie wir sind, wahrhaft begeistern würde und könnte – oder wenn wir das zuließen? Sollte es Gott unmöglich sein, uns ein derart neues Leben einzuhauchen, das alle Grenzen sprengt, das uns sprühen lässt vor Begeisterung und das andere mit hineinreißt in den Strom des Lebens? Manchmal denken wir so, oder? Wir denken es nicht direkt über Gott. Dem ist ja alles möglich. Das möchten wir auch nicht abstreiten. Aber doch nicht mit uns:
Ich bin zu schwach. Ich bin schon zu alt. Ich habe die Bibel noch nicht ganz durchgelesen. Ich weiß doch viel zu wenig von Gott. Mein Glaube ist zu klein. Ich bin auch nicht zufrieden mit meiner Kirche. Wir sind doch zu unbeweglich. Ich kann nicht singen. Wenn ich andern von Jesus erzählen soll, stottere ich und werde rot. Alles Kennzeichen von dem, was man als „sterblichen Leib“ verstehen könnte – eben das, was wir von uns aus können, oder auch nicht können.
Gott kann alles. Aber ich doch nicht. Und wir merken dabei gar nicht, dass wir damit sagen: Gott kann das doch nicht. Weil er ja von mir abhängig ist, von meinen Fähigkeiten, von meinem Glauben.
Ist er aber nicht. Es geht um den Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Der bewegt uns – oder will es zumindest. Der wohnt in uns. Vielleicht geben wir ihm aber nur ein kleines Kämmerlein, das wir auch gut verschließen. Wir könnten sonst die Kontrolle verlieren über uns und den Geist.
Das Neue hat mit Pfingsten angefangen. Gott geizt nicht mit seinem Geist. Er gießt ihn aus. Er gießt ihn über uns aus und in uns hinein. Das Zeitalter der Begeisterung von Gott ist seit 2.000 Jahren da. Und ich sehne mich danach, dass ich selbst davon mehr angesteckt werde. Und dass meine Kirche, die Menschen um mich her, davon angesteckt werden. Ich sehne mich nach diesem lebendigen Leben – ich muss einfach diese doppelte Beschreibung wählen. Ich wünsche mir dieses lebendige Leben. Das gilt doch nicht erst in der Zukunft, in der Ewigkeit. Das gilt doch heute schon. Was da alles passieren könnte, wenn wir uns von Gott begeistern lassen und uns dem Geist öffnen und ihn mal machen lassen.
Wissen Sie, an was ich mich in dem Zusammenhang wirklich voller Freude und Begeisterung erinnere? An den Schluss unseres Gottesdienstes am Sonntag „Kantate“. Wir sind rausgegangen. Und wir haben auf dem Kirchplatz gesungen. Draußen, vor der Kirche. Und ein paar Leute, die vorbeikamen, sind stehen geblieben, haben gelauscht, sich gewundert. Vielleicht hat sich auch jemand geärgert, weil auf einmal Gott in seinen sonntäglichen Alltag einbrach durch eine lebendige Kirchengemeinde auf dem Kirchplatz. Das war toll.
Lasst mehr solcher Momente zu. Wir leben! Wir haben das ewige Leben. Und jeder, der an Jesus glaubt, bekommt dieses Leben. Gottes Geist weht. Das lesen wir in der Pfingstgeschichte und in den Worten von Paulus. Setzen wir die Segel und lassen uns davon bewegen. Öffnen wir die Luken und lassen uns durchwehen von diesem Geist. Ich will’s üben und mich trauen. Vielleicht machen Sie mit.