Predigt zum Sonntag Trinitatis
Voraus geht die Lesung aus Johannes 3,1–13
Eine Art Nicht-Gespräch, fast in loriotscher Manier: „Niemand kann, was du kannst.“„Niemand kann Gott sehen, wenn er nicht von neuem geboren wird.“ „Niemand, der schon alt ist, kann nochmal Kind werden.“ „Ihr müsst aus dem Geist geboren werden. Außerdem: der Wind weht, wo er will.“ „Wie geht das?“ „Das weißt du nicht? Ich weiß es, aber du kannst es gar nicht verstehen.“
Manchmal geht es mir mit der Bibel so. Sie ist mir Gottes Wort. Konkreter noch: Sie ist Gottes Wort für mich mit meinen Fragen, meinen Ideen, dem, was mir Freude macht und was mich gerade anpiept. Und dann lese ich Worte, die ich nicht verstehe; sie haben so gar nichts mit meiner aktuellen Frage zu tun. Ich stehe davor ähnlich wie Nikodemus.
Kennen Sie das auch? Ich glaube, das ist uns allen rein menschlich vertraut, dass da zwei zumindest scheinbar aneinander vorbeireden. Wenn so gar kein Funke überzuspringen scheint, ist das seltsam. Vielleicht wird es beim zweiten Blick auf dieses Gespräch anders, nicht unbedingt für Nikodemus, aber für uns.
Was Nikodemus will, ist erst einmal nicht klar. Er stellt fest, dass Jesus besonders ist. Was er sagt und was er tut, ist so anders als das, was er sonst kennt von religiösen Lehrern. Es steckt mehr Vollmacht drin. Letztlich steckt Gott drin in dem, was Jesus zeigt. Vielleicht es der kleine Halbsatz, der die Einleitung des Nikodemus abschließt, schon die wichtige Überschrift und ein Stück Erklärung: „es sei denn Gott mit ihm.“ Also: Wenn Gott selbst in einem Menschen wirkt, dann kann er solche Zeichen tun, wie Jesus sie vollbrachte. Nur wenn Gott in einem Menschen wirkt, kann ein Mensch so auftreten, reden und handeln wie Jesus.
Was macht Jesus mit dieser Überschrift? Er bricht sie herunter auf das Wichtigste: Wie steht es mit mir und Gott? Wie kommen wir zusammen? Wie kann ich Christ werden und Christ, Nachfolger Jesu, bleiben? Jesus lockt Nikodemus damit aus seinem Versteck hervor. Allgemeine Aussagen über Jesus – die kann doch jeder treffen. Viele sehen ihn ja auch heute als Vorbild. Sie bewundern seinen Mut und seine Konsequenz im Umgang mit den religiösen und politischen Machthabern. Sie sehen seine Güte allen Menschen gegenüber. So menschenfreundlich sollten alle sein. Aber dort, wo Jesus persönlich wird, gehen viele auch auf Distanz. Mein Leben in seine Hände legen? Ihm nachfolgen Schritt für Schritt? Nein, danke. Ich bleibe mein eigener Herr. Ich bewundere dich, Jesus, aber ich kann dir nicht auf jedem Schritt folgen. Und Jesus bringt es gleich in seinem ersten Satz auf den Punkt: Ohne Gottes Wirken geht gar nichts. Und das ist letztlich so radikal, wie es wäre, wenn ein Mensch noch einmal geboren würde.
Was Nikodemus antwortet, ist nicht so viel anders als das, was ich Jesus auch manchmal antworte. „Jesus, das geht aber doch gar nicht. Überleg‘ mal, was du da sagst.“ Wenn ich meinen eigenen Willen, mein eigenes Empfinden Gott gegenüber durchsetzen will – oder auch nur vor mir selbst Recht behalten will – finde ich solche Worte. „Jesus, das geht nicht. Mit dem und der kann ich nun mal nicht. Da gibt es doch andere. Jesus, dein Wort sagt mir heute so gar nichts. Gib mir ein anderes, das ich besser verstehe – und vor allem: dem ich zustimme. Ich soll stillhalten und hoffen? Jesus, ich würde jetzt aber gerne etwas tun. Und Jesus sagt: Werde radikal anders. Werde neu geboren. Wirf alle deine Vorbehalte über Bord. Starte neu.
Jesus erklärt es. Er weist Nikodemus nicht gleich zurück. Er erklärt weiter, geduldig. Ich glaube nicht, dass Nikodemus seine Frage nach der neuen Geburt ganz ernst und so banal meint. Ihm wird schon klar sein, dass Jesus anderes im Sinn hat. Aber er blockt, er ist blockiert. Er mauert und lugt nur ein bisschen hinter seiner Mauer hervor. So kommt es mir vor. Radikal anders, Jesus? Noch nicht. Erkläre es mir noch einmal.
Wasser und Geist – das wird zum Weg, auch innerlich ein Mensch Gottes zu werden. „Es sei denn Gott mit ihm“, dieser Halbsatz klingt für mich hier durch. Denn es blockiert uns etwas, wenn es um Gott geht. Wir leben, wir atmen, lernen zu gehen, zu handeln, zu reden. Wir entdecken die Welt, entschlüsseln viele ihrer Geheimnisse. Wir lernen auch, miteinander umzugehen. Und doch bleibt da etwas gewissermaßen ungeboren. Wir brauchen Gott. Wir sehnen uns nach ihm. Wir fragen nach unserer Herkunft, nach dem Grund für jedes Sein, nach dem Grund für die ganze Welt. Die biologischen Erklärungen reichen uns nicht. Chemie und Physik reichen uns nicht. Selbst der Urknall genügt uns nicht. Zufall ist zu wenig, um unser Leben darauf zu bauen. Und dieses Unbekannte muss noch geboren werden. Weil die Welt viel größer ist, als unser Verstand entdeckt, braucht es für dieses Größere auch ein anderes Leben. Drunter tut es Gott nicht. Nur ein Mensch, der auch in dieser größeren Welt geboren wird, kann anfangen, diese Welt zu entdecken – Gottes geistliche Welt.
Ehrlich? Trotz dieser Worte geht es mir immer noch wie Nikodemus. „Wie mag das zugehen?“, fragt er. Und ich schließe mich ihm an, auch wenn ich dann die gleiche Frage Jesu zu hören bekomme: „Du bist Israels Lehrer und weißt das nicht?“ Du bist Pfarrer und weißt das nicht? Oder sonst ein geistlicher Leiter und weißt es nicht? Mir sind ja Menschen in der Regel lieber, die dieses Geheimnis auch nur als Geheimnis stehen lassen. Wer mir die Sache mit Gott allzu schnell und einfach erklären kann, ist mir manchmal nicht ganz geheuer. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil ich mir selbst nicht so recht traue. Gott ist so groß – wie sollte ich ihn jemals verstehen und fassen können? Und ich werde ihn auch nie so erklären können, dass ein anderer dann anfängt zu glauben. Dann geht das wohl gar nicht, Jesus?
Im Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus scheint es mir auf den ersten Blick so zu sein, dass hier das Ende erreicht ist. Es geht nicht. Ihr könnt Gott nicht begreifen. Menschen können das nicht. Und langsam wird mir das Bild von der neuen Geburt klarer. Das ist nichts, was wir uns selbst ausdenken können. Das geschieht mit uns. Ein Mensch wird geboren. Passiv. Wenn wirklich von gebären die Rede ist, dann ist die Mutter gemeint. Diese gebiert. Das Kind aber ist passiv. Es wird geboren. Und das ist nichts Schlimmes. Ich glaube, darüber hat sich noch nie jemand beklagt, dass er diesen Vorgang nicht selbst erledigen durfte. „Ich wollte mich aber selbst zur Welt bringen. Ihr seid so gemein. Ich hätte das schon geschafft. Aber ihr habt mich nicht machen lassen.“ So etwas habe ich noch nie gehört oder gelesen.
Genauso, sagt Jesus, ist es mit dem geistlichen Menschen. Was da noch ungeboren ist an uns, muss durch Gott zur Welt gebracht werden. Unser Problem: Wir können dann mittlerweile denken und unsere Empfindungen ausdrücken. Wir haben schon so viel geschafft und begriffen. Nikodemus war gewiss kein Dummkopf. Als Pharisäer hat er eine gute Ausbildung genossen. Die Schriften kannte er zum großen Teil wohl auswendig. Und dass Jesus ihn als einen Lehrer Israels bezeichnet, ist kein Spott. Nikodemus hat selbst viel gelernt und lehrt. Kein Wunder, dass es ihm und uns heute genauso schwerfällt, uns gebären zu lassen. Wir brauchen Gottes Hilfe, brauchen seinen Geist, brauchen sein ganzes Wirken, damit in uns auch der innere, geistliche Mensch zur Welt kommt.
In uns steigen dann manchmal zwei Reaktionen auf. Die eine ist der Trotz. Ich will aber nicht. Will selber machen, Gott. Ich bin ein guter Mensch. Ich verstehe dein Wort und erkläre es mir und anderen. Ich komme zu dir aus eigener Kraft. Lass mich machen, Gott. Und das andere ist die Resignation. Was wir nicht selbst machen können, drückt uns nieder. Da gibt es etwas, das nicht in unserer Macht steht. Kind Gottes kannst du nicht von dir aus werden. Du wirst es, weil Gott es dir schenkt. Du wirst Kind Gottes, weil Gottes Geist dich als dieses Kind zur Welt bringt.
Was mich an diesem Gespräch tröstet, auch wenn Nikodemus dann gar nicht mehr erwähnt wird, ist der wohl bekannteste Satz aus dem Johannesevangelium. Dieser Satz, oder zumindest die Stellenangabe dazu kann man bei vielen Sportübertragungen auf dem Bildschirm sehen: Johannes 3,16. Meistens steht es da auf Englisch: John 3,16. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Gott will es. Gott will mich und dich. Gott will, dass wir leben. Und zwar nicht nur als Menschen, die menschlich geboren wurden. Er will auch, dass wir im Innern, mit unserem Geist, also geistlich leben. Das hat nichts mit dem Verstand zu tun. Den haben wir schon. Der funktioniert – meistens. Der ist irdisch, menschlich. Und er ist gut. Aber wir sollen mehr leben. Wir sollen das ewige Leben haben – und das ist ein göttlicher, geistlicher Begriff. Das ist das Leben, dass Gottes Geist selbst zur Welt bringt.
Wenn man so will: Gott ist uns Vater und Mutter. Für unser geistliches Leben trifft das direkt zu. Nur so leben wir. Was wir dazu tun können? Nichts. Es ist ein Geschenk. Gott bringt uns zur Welt. Er bringt uns leben. Er macht uns lebendig. Und doch – eins gibt es: Wir können es zulassen. Wir können es annehmen. Das legt uns Gott als erstes mit in die Wiege – dass wir seine Liebe entdecken und erfassen können. “Ja, Vater, ich bin dein Kind. Ich glaube dir. Ich vertraue dir. Ich lasse mich los in das Leben hinein, das du mir gibst.”
Es wird auch weiter so bleiben, dass uns unsere Gespräche mit Gott manchmal so schräg vorkommen – wie das zwischen Jesus und Nikodemus. Wir werden auch weiter Fragen haben – und Gott wird uns antworten auf eine Weise, die uns manchmal völlig anders, völlig quer zu dem vorkommt, was wir doch wissen wollten. Weil Gott so viel größer ist. Und weil wir als geistliche Menschen wohl noch viel tapsiger sind, als es Babys und Kleinkinder sind. Na und? Lasst uns lostapsen und Gott hinterhertapsen.
Der Pfarrer und Liedermacher Clemens Bittlinger hat einmal ein Lied geschrieben mit dem bezeichnenden Titel „Ich stolpre Jesus hinterher“. Ich lasse es zu und taste mich in diese Welt hinein, die so viel größer ist als meine sichtbare Welt. Neu geboren – das ist vom Alter unabhängig. Und dann das Leben lernen, das Gott uns gegeben hat und das mehr ist als das Irdische, das viele schon gut beherrschen. Dazu braucht es den Geist Gottes, diesen besonderen Atem, der uns leben lässt und der uns lehrt, was Gott sagt. Dazu braucht es Jesus, den Sohn Gottes, der die Verbindung zwischen Gott und Mensch geklärt hat und uns zur Seite steht. Und dazu braucht es Gott, den Vater. Den dürfen wir wirklich Vater nennen und ihn so ansehen.
Amen.