Palmsonntag. Jesus zieht in Jerusalem ein. Jubelrufe. Der König kommt. Aber wer ist dieser König? Jesus ist doch ein einfacher Mensch, ein Wanderprediger, ein bekannter Lehrer. Aber König? Der Gottesdienst am Palmsonntag geht der Frage nach, wer da kommt.
Vor der Predigt wird das Lied “Dein König kommt in niedern Hüllen” gesungen:
(Evangelisches Gesangbuch Nr. 14)
1.) Dein König kommt in niedern Hüllen,
ihn trägt der lastbarn Es’lin Füllen,
empfang ihn froh, Jerusalem!
Trag ihm entgegen Friedenspalmen,
bestreu den Pfad mit grünen Halmen;
so ist’s dem Herren angenehm.
3.) Dein Reich ist nicht von dieser Erden,
doch aller Erde Reiche werden
dem, das du gründest, untertan.
Bewaffnet mit des Glaubens Worten
zieht deine Schar nach allen Orten
der Welt hinaus und macht dir Bahn.
(Friedrich Rückert)
Der König kommt. Die Fähnchenschwinger und jubelnden Massen stehen am Straßenrand und begrüßen ihn. Unwillkürlich denke ich an die Krönungsfeier von King Charles. Eine unüberschaubare Menschenmenge säumte die Straßen bei der „Coronation Procession“.
Der König kommt. „Die große Menge“, schreibt Johannes „nahm Palmzweige und ging hinaus ihm entgegen.“ (Johannes 12,12–13)
Irgendwie friedlicher und auch kleiner mutet das Lied an, das wir gesungen haben. Liegt es an der Musik? Liegt es an den Worten? Wie groß mag die Schar damals gewesen sein?
Da kommt einer, der in dieser Welt gar keine Macht hat. „Dein Reich ist nicht von dieser Erden“, dichtet Friedrich Rückert in der dritten Strophe des Liedes. Er gibt wieder, was Jesus bei seinem Verhör vor Pilatus gesagt hat (Johannes 18,36): „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“
Wer kommt da? Was verändert er? Und die entscheidende Frage: Will ich den? Willst du den?
Im Philipperbrief ist die vielleicht kürzeste Beschreibung des Königs Jesus – ein Hymnus, ein Loblied auf ihn. Hochkonzentriert fasst es in wenigen Sätzen zusammen, was die Evangelien von Jesus erzählen und was die Christen im ersten Jahrhundert glaubten und anderen weitergaben:
Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. (Philipper 2,5–11)
„Er, der in göttlicher Gestalt war, … nahm Knechtsgestalt an.“ Der König verkleidet sich.
König Drosselbart ist so einer. Er verkleidet sich als Bettler und Spielmann und wischt der hochnäsigen Prinzessin eins aus. Am Ende aber sind sie dann doch glücklich miteinander. Die moderne Variante gibt’s bei RTL. Der „Undercover Boss“ schaut sich an, was seine Angestellten so treiben.
Aber Jesus ist anders. Dieser König verkleidet sich nämlich nicht. „Er nahm Knechtsgestalt an“, er wechselt seine ganze Gestalt. Vorher Gott, jetzt Mensch – und zwar vollständig. Der Philipperbrief betont es dreimal, damit kein Zweifel aufkommt: „nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.“
Noch Fragen? Der zu uns kommt, ist ein Mensch. Gott ist sich nicht zu fein, nicht nur Mensch, sondern sogar ein Knecht zu werden.
Was das bedeutet, können wir heute nachlesen und erinnern daran. Jesus erniedrigt sich so sehr, dass andere Menschen ihn erniedrigen können. Menschen verspotten ihn, bespucken ihn, schlagen ihn. Und töten ihn. Und im Unterschied zu den Bossen, die nur verkleidet unterwegs sind, und zum König Drosselbart kann er nicht aus dieser Gestalt herausschlüpfen. Er will nicht herausschlüpfen. Er legt die Kleider des Knechts bis zuletzt nicht ab.
Paulus sagt es so dramatisch, wie es an Karfreitag gekommen ist: Jesus war „gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“
Wollen wir den? So einen König, der ohnmächtig am Kreuz hängen wird? „Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen“, spotten manche unterm Kreuz (Matthäus 27,42). Nein, so einen König wollen wir nicht.
Viele denken so. Ein Gott, der sich kreuzigen lässt? Gibt’s doch gar nicht. Beleidige nicht mein Gottesbild. „Den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit“, schreibt Paulus darüber (1. Korinther 1,23).
Viele denken so. Und verpassen die Kraft und den Trost, den der Gott Jesus als wahrer Mensch bringt.
Er beugt sich unter seine Geschöpfe. Er feiert nicht nur die Hochzeit in Kana mit 600 Litern göttlichem Wein; er heilt nicht nur viele Kranke; er weckt nicht nur Tote auf; er lädt nicht nur die Ausgestoßenen an seinen Esstisch. Das alles ist Jesus – und es sind die schönen Geschichten, die wir lieben. Jesus aber geht tiefer. Er weint über Jerusalem. Ihm schießen die Tränen in die Augen, als er am Grab seines Freundes Lazarus steht. Und dann wird er selbst ausgestoßen, getötet und ins Grab gelegt. Da geht kaum noch einer mit. Und an der Grenze des Todes ist für uns eh Schluss. „Jeder stirbt für sich allein“ heißt ein Roman aus dem Jahr 1947. Und menschlich gesehen stimmt das. Durch die Tür des Todes geht keiner mit. Nur Jesus. Der geht ins Grab. Und kommt wieder heraus.
Wer kommt? Ich sehe einen Menschen, der wirklich mitgeht, der mitleidet, mitträgt, mitweint. Ich sehe einen, der sich nicht zu schade ist dafür, selbst ein Ausgestoßener zu werden, damit er den Ausgestoßenen nahe sein kann. Ich sehe einen, der Schmerzen erleidet und sich nicht mit einem göttlichen Zaubertrick heraushilft. Er wird ein Kranker, damit der den Kranken nahe sein kann. „Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen,“ schreibt der Prophet Jesaja über den Gottesknecht (Jesaja 53,4) – damit ist Jesus gemeint. Die Frage an mich ist: Will ich den? Diesen schwachen Menschen Jesus? Will ich mir den zumuten? Willst du das?
Paulus mutet uns im Philipperbrief aber auch noch etwas anderes zu. „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ Ist das mein Jesus, an den ich glaube, dann folge ich ihm auch. Da klammere ich mich nicht an meinen Status, bei dem alles Niedrigere unter meiner Würde wäre. Da werde ich selbst bereit, an, in und mit dieser Welt zu leiden.
„Seid so gesinnt!“ Werdet Freunde der Armen. Fürchtet euch nicht vor der Seelennacht der Sterbenden. Sprecht laut gegen die, die die Wahrheit verfälschen und Lügen verbreiten. Stellt euch an die Seite derer, die auf Gerechtigkeit hoffen.
Wer es wagt, an Jesu Seite mitzugehen, der kann dann auch das andere wundervolle Geheimnis an ihm entdecken.
Wer kommt? Nicht nur der, der seine Gottheit eintauschte gegen die Knechtsgestalt aller erniedrigten Menschen. Es kommt ja tatsächlich der König. Ich denke, dass die Menschen, die in Jerusalem Jesus zugejubelt haben, noch gar nicht richtig wussten, was dieser König bedeutet. Aber sie haben es schon prophetisch vorweggenommen und laut ausgesprochen: Hier kommt der Friedenskönig. Das war nicht nur Rückbesinnung auf den Propheten Sacharja:
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. (Sacharja 9,9)
Das war – ob sie es ahnten oder nicht – der prophetische Ausblick, von dem auch Paulus im Philipperbrief schreibt. Denn Gott erhebt Jesus. Er bekommt den Namen, der über alle Namen ist. Vor ihm werden sich alle Menschen beugen und sie werden ihn als den Herrn der Herren bekennen. Diese Art der Verehrung, der Anbetung, steht nur Gott allein zu. Und Gott Vater erhebt Jesus in diesen Stand. Oder genauer: Er holt ihn wieder in diese Stellung hinein.
Noch mal ein kurzer Blick in das Lied von Friedrich Rückert:
Dein Reich ist nicht von dieser Erden, doch aller Erde Reiche werden dem, das du gründest, untertan.
Unsere Welt ist nicht das Größte, was es gibt. Die Herren dieser Erde – ob Biden oder Putin, Xi Jinping oder die versammelten europäischen Staatsoberhäupter – sind allesamt Herren von Gottes Gnaden. Die wenigsten benehmen sich so. Sie sind sich dessen nicht bewusst. Sie würden diese Zuschreibung auch ablehnen, wenn sie ihnen einer sagte.
Aber es stimmt trotzdem. Die Fürsten dieser Welt sind begrenzt. Für unsere Augen mögen sie groß sein, aber das sind sie nicht.
„Aller Erde Reiche werden dem, das du gegründet, untertan.“ Die Erfüllung dieser Verheißung wird schon bei Abraham angekündigt. Gott sagt zu ihm: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (Genesis 12,3)
Und eines der bewegendsten Bilder dafür finde ich beim Propheten Micha (Kapitel 4):
In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.
Wer kommt? Der, dem schon alles von Anfang an gehörte und dem es am Ende wieder alles gehören wird. Der umgibt uns schon jetzt mit seinem Königreich, mit seinem Himmelreich.
Was wird das werden, wenn schlicht der Schleier weggehoben wird, der hauchdünn, aber für unsere Augen undurchdringlich, den Blick auf Gottes Reich verstellt. Noch ist es ein wundervolles Geheimnis – aber eins, das wir glauben können und das uns schon jetzt beeinflusst, begleitet und verwandelt.
Wer kommt? Gott, der Schöpfer und Herr der Welt. Und der Mensch Jesus, der in unsere Tiefe bis in den Tod mitgeht.
Was verändert er? Meine Haltung zur Welt. Ich will ihm nachfolgen. Und deswegen sehe ich andere. Deswegen wende ich mich anderen zu, trete für andere ein, lass mir das Leid anderer zu Herzen gehen. Das muss ich noch üben. Aber ich will es üben.
Will ich den? Ja – und zwar den ganzen Jesus, den Gott und den Menschen, den Heiland und Erlöser und den König über die Welt und mein Leben.
Ob ich das schaffe? Da helfen mir die Worte, die Paulus selbst – vermutlich auch ein Stück überwältigt und atemlos vor der Größe Jesu – im Anschluss an den Hymnus formuliert hat (Philipper 2,12.13):
Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
Willst du den?