Predigt zu 2. Korinther 6,1–10
Vor der Predigt werden im Verlauf des Gottesdienstes die Erzählung vom “Sündenfall” (1. Mose 3) und von der “Versuchung Jesu” (Matthäus 4,1–11) gelesen.
Sind Sie schon einmal gestolpert? Sicher. Das passiert jedem, und nicht nur einmal. Wenn Kinder laufen lernen, dann liegen sie die erste Zeit mehr auf dem Po und manchmal auch auf der Nase, als dass sie auf den Füßen stehen. Es wird mit der Zeit besser. Aber selbst der dynamischste und sportlichste Mensch stolpert doch noch gelegentlich. Da mag mal ein Pflasterstein höher sein als andere, und schon ist es passiert. Und manchmal stolpern wir einfach über die eigenen Füße. Auch das gibt es. Wenn es ja nur das Hinfallen wäre. Aber dann gibt es auch noch die Folgen. Gut, wenn nur die Hose ein bisschen dreckig wird, weil ich mit dem Po auf der Erde gelandet bin. Schlimm, wenn einer sich die Knie aufschrammt oder gar etwas bricht – wegen eines kleinen Pflastersteins oder einer kleinen Unaufmerksamkeit.
Zwei Stolpergeschichten gehören zu den traditionellen Lesungen am Sonntag Invocacit, dem ersten Sonntag der Passionszeit. Im Paradies fielen Adam und Eva über eine leckere, aber verbotene Frucht. Sie sind quasi auf einer Bananenschale ausgerutscht. Aber es war ja mehr. Denn in der Folge ist die Beziehung zwischen Gott und seinen Menschen, ja seiner ganzen Schöpfung zerbrochen (1. Mose 3).
Um diese Wunde der Schöpfung wieder zu heilen, ist Jesus in die Welt gekommen. Und der bekommt am Anfang seines öffentlichen Lebens gewaltige Stolpersteine in den Weg gelegt. Nach 40-tägiger Fastenzeit stellt der Teufel ihn auf die Probe. Jesus leidet Hunger – und könnte sich doch einfach so mal ein Brot aus Steinen zaubern. Er könnte auch auf Engelshänden getragen vom Dach des Tempels herabschweben. Wäre ein super Auftritt. Und – ganz ungesehen von der Welt – könnte er doch nebenher einmal dem Teufel alle Ehre geben. Der hat’s ja schon drauf. Und der ganze steinige Weg zum Kreuz müsste nicht sein. Doch anders als Adam und Eva im Paradies steht Jesus fest auf beiden Beinen, rutscht nicht aus und fällt nicht hin (Matthäus 4).
Wo stehen wir heute, am Anfang der Passionszeit, mit unseren Stolpergeschichten? Christian Wulf fiel über einige Ungereimtheiten, Dinge, die niemand bei einem gewöhnlichen Bürger registriert hätte. Aber dem Träger des höchsten Amtes im Staat werden sie zur Bananenschale, Stein des Anstoßes, über den er fällt. Wir sind im Vergleich dazu kleine Lichter. Aber wo liegen unsere Bananenschalen, die uns zu Fall bringen wollen – und wohl auch können?
Einer, der sowohl die Gefahren kannte und sie erlebte, aber der doch anscheinend eine sehr sichere Position darin hatte, schrieb vor 2000 Jahren die folgenden Zeilen (2. Korinther 6,1–10):
1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. 2 Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; 4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.
Paulus schreibt es in seinem zweiten Korintherbrief. Und ich musste zuerst einmal mit Lesen innehalten, als ich die Worte vor mir hatte: „Wir geben in nichts einen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes.“ Das erinnert doch an den Amtseid, den Staatsdiener ablegen — und vor allem innerkirchlich an das Ordinationsgelübde von Pfarrerinnen und Pfarrern oder das Versprechen der Gemeindekirchenräte. „Keinen Anstoß geben, in allem als Diener Gottes erweisen.“
Was dann kommt, klingt erst einmal nicht so motivierend: Geduld, Trübsal, Not, Angst, Schläge und Gefängnis, Verfolgung und Mühe. Na, das sind ja schöne Aussichten. Wer wollte es einem Menschen verübeln, wenn er da einen Rückzieher macht? Und auch wer es ernst meint und sich daran wagt, Gott unter diesen Bedingungen zu folgen, fällt schnell über einen der vielen Knüppel, die ihm da zwischen die Beine geworfen werden.
Doch sind es nicht nur widrige Umstände, die manchmal einen Menschen umwerfen. Es können auch die hohen Ansprüche oder Anforderungen sein, die hier aufleuchten: Lauterkeit, Erkenntnis, Langmut, Freundlichkeit.
Schon mit der Freundlichkeit hapert es gar manchmal. Es reicht ein bisschen schlechte Laune — vielleicht wegen der hohen Benzinpreise, für die unser Nachbar gar nichts kann – und schnell fahren wir ihn mit bösen Worten an, statt ihm freundlich einen guten Tag zu wünschen.
Langmut – eine wunderbare Eigenschaft. Wirklich mit einem langen Atem, mit einem nicht abnehmenden Mut an eine Sache zu gehen, ist bewundernswert. Schwierig wird es, wenn unsere Langmut auf ihren großen Gegenspieler, die lange Bank, trifft. Eltern kennen das manchmal. „Räum das Zimmer auf.“ „Später.“ „Ich möchte, dass du jetzt das Zimmer aufräumst. Wenn ich vom Einkaufen zurück bin, wäre es schön, du hättest aufgeräumt.“ Und was ist, wenn ich vom Einkaufen zurückkomme? – Genau. Die lange Bank, auf die so manches geschoben wird, kommt unserer Langmut in die Quere und wir stolpern über sie, werden laut und verletzend.
Diener Gottes, die an ihren Taten, an ihrem Verhalten erkannt werden? Weit gefehlt. Wenn wir die Liste, die Paulus hier aufgeschrieben hat, als Checkliste verstehen, die wir abhaken müssen, dann stolpern wir ganz schnell darüber. Das kann schnell geschehen, wenn wir die Voraussetzung überlesen, die Paulus am Anfang dieses Kapitels genannt hat.
Denn mit der Gnade Gottes fängt es an. Paulus zitiert aus dem Propheten Jesaja, aus einem Abschnitt, der von manchen Theologen das „Trostbuch“ (Jesaja 40–55)genannt wird.
Das Buch beginnt mit den Worten: „Tröstet, tröstet mein Volk. Redet zum Herzen Jerusalems, dass ihr Frondienst erfüllt ist, dass ihre Schuld abgebüßt ist.“ (Jesaja 40,1) Und in den Kapiteln 40–55 des Buches Jesaja stehen so ermutigende Worte wie der bekannte Vers: „Fürchte dich nicht. Ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“ (Jesaja 43,1)
Aus diesem Buch nun zitiert Paulus, was Gott zu seinem Volk Israel sagt: „Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ (Jesaja 49,8) Und er schreibt weiter: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils.“
Gott macht nämlich genau das, was Eltern machen, wenn ihr Kind laufen lernt. Gott streckt seine Hand aus, damit wir sie ergreifen. Mehr noch: Gott streckt seine Hand aus und ergreift uns, hält uns fest. So, wie Eltern ihr Kind anfangs noch an der Hand führen, wenn es die ersten Schritte geht, führt uns Gott. So, wie Eltern die Hand ihres Kindes dann loslassen, aber immer noch bereit sind, schnell zuzugreifen, lässt uns Gott unsere eigenen Schritte gehen und Erfahrungen machen – und ist doch immer bereit, zuzufassen. Und was ist, wenn wir stolpern und hinfallen? Auch da können wir in demselben Bild bleiben: Gott nimmt uns an der Hand und stellt uns wieder auf die Füße. „Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört“, klingt von Jesaja bis zu Paulus durch.
Wer das Buch des Jesaja ein bisschen kennt weiß, dass es dort hin und her geht zwischen Israels Schuld und Unglauben, Gottes Gericht und seiner Gnade, mit der er sich wieder seinen Menschen zuwendet. Gericht – das heißt zurzeit Jesajas: das Land Israel ist unter fremder Herrschaft, ein Teil der Bevölkerung in Babylon quasi in Geiselhaft, als Faustpfand, damit in Israel selbst niemand einen Aufstand wagt. Der Tempel ist zerstört, der Königspalast sowieso. 70 Jahre hält dieser Zustand an. Bis Gott das Rufen seines Volks erhört und gnädig wieder ihm zuwendet.
Obwohl – das stimmt so nicht. Denn auch während der Exilszeit ist Gott bei seinem Volk. In Babylon entsteht eine neue Art von Gottesdienst, der Grundgedanke der Synagogen wächst auf: Gott kann man überall begegnen, dazu braucht es keinen Tempel. Er ist bei seinen Menschen, egal wo sie sind. In Babylon selbst sind Propheten, Boten Gottes am Werk. Im Exil entsteht neuer Glaube, neues Vertrauen, werden Lieder und Gebete geschrieben und die Geschichte des Volkes neu erzählt. Am Ende dieser Zeit aber kommt tatsächlich die besondere Zuwendung Gottes, als er seinem Volk nämlich den Weg nach Hause ebnet und diese Zeit der Gefangenschaft beendet – wie schon einmal, als er Israel aus Ägypten befreit hat, unter Mose.
Mit Gottes Gnade fängt es an. Und diese Gnadenzeit ist jetzt, sagt Paulus. Weil Gott selbst bei seinen Menschen ist, können sie sogar große Not überstehen. Am Ende seiner Ermahnung stellt Paulus denn auch Gegensätze gegenüber und zeigt, wie Gottes Gnade Menschen und Situationen verwandelt, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehrt.
Aus Unbekannten werden bekannte – nämlich Menschen, die Gott kennt und um die er sich sorgt. Und das ist mehr, als nur den Namen und die Telefonnummer von jemandem zu wissen. Heute ist es ja schon üblich in einem der sozialen Netzwerke im Internet angemeldet zu sein – Facebook heißt das bekannteste und größte, Wer-Kennt-Wen ist ein anderes, Schüler-VZ oder Studi-VZ sind eben solche Gemeinschaften im Internet, in denen man mit anderen bekannt ist und sich unterhält, mehr oder weniger wichtiges austauscht und eben vernetzt ist. Da gibt es Menschen, die haben 100 oder gar 1000 sogenannte Freunde. In Wirklichkeit wissen sie vielleicht nicht einmal die Telefonnummer mancher dieser 1000 Freunde, aber man ist halt auf einer Seite zusammen, irgendwie. In der Bibel bedeutet „kennen“ etwas ganz anderes. Wer dort einen anderen erkannt hat, kennt sein Innerstes, seine tiefsten Gedanken und Gefühle. Kein Wunder, dass dieses Kennen zur vorsichtigen, geheimnisvollen Beschreibung für die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau wird: „Adam erkannte seine Frau Eva – und sie wurde schwanger.“ (1. Mose 4,1) Kennen bis in die innersten, intimsten Geheimnisse. Da mögen uns Menschen unserer Tage nicht einmal so oberflächlich wie ihre Facebookfreunde kennen – wir sind Unbekannte. Aber Gott kennt uns.
Dem Tod setzt Gott das Leben entgegen. Jesus treibt das einmal auf die Spitze, als er seinen Jüngern sagt: „Wer an mich glaubt wird leben, auch wenn er stirbt.“ (Johannes 11,25) Vielleicht, in unserer Zeit, in unserer kirchlichen Situation auch ein Trostwort für die Gemeinden. Wird doch die Kirche gerade hier manchmal schon totgesagt. Sogar wir selbst verfallen gelegentlich dieser Klage: „Wenn wir nicht mehr sind, wird die Gemeinde aussterben.“ Doch schon das Sprichwort weiß: Totgesagte leben länger. Und das hat seinen Grund, weil Gott selbst nicht nur seinen Menschen das ewige Leben gibt, sondern auch seine Kirche als lebendige Kirche erhält. Die Formen ändern sich wohl, und auch eine schöne, hunderte Jahre alte Steinkirche mag verfallen. Aber die Gemeinde, die Gemeinschaft von Christen hängt am lebendigen Gott und bleibt.
Wo Gottes Gnade am Anfang und über dem Leben eines Menschen steht, da bleibt auch Trauriges nicht das Letzte. „Allezeit fröhlich“, so beschreibt sich Paulus, der einmal gesteinigt wurde, der den Bruch mit Mitarbeitern erleben musste, der von Heiden und Gegnern des Christentums angegriffen wurde und sogar aus den eigenen Reihen, von Mitchristen, böse Worte zu hören bekam. Er bleibt fröhlich, weil er einen Grund der Freude in sich trägt, der stärker ist als alles, was ihn traurig macht.
Und so kann er, so können Christen andere reich beschenken, obwohl sie gar nicht mehr haben als diese. Die nichts haben, sagt Paulus, haben gleichzeitig alles.
Am Anfang der Passionszeit steht die Frage nach dem Stolpern. Und wenn wir die lange Aufzählung von Paulus lesen, dann lässt uns das wohl mehr als einmal stocken und wir sehen, wo wir über diese Hürden gar nicht hinweg gekommen sind. Passionszeit und Fastenzeit laden dazu ein, diesen Blick auf unsere Stolpersteine und Bananenschalen zu lenken, die uns immer wieder zu Fall bringen. Und sie laden dazu ein, Gottes ausgestreckte Hand zu entdecken, mit der er uns ergreift und wieder aufrichtet.
Jesus hat sich all unseren Stolperern ausgesetzt. Zuerst, indem er als Mensch unser Leben mitgelebt hat — exemplarisch an den drei Versuchungserzählungen deutlich gemacht, aber viel mehr in all den Alltagsbegegnungen mit den Kranken, mit den Neugierigen, mit seinen Diskussionsgegnern und Feinden, im Gespräch mit seinen Jüngern. In Jesus bückt sich Gott zu uns herab, um uns, wie ein Vater seinem Kind, die Hand zu geben, damit wir wieder aufstehen und neue Schritte wagen.
Wer stolpert, der zeigt damit zweierlei. Einerseits hat er noch etwas zu lernen, ist noch nicht so sicher auf den Beinen, dass jeder Schritt gelingt. Bis wir so etwas schreiben könnten wie Paulus, mag vielleicht noch eine Weile dauern. Vielleicht wird unsere Reihe auch nicht so lang. Aber das macht nichts.
Denn wer stolpert, zeigt damit zweitens, dass er unterwegs ist, dass er lernt, dass er immer wieder auf die Füße gestellt wird von einem gnädigen Vater. Nur wer sitzen oder bestenfalls stehen bleibt, der kann nicht stolpern. Aber der kommt auch nicht voran. Wer geht, wer im Vertrauen auf Gott losrennt, wer riskiert, auch wieder auf die Nase zu fallen, weil er einen weiteren Schritt in seinem Glauben wagt, der kommt vorwärts, Stück für Stück dem Ziel Gottes entgegen.
Vielleicht entdecken wir ja in diesen sieben Wochen Passionszeit etwas Neues, in dem wir uns als Nachfolger Jesu erweisen, als Diener Gottes. Vielleicht gelingt uns Freundlichkeit, wo sie bisher unter einem mürrischen Gesicht verborgen blieb. Vielleicht gelingt uns etwas mehr Geduld und wir können so einen anderen mit auf den Weg nehmen und ihn nicht durch zu hohes Tempo gleich wieder verzagen lassen. Vielleicht gelingt uns, aus unserer eigenen Traurigkeit heraus Hoffnung und Vertrauen auf Gott ausstrahlen zu lassen, so dass eine Freude aufleuchtet, die andere tröstet und ermutigt.
„Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils“, weil Gott uns mit seiner Gnade entgegenkommt und mit uns geht.
Amen