Wer macht’s richtig? Wo darf man beten? Gedanken über ein Gespräch zwischen Jesus (Jude) und einer Frau (Samaritanerin) im Gottesdienst am Pfingstmontag.
Vor der Predigt wurde das Lied: “Du bist heilig, du bringst Heil” gesungen.
Johannes 4,19–26
Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir aber wissen, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.
Wer macht’s richtig?
„Du bist heilig. Alle Welt schaue auf dich.“ Wir würden uns ja freuen, wenn das mal so sein würde: Alle schauen auf Jesus. Alle erkennen ihn. Niemand zweifelt, weil jeder ihn einfach sieht. Und keinem muss man es erklären oder begründen. Ist einfach so. Wenn wir alle eins wären, das wäre doch toll. Davon träumten die Propheten im alten Israel. Davon träumten die Christen im ersten Jahrhundert.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Allein in Wittenberg haben wir nicht nur evangelische und katholische Christen, die in den beiden großen Kirchen organisiert sind. Wir haben genauso die vielen Christen, die sich in den verschiedenen Freikirchen zusammengeschlossen haben. Adventisten, Baptisten, CVJM und EC, Jesusgemeinde, Landeskirchliche Gemeinschaft. Fast zum Schmunzeln: Wir Evangelische teilen uns ja sogar selbst und haben auf wenigen Metern Distanz die Stadt- und die Schlosskirchengemeinde.
Ich stelle mir vor, wie wir alle am Marktbrunnen zusammenkommen – und Jesus mittendrin. „Wir feiern Gottesdienst so. Und das ist richtig.“ „Ja, da ist schon viel Richtiges dabei, aber wir feiern ihn ein bisschen richtiger.“ „Hört auf zu streiten. Wir sind die ältesten Christen hier in der Stadt. Richtiger als bei uns geht’s ja wohl schon historisch gar nicht.“
Ich sag’s gleich: Zum Glück ist das nicht so. Wir haben unsere Eigenarten und manchmal stellen wir auch in Frage, was ein anderer tut. Doch in Vielem sind wir eins – Gott sei Dank dafür.
2000 Jahre zurück zu einer anderen Art Konfessionsgespräch. Wir sind ja mittendrin eingestiegen in die Situation. Darum kurz der Rahmen (Johannes 4,1–18). Jesus unterhält sich mit einer Frau. Auch sie stehen – wie die Wittenberger meiner Fiktion – an einem Brunnen. Einer der Erzväter Israels, einer der drei Urahnen – Jakob – hat ihn vor langer Zeit einmal gegraben. Zur Zeit Jesu wohnen dort drumherum die Samaritaner. Im Grunde sind das auch Israeliten. Aber sie haben sich vor etlichen Jahrhunderten mit anderen Völkern vermischt. Und als nach dem Exil in Babylon die Stadt Jerusalem und vor allem der Tempel wieder aufgebaut wurden, durften sie wegen dieser Vermischung nicht mitbauen. Da haben sie sich auf dem Berg Garizim, den die Frau hier im Blick hat, einen eigenen Tempel hingestellt und gesagt: „So, hier ist der richtige Tempel. Denn wir glauben richtiger als ihr.“
Der Gedanke kam nicht von ungefähr. Als die Israeliten unter der Leitung von Josua etliche Jahrhunderte zuvor in das gelobte Land hineinkamen, sollten Priester von dem Berg Garizim Segensworte über das Volk aussprechen (Deuteronomium 11,29). Und das war nun der Heilige Berg der Samaritaner. Der Zank um den richtigen Berg, den richtigen Tempel hielt dann an. Die Samaritaner gibt es übrigens heute noch. Laut Wikipedia sind es um die 840 Menschen, die sich zu dieser Glaubensrichtung zählen. Das nur nebenbei.
Jesus, was ist nun richtig? Jesus, wo ist der richtige Ort? Jesus, wer hat Recht?
Manchmal bleiben wir auch heute bei diesen Fragen stehen. Von der Einheit sind wir immer noch ein Stück entfernt. Mal kommen wir näher dran, mal liegt wieder mehr Abstand zwischen uns. Und das ist nicht nur zwischen den vielen christlichen Gemeinden so – über Wittenberg hinaus weltweit gesehen. Das begegnet uns doch sogar innerhalb einer Gemeinde. Vieles ist geliebte und auch gute Tradition. Für die einen. Für die anderen ist es völlig fremd.
Die richtige liturgische Farbe am Altar oder der Stola dürfte Jesus ziemlich gleichgültig gewesen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er da viel gewechselt hat. Es ist ein gutes Mittel, um die Kirchenjahreszeiten zu unterscheiden. Es sieht auch schön aus. Aber es ist einfach nur eine Tradition. Nicht schlecht deswegen. Aber doch einfach menschlich überlegt.
Manche kommen mit Hut oder Mütze in die Kirche. Im Winter auf alle Fälle sinnvoll, auch für Männer und Jungen. In der Kirche wird die Mütze aber bitteschön abgesetzt. Könnte man sie nicht auflassen? Sie würde den Kopf warmhalten. Da ist schon mancher Zank entstanden. Mit Glauben hat das aber gar nichts zu tun. Vielleicht nicht einmal mit Respekt. Es ist Tradition. Nicht mehr, nicht weniger.
„Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll.“ Jesus, wer hat Recht? Die Frau am Brunnen spricht die Frage nicht aus. Aber sie schwingt mit. Und Jesus öffnet eine Tür: „Schau mal ins Weite. Es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.“
Es ist noch vor Pfingsten bei diesem Gespräch. Gott wird im Tempel angebetet – sei es bei den Samaritanern oder bei den Juden. Es gibt einen festen Ort, an dem Menschen Gott begegnen. Gewiss ist Gott nicht darauf festgelegt. Das sagt er selbst. Das sagt Salomo, als er den Tempel einweiht, den er für Gott gebaut hat (1. Könige 8). Aber doch ist der Tempel der besondere Ort, an dem Gott wohnt. Dort bringen die Menschen Opfer dar. Dort wird rund um die Uhr gelobt, gesungen, gebetet. „Es kommt die Zeit, in der Menschen nicht nur in Jerusalem, sondern überall auf der Welt zu Gott beten und ihn loben und feiern.“
Ein Wort – uns ist es heute vertraut – lässt mich aufhorchen: „Weder auf dem Berg Garizim alleine noch in Jerusalem alleine werdet ihr den VATER anbeten“, sagt Jesus. Gott als Vater? Der Gedanke ist den Juden und Samaritanern durchaus vertraut. „Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name“, hat der Prophet Jesaja aufgeschrieben (Jesaja 63,16) „Ist Gott nicht dein Vater und dein Herr? Ist’s nicht er allein, der dich gemacht und bereitet hat?“, steht im 5. Buch Mose (Deuteronomium 32,6b). Aber selten reden die Menschen Gott wirklich so an. Gott ist wohl der Gott der Väter. „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ – so wird er häufig angesprochen oder beschrieben. Aber „Unser Vater“ sagen die Menschen in der Regel nicht.
Uns kommt es leicht von den Lippen, sogar in der etwas verdrehten Form „Vater unser im Himmel“. Aber Jesu Zeitgenossen kennen das noch nicht. Die Jünger lernen erst von Jesus diese Art, mit Gott zu sprechen.
Es kommt die Zeit, da wird das anders werden. Wir reden zu Gott als zu unserem himmlischen Vater, der uns über alles liebt. Und wir feiern ihn überall auf der Welt – und auch nicht nur in den vielen Kirchen und Gemeindehäusern. Öffne die Augen. Öffne die Tür. Geh hinaus ins Weite. Der Türöffner dafür ist Gottes Geist. Das ist ganz wörtlich zu verstehen. Erinnern wir uns an die Pfingstgeschichte.
Die Jüngerinnen und Jünger waren zusammen – hinter verschlossenen Türen. Das berichten die Ostergeschichten. Nicht mal Jesus kam auf dem regulären Weg rein. Der betrat den Raum, wo die Jünger zusammen waren, obwohl die Tür verschlossen war. Am Pfingsttag war es wohl auch so. Die Freunde Jesu hatten sich wieder getroffen, waren zusammen in einem Haus. Die Tür vermutlich zu. Und dann weht der Geist in diesem Haus, Gottes Geist (Apostelgeschichte 2). Der weht zuerst in ihre Herzen hinein und begeistert sie. Der lässt ihre Herzen entflammen. Da lodert auf einmal ein Feuer in ihnen, kraftvoll, brausend, hell. Sie sind Feuer und Flamme – eben begeistert. Und nun fliegt die Tür auf und die Jünger gehen auf die Straße. Der Geist hat die Türen geöffnet – die Türen ihres Herzens, die Türen ihres Verstandes – und die Haustür.
Raus, raus in die Welt. Raus, mitten unter die vielen Menschen, die in Jerusalem waren. Einwohner und Pilger waren ja zusammen zum Pfingstfest. Es ist das Wochenfest, das 50 Tage nach dem Passafest gefeiert wird. Eines der großen Wallfahrtsfeste im Judentum. 50 Tage – griechisch pentecoste hemera – da kommt unser Name Pfingsten her.
Der Geist Gottes öffnet die Herzen, er öffnet die Türen und Menschen gehen raus, um von ihm begeistert zu erzählen. Es kommt die Zeit, in der Menschen nicht mehr nur in Tempeln und hinter verschlossenen Türen beten. Es kommt die Zeit, in der Menschen nicht nur zu bestimmen Zeiten und an festgelegten Orten Gott feiern. Es kommt die Zeit, wo Menschen als Kinder Gottes mit ihrem Gott und himmlischen Vater zusammensind. Das fängt mit Pfingsten an und dann weht Gottes Geist durch die ganze Welt. Jesus sagte seinen Jüngern bei seinem Abschied, bei seiner Himmelfahrt:
„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.“ (Apostelgeschichte 1,8)
Öffnet die Augen. Geht hinaus in die Weite, die Gott euch zeigt und die sein Geist euch öffnet.
Ja, aber wie beten wir denn nun richtig? Das muss doch mal geklärt werden, Jesus. Evangelisch, katholisch, pfingstlerisch, freikirchlich? Mit erhobenen Händen? Im Sitzen oder Stehen? Mit Orgelmusik oder doch lieber mit Band? Dürfen es auch Blockflöten sein? Lieber a cappella? Muss da ein Altar in der Mitte stehen oder vor uns? Darf der so bunt sein wie unserer hier oder doch lieber nur aus 12 unbehauenen Steinen gebaut sein? Mütze auf oder ab? Wer darf überhaupt laut beten? Nur Priester und Pfarrerinnen oder auf andere Gemeindeglieder? Ach du liebe Zeit – was ist denn eigentlich mit den Kindern? Jesus, sag’s uns.
Und Jesus sagt es: 1. Ihr werdet den Vater, euren himmlischen Vater anbeten. 2. Gottes Geist leitet euch, wenn ihr betet. 3. Gottes Wahrheit wird in euch sein – ihr werdet wissen, mit wem ihr redet.
Auf einmal geht es gar nicht mehr um den Berg der Samaritaner oder den der Juden. Es geht nicht mehr um den richtigen irdischen Ort. Es geht nicht um Kirchen und Gemeindehäuser, um Priester oder Laien, um Altar oder Küchentisch.
Gott ist euer Gott. Nein, noch konkreter: Gott ist dein Gott, du Mensch in der ersten Bank und oben auf der Empore und mittendrin. Gott ist dein Gott, du alter Mensch und du junger Mensch. Gott wendet sich dir zu – ob du heute alleine hier bist oder mit Familie.
Gott sagt zu dir: „Du bist mein Kind. Du brauchst keinen, der dich bei mir vertritt. Du brauchst keinen, der mich bei dir vertritt. Rede zu mir und ich höre dich. Mach dein Herz weit und du hörst mich.“
Wir können das von uns aus nicht verstehen. Wir können das nicht machen. Und schon gar nicht können wir das anderen Menschen befehlen. Gott selbst muss uns das Herz dafür öffnen. Und das macht er, ohne auf Grenzen und menschliche Regeln oder Traditionen zu achten.
Du sehnst dich danach, Gott kennenzulernen? Du willst mit ihm reden und von ihm hören? Mach es einfach. Gottes Geist leitet dich. Der wird dich sehen lassen, wie Gott ist. Der wird dich hören lassen, was für dich gut und wichtig ist. Gottes Geist zeigt uns, wer Gott ist. Wo der einen Menschen erfüllt, fallen Grenzen, tun sich Wege auf.
Ich glaube ja, dass auch der ökumenische Gottesdienst am Pfingstmontag, hier und heute, nur deswegen möglich ist, weil Gottes Geist uns durchweht – nämlich ein und derselbe Geist, der weder evangelisch noch katholisch oder pfingstlerisch oder sonst was ist. Und ich wünsche mir für unsere Stadt eines ganz besonders: Dass noch viel mehr Grenzen fallen und wir sichtbar eins werden. Viel mehr noch, als das schon geschieht.
Am 15. Juni gehen die Stadtgebete wieder los. Jeden Donnerstag um 17 Uhr auf dem Marktplatz, in aller Öffentlichkeit, treffen sich Christen aus Wittenberg, um für die Stadt zu beten. Da machen viele Gemeinden mit. Im Januar hatten wir die Allianzgebetswoche, sind durch die verschiedenen Gemeindehäuser und Kirchen gezogen – und immer hat ein anderer Gottes Wort ausgelegt und wir haben miteinander gebetet. Die Türen waren offen. Und beim Stadtgebet gibt es gar keine Türen, wenn wir unter freiem Himmel sind.
Natürlich brauchen wir unsere Häuser, Gemeindehäuser und Kirchen. Wir brauchen auch unsere Traditionen. Damit wir nicht jedes Mal Gottesdienste neu erfinden müssen. Damit wir auch bei Regenwetter im Trockenen feiern können. Damit wir Gemeinschaft leben können. Damit wir vertraute Menschen um uns haben. Intensiver Kontakt und tiefe Gemeinschaft braucht auch kleinere Räume, sonst verlieren wir uns.
Aber wir brauchen diese Räume und die Traditionen nicht, um uns abzugrenzen voneinander. Wir brauchen sie, um Gott auf vielfältige Weise zu ehren. Wir haben einen so reichen Schatz an Liedern, an Gebeten, an der Art, wie wir einen Gottesdienstraum gestalten. Wir haben einen so reichen Schatz vor allem an Menschen, die so großartig sind. Jede kann etwas anderes. Jeder findet andere Worte beim Beten. In jedem Menschen ruft Gottes Geist andere Gaben hervor.
Entdecken wir diese Vielfalt. Entdecken wir Gott selbst in dieser Vielfalt. Machen wir unsere Herzenstür für Gottes Geist auf und lassen wir uns rauswehen, hin zueinander und zu den Menschen unserer Stadt.
Es kommt die Zeit, in der Gott in der Mitte steht. Es kommt die Zeit, in der es um Jesus allein geht. Es kommt die Zeit, in der wir noch viel mehr gemeinsam Gott loben und feiern und anderen von ihm erzählen. Und ich bete darum, dass diese Zeit jetzt ist.