Predigt zum Sonntag Jubilate 2021
Voraus geht die Lesung von Apostelgeschichte 17,22–34
Hier pulsiert das Leben, hier steppt der Bär. Paulus besucht Athen, die Stadt der Philosophen, der Dichter und Denker Griechenlands. Die römischen oberen Zehntausend oder vielleicht auch nur 200 kamen hierher, um ein paar Semester Philosophie zu studieren. Auch wenn Griechenland und seine hervorragenden Städte und Stadtstaaten schon lange zum römischen Reich gehörten – die Städte hatten viel von ihrer Eigenart behalten. Und Athen war das Zentrum der Philosophie. Griechisch war die Verkehrssprache rund um das Mittelmeer. Dass die Evangelien, die Briefe und die Offenbarung des Neuen Testaments in Griechisch verfasst sind, hat dort seinen Grund. Griechisch war Bildung.
Auf dem Areopag in Athen traf sich der Stadtrat, der ebenfalls Areopag genannt wurde. Zurzeit des Paulus allerdings war das nicht mehr der Hügel mitten in Athen, sondern wohl die Königshalle auf dem Marktplatz, der Agora. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Athener sich ein bisschen was einbildeten auf ihre Tradition und Bildung. Platon, Aristoteles, Sokrates – das könnte ähnlich sein wie heute wohl noch die Weimarer ticken wegen Goethe und Schiller oder die Wittenberger mit Luther und Co.
Und nun ist Paulus dort – griechisch gebildet, bei einem der bekanntesten jüdischen Gelehrten selbst zum Gesetzeslehrer, zum Pharisäer ausgebildet, und jetzt Apostel, Gesandter Gottes. Selbst einem wie ihm könnten dort die Knie schlottern. Die Athener waren um Worte gewiss nicht verlegen und hörten alles mit kritischen Ohren.
Der Anspruch von Paulus legt auch die Messlatte der Zuhörer ziemlich hoch: „Ich verkündige euch den Gott, der euch bisher unbekannt war und den ihr doch verehrt.“ Er hatte einen Altar gesehen, den die Athener eben diesem Gott geweiht hatten, den sie aber nicht weiter kannten. Man kann ja nie wissen. Der Götterhimmel ist ziemlich voll und recht unübersichtlich. Wäre gefährlich, einen zu übersehen. Der Mensch von heute lacht darüber. Viele glauben nicht einmal an einen einzigen Gott, geschweige denn an das Sammelsurium von himmlischen Hilfssheriffs.
Am Ende von Paulus‘ Rede steht denn bei vielen auch das Gelächter. Und ich denke mir: So könnte es heute auch ausgehen. Nicht hier. In die Kirche kommt ja kaum jemand, der nicht irgendwie nach Gott fragt. Da muss schon ein erschütterndes Ereignis geschehen, dass sich mal andere hierher verirren. 1989 zur Wende bzw. vorher war das so. 2015, als in Tröglitz die Flüchtlingsunterkunft gebrannt hatte, da waren auch Menschen in der Kirche, die sie noch nie vorher betreten hatten. Aber sonst sind nur Insider hier – meist, und Ausnahmen bestätigen die Regel.
Also nicht hier. Aber draußen vielleicht. Da wird vieles verlacht – seit einem Jahr nun tummeln sich Coronaexperten und Querdenker aller Art auf unseren Marktplätzen. Denken, alles zu wissen und zu verstehen, aber in ihrem Weltbild scheint die Erde doch eher eine Scheibe zu sein. Auch Religion wird dann eher belächelt, weil viele sich nicht mehr vorstellen können, dass es mehr gibt, als man messen und fühlen und mit dem Verstand begreifen kann.
In der langen Rede des Paulus bin ich an einem kurzen Satz hängen geblieben, fast bloß ein Nebensatz: „Wir sind seines Geschlechts.“ Paulus zitiert Aratos von Soloi, ein Dichter und Philosoph, 245 v. Chr. gestorben. Der meint in seinem Gedicht über den Himmel den griechischen Gott Zeus. Paulus aber denkt an den einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, den Vater Jesu Christi. Die Menschen sind göttlichen Geschlechts. Damit hatte Paulus einen Anker in den Denkmodellen seiner Zuhörer. Das gehörte zumindest zu den denkbaren Vorstellungen der Welt: Die Menschen stammen – wie auch immer genau – von den Göttern ab. Geschaffen oder sogar geboren, im Geist, der Idee nach. Irgendwie jedenfalls besteht diese Verbindung zum Göttlichen. In der damaligen Welt rennt er damit eine offene Tür ein. Und dreht eine interessante Kurve. Er blickt nämlich andersherum auf die Sache. Wenn wir göttlich sind – wir Menschen aus Fleisch und Blut, lebendig, agil, aktiv, kreativ – dann kann ein Gott nicht aus Gold oder Silber oder Stein oder Holz sein. Das gleiche Geschlecht heißt: ein Gott muss doch auch lebendig sein, aktiv, kreativ. „Sagen ja sogar eure Philosophen, ihr Griechen.“ Also muss man nach dem lebendigen Gott suchen und nicht tote Steine und Bilder verehren. So lenkt Paulus auf sein Ziel hin: Gott ist lebendig und höchst aktiv. Und dass Menschen ihn suchen, ist das Normale.
Das Problem – auch unserer Zeit: Wir können uns in unseren Gedanken und Vorstellungen verrennen. Dann schnitzen wir keine Götterbilder aus Holz oder meißeln sie in Stein. Aber wir schnitzen die Vorstellungen über Gott in unseren Gedanken, gießen sie in unsere Meinung über ihn ein. Und berauben Gott so seiner Lebendigkeit.
Wie aber kommen wir zu einer Vorstellung von diesem lebendigen Gott, dem wir so ähnlich sind? Paulus ist am Ziel seiner langen Hinführung angelangt: Es gibt einen, an dem der lebendige Gott zu erkennen ist. Und dieser eine ist einer von uns! Dieser eine ist ein Mensch. Von dem – konkret von Jesus Christus – hatte Paulus schon in den Tagen gesprochen, bevor er von den Philosophen und dem Stadtrat auf oder in den Areopag eingeladen worden war.
Um Jesus geht es also. Der Gott, von dem alles Leben herkommt, lässt sich im Menschen Jesus erkennen. Theoretisch müsste er in jedem Menschen zu sehen sein. Aber das haben wir selbst zerstört, dieses sichtbare Bild Gottes in uns. Jedenfalls ist es sehr übermalt von unserem Leben fern von Gott. Also kommt Gott in Person als Mensch in unsere Welt. Hier scheint durch, was Jesus im Johannesevangelium einmal selbst über sich sagt: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (Johannes 14,9) Da hatte nämlich einer der Jünger, Philippus, das gleiche Problem wie die Athener. Die sahen viele Götter, die ahnten, dass Mensch und Gott zusammenhängen – mehr als man denken mag. Und wussten trotzdem nicht, wie. Philippus sagte in einem Gespräch zu Jesus: „Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns.“ Daraufhin antwortete Jesus ihm mit eben diesen Worten: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“
Auf den lenkt Paulus den Blick der Athener. Auf Jesus lenkt Paulus unseren Blick. Die Evangelien, die Briefe, die Offenbarung – und von dort aus gesehen auch die Schriften der Propheten lenken den Blick auf Jesus. Wir haben, egal welcher Dichter- und Denkerrichtung wir uns zurechnen wollen, die gleiche Grenze wie die Athener: Wir stehen vor unseren Gottesbildern und sehen dahinter oft nicht den lebendigen Gott. In unseren Gedanken ist er so und so, ist festgelegt, eingegossen, unbeweglich. Entdecken können wir Gott aber, indem wir uns Jesus anschauen, einen von uns. Wir sind seines Geschlechts.
Vielleicht gibt uns Ostern ja noch etwas Rückenwind. Der Ostergruß „Der Herr ist auferstanden“ trägt noch für ein paar Tage und Wochen, auch wenn er hier und da schon schwächer wird. „Hä? Ostern ist doch schon rum!“ So stehen wir schon wieder in der Gefahr, den lebendigen Jesus in unsere steinernen Götterhimmel zu verfrachten. Allzu gegenwärtig ist uns unsere Welt mit Sorgen, Fragen, Zweifeln; die Welt, die so wenig Göttliches hat, so gar nichts Himmlisches mehr.
Macht’s anders, sagt Paulus. Dreht euch immer wieder um, wenn ihr auf diese Weise rückwärtslauft. Dreht euch um zu Jesus Christus, den Gott von den Toten auferweckt HAT. Der zeigt euch Gott. Der gibt euch Leben. In ihm wird euer ganzes Menschsein geheilt, ihr werdet heil, voll und ganz. Selbst an eurem christlichen, selbsterdachten, tradierten Gottesbild schlagt ihr euch nur die Knie auf und reibt euch die Hände wund, so rau und felsig und unbeweglich ist es manchmal geschnitzt. Schaut den lebendigen Jesus an, der heute mitten unter euch, ja in euch lebt.
Noch einmal Paulus, dieses Mal aus dem Brief an die Galater: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ (Galater 2,20) Wir sind seines Geschlechts, seines Wesens. Wir sind Menschen, wie Jesus einer war und ist. Wir sind göttlich, weil Gott uns aus sich heraus geschaffen hat zu seinem Ebenbild. Wir sind heilig, weil Gott uns dazu gemacht hat. Wir sind seine Kinder, wenn wir an Jesus Christus glauben. Es heißt nicht: Wir sind WIE Gottes Kinder. Es heißt: Wir SIND Gottes Kinder. Johannes schreibt in der Einleitung seines Evangeliums: „Wie viele ihn – also Jesus – aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden; denen, die an seinen Namen glauben.“ (Johannes 1,12 f.)
Fast müsste man den Menschen, auch uns (?) sagen: „Ihr Menschen, nehmt euch selbst doch mal ernst. Ihr denkt von euch, dass ihr etwas Besonderes seid. Und ihr seid es! Ihr denkt, ihr seid Göttinnen und Götter eures Lebens. Wenn ihr das wirklich ernst nehmt und nach dem Ursprung eures Lebens fragt, dann seid ihr das tatsächlich. Ihr seid Kinder des einen, lebendigen Gottes. Fragt nach dem. Sucht den. Vertraut dem. Und wenn ihr von ihm keine Vorstellung habt oder euch in verwirrenden Bildern verirrt, dann schaut euch Jesus Christus an – einer von euch, ein Mensch. Einer von Gott, nämlich Gottes eingeborenen Sohn.“
Ja, das wird manchen zum Lachen sein. Gott – ein Mensch. Und gar der Mensch göttlich. Manche werden wie in Athen mehr wissen wollen. Und manche werden es mit Freude hören und glauben: „Ich bin Gottes Kind.“
Damit aber andere diese Entdeckung machen, braucht es unsere Risikobereitschaft, wie Paulus davon zu erzählen und es auszustrahlen. Denn Gott ist lebendig und er gerbraucht lebendige Boten für seine lebensspendende Botschaft.
Amen.