Warum muss Jesus nach Jerusalem gehen, um zu sterben? Warum das Kreuz? Was steht über und hinter allen kosmischen, juristischen, theologischen Gerechtigkeitsberechnungen?
Eine Predigt zum letzten Sonntag vor der Passionszeit.
Zwei Texte gehen der Predigt voraus, das Sonntagsevangelium und ein Passionslied.
Markus 8,31–34
Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh hinter mich, du Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.
EG 88,1.5.6 Jesu, deine Passion
1. Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken; wollest mir vom Himmelsthron Geist und Andacht schenken. In dem Bilde jetzt erschein, Jesu, meinem Herzen, wie du, unser Heil zu sein, littest alle Schmerzen.
5. Wenn mir meine Sünde will machen heiß die Hölle, Jesu, mein Gewissen still, dich ins Mittel stelle. Dich und deine Passion lass mich gläubig fassen; liebet mich sein lieber Sohn, wie kann Gott mich hassen?
6. Gib auch, Jesu, dass ich gern dir das Kreuz nachtrage, dass ich Demut von dir lern und Geduld in Plage, dass ich dir geb Lieb um Lieb. Indes lass dies Lallen – bessern Dank ich dorten geb –, Jesu, dir gefallen.
Predigt zu 1. Korinther 13
„Was macht der da? Jesus – geht’s noch?“ So in etwa faucht Simon Petrus Jesus an. Was bei Markus noch recht harmlos, fast freundlich klingt: „Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren“, das hört sich bei Matthäus schon anders an: „Petrus nahm ihn beiseite und fuhr ihn an und sprach: Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!“ (Matthäus 16,22) Schaue ich im Wörterbuch nach, so stehen dort die Worte: anfahren, tadeln, Vorhalte machen.
Petrus faucht Jesus an: „Geht’s noch? Du kannst alles machen. Aber bring dich nicht in diese Gefahr, Jesus. Tu uns das nicht an. Tu dir das nicht an. Das ist doch sinnlos. Wozu? Warum?“
Ich kann Petrus verstehen. Jesus schlägt einen Weg ein, der doch mit dem Verstand gar nicht nachzuvollziehen ist. Für die Menschen seiner Zeit nicht – und heute genauso wenig.
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine und so manche politische, gesellschaftliche Reaktion drängt sich mir als Vergleich auf. Da empfehlen führende Größen der Gesellschaft aus Politik, Kunst und Kultur der Ukraine ernsthaft, die Waffen zu strecken – verkürzt gesagt. Verhandlungen. Mit einem, der schon mehrmals deutlich gemacht hat, dass er an Verhandlungen nicht interessiert ist, wenn die nicht genau seinem Weg und Willen entsprechen – sich nämlich die Ukraine bedingungslos einzuverleiben. Bei aller wahrhaft berechtigten und dringend nötigen Kritik an dem Irrsinn von Aufrüstung und Waffenproduktion und Lieferung: Jemandem zu empfehlen, sich einfach dem Tyrannen auszuliefern – er wird dann schon mit sich reden lassen – ist ziemlich zynisch und nicht weniger kurzsichtig als das Mehr an Waffen.
Zurück zu Jesus und seinen Jüngern: Petrus kann es nicht durchgehen lassen, dass Jesus sich dem Mordkomplott seiner Gegner ausliefert. Ich verstehe ihn. Und frage mich gerade am Anfang der Passionszeit wieder: Was treibt Jesus an? Wieso schlägt er diesen Weg ein? Wieso setzt er sich dem Leid, dem Spott, der Ablehnung und dem Tod aus?
Die Antwort ist gewissermaßen mitten unter uns.
1 Wenn ich in Sprachen rede, die von Gott eingegeben sind – in irdischen Sprachen und sogar in der Sprache der Engel –, aber keine Liebe habe, bin ich nichts weiter als ein dröhnender Gong oder eine lärmende Pauke. 2 Wenn ich prophetische Eingebungen habe, wenn mir alle Geheimnisse enthüllt sind und ich alle Erkenntnis besitze, wenn mir der Glaube im höchsten nur denkbaren Maß gegeben ist, sodass ich Berge versetzen kann – wenn ich alle diese Gaben besitze, aber keine Liebe habe, bin ich nichts. 3 Wenn ich meinen ganzen Besitz an die Armen verteile, wenn ich sogar bereit bin, mein Leben zu opfern und mich bei lebendigem Leib verbrennen zu lassen, aber keine Liebe habe, nützt es mir nichts.
4 Liebe ist geduldig, Liebe ist freundlich. Sie kennt keinen Neid, sie spielt sich nicht auf, sie ist nicht eingebildet. 5 Sie verhält sich nicht taktlos, sie sucht nicht den eigenen Vorteil, sie verliert nicht die Beherrschung, sie trägt keinem etwas nach. 6 Sie freut sich nicht, wenn Unrecht geschieht, aber wo die Wahrheit siegt, freut sie sich mit. 7 Alles erträgt sie, in jeder Lage glaubt sie, immer hofft sie, allem hält sie stand.
8 Die Liebe vergeht niemals. Prophetische Eingebungen werden aufhören; das Reden in Sprachen, die von Gott eingegeben sind, wird verstummen; die Gabe der Erkenntnis wird es einmal nicht mehr geben. 9 Denn was wir erkennen, ist immer nur ein Teil des Ganzen, und die prophetischen Eingebungen, die wir haben, enthüllen ebenfalls nur einen Teil des Ganzen. 10 Eines Tages aber wird das sichtbar werden, was vollkommen ist. Dann wird alles Unvollkommene ein Ende haben.
11 Als ich noch ein Kind war, redete ich, wie Kinder reden, dachte, wie Kinder denken, und urteilte, wie Kinder urteilen. Doch als Erwachsener habe ich abgelegt, was kindlich ist. 12 Jetzt sehen wir alles nur wie in einem Spiegel und wie in rätselhaften Bildern; dann aber werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Wenn ich jetzt etwas erkenne, erkenne ich immer nur einen Teil des Ganzen; dann aber werde ich alles so kennen, wie Gott mich jetzt schon kennt.
13 Was für immer bleibt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei. Aber am größten von ihnen ist die Liebe.
Diese Worte höre ich sonst in einem anderen Umfeld. Oft werden sie bei Trauungen gelesen. Da steht die Liebe im Mittelpunkt, die hier so wunderbar beschrieben wird.
Auch bei Beerdigungen kann man dieses Loblied der Liebe gelegentlich hören. Eine Erinnerung an die Liebe, die war – und die auch mit dem Tod nicht vergeht.
Paulus hat’s geschrieben, an die Korinther (1. Korinther 13 Basisbibel). Und bei ihm hatte es auch nichts mit dem Leiden Jesu zu tun. Paulus geht es um die Gemeinde. Da herrschte Zank. Der eine hatte bessere Gaben als der andere. Wie soll man sie einsetzen? Und was ist die wertvollste Gabe überhaupt? Womit auch die Frage gemeint ist: Wer ist der Wichtigste hier? Wie also kommt dieses Hohelied der Liebe mitten unter die Predigttexte für heute? Mir geben die Worte von Paulus einen Einblick in das Herz Gottes.
Gott sehnt sich nach uns. Er hatte den Menschen als sein Gegenüber geschaffen. Wir sind als Gottes Ebenbild angelegt, so erzählt es schon die Schöpfungsgeschichte. Gemeinschaft mit uns wollte Gott haben. Den Reichtum seiner Möglichkeiten hat er ausgeschüttet über uns. Bis jetzt hat noch keine Weltraummission einen so wunderbaren Planeten entdeckt, wie die Erde. Unvergleichlich, welche Lebensfülle es hier gibt. Unzählbare Arten von Leben – Pflanzen und Tiere. Eine Fülle der Schönheit und Fantasie, des Humors, des Genusses. Das denkbar Beste schafft Gott. Sein eigener Kommentar am Ende der Schöpfungstage: „Es war sehr gut!“ (Genesis 1,31) Er hat das alles für uns geschaffen.
Und wir? Sind ausgestiegen. Misstrauen. „Da geht doch noch mehr“, flüstert die Schlange uns ein (Genesis 3). Wir sind frei zum Denken. Wir können entscheiden. Von Anfang an. Nur so sind wir wirklich ein Gegenüber für Gott. Und entscheiden uns, der Einflüsterung zu folgen: „Gott enthält uns noch etwas vor. Mehr Klugheit. Mehr Weisheit. Sein wie er selbst.“
Erste Entdeckung: Gott hat uns überreich beschenkt. Sein Herz fließt über aus lauter Schöpferliebe, aus lauter Vaterliebe. Aber wir sind weggerannt. Aus und vorbei. Allerdings nicht für Gott. „Die Liebe hört nicht auf“, schreibt Paulus. „Liebe ist geduldig, sie verliert nicht die Beherrschung, sie trägt keinem etwas nach. Alles erträgt sie, in der Lage glaubt sie, immer hofft sie, allem hält sie stand.“ Was uns Menschen in Wahrheit unmöglich ist – wer kann solche Liebe wirklich durchalten? – ist Gott nicht nur möglich. Er lebt diese Liebe. Er ist diese Liebe.
Und so betritt Gott den langen Weg, um uns wieder für sich zu gewinnen und um auszuräumen, was zwischen ihm und uns steht.
Zum einen steht dort der Verführer schlechthin, der Teufel, der Satan, die Schlange, das Böse. Egal wie man’s nennt – es gibt Mächte in der unsichtbaren Welt, die Gott bekämpfen und die sich in einem Maß gegen ihn auflehnen, wie das selbst bösartigste Menschen nicht können. Die Bibel dealt nicht großartig mit ihnen. Vieles bleibt von diesen Mächten unerzählt, im Verborgenen. Wohl auch, weil wir die ganze Wirklichkeit nicht ertragen könnten. Und vielleicht auch, weil manche sich diesen Mächten zuwenden würden – Macht ist geil, auch die dunkle Seite der Macht. Das ist nicht nur ein Gedanke aus Star Wars.
Zum anderen stehen wir uns selbst im Weg. Wir misstrauen Gott immer noch. „Meint er es wirklich gut? Liebt Gott mich?“
Und ich mache bei Paulus meine zweite Entdeckung: Gott wird angetrieben von seiner Liebe. Was Paulus über die Liebe schreibt, schreibt er zuerst über die Liebe Gottes. Ich stutze. Wenn ich alles Mögliche machen würde – spenden, opfern, mich aufopfern, toll reden, singen, alles wissen würde – und hätte keine Liebe, so wäre es nichts. Gott selbst aber ist die Liebe. Was zählt, ist nicht seine Berechnung oder Aufrechnung aller menschlichen Schuld und die Überlegung, was er nun dagegensetzen kann, um das auszugleichen: „Reicht da ein perfekter Mensch, so wie Jesus es gewesen ist? Reicht da ein Gott, der Sohn Gottes?“ Gott berechnet nicht, wie viel es kostet, die Gerechtigkeit des Kosmos wieder herzustellen. Er berechnet nicht, was der ausgefuchste Anwalt der Gegenseite alles vorstellt: „Gott, da musst du aber noch was zulegen, damit der Kosmos zufrieden ist.“
Gott liebt. Das ist seine Entscheidungsgrundlage. Er liebt bedingungslos. Weder du noch ich müssen zusammenrechnen, was wir Gott an Kosten und Schmerzen verursacht haben. Und uns dann bange fragen, ob Gott uns das noch vergeben kann – „und das noch. Und da habe ich auch noch was gefunden.“ Gewiss weiß Gott jede Kleinigkeit und kennt jeden dicken Brocken. Aber was macht er damit? Er nimmt die lange Liste, schaut nicht drauf, hängt sie ans Kreuz. So schreibt Paulus im Kolosserbrief: „Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet.“ (Kolosserbrief 2,14) So ähnlich haben wir es auch gesungen: „Dich und deine Passion lass mich gläubig fassen; liebet mich sein lieber Sohn, wie kann Gott mich hassen?“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 88, 5) Gott bleibt dabei: Wir sind sein. Er liebt uns. Darum setzt er alles ein für uns.
Der Blick in Gottes Herz, den mir das Hohelied der Liebe gewährt, zeigt mir den Grund, warum Jesus einen Weg geht, den ich nicht verstehe. Dieser Weg entzieht sich ja immer noch meiner Logik, meinem Verständnis von Schuld und Sühne, von Recht und Gerechtigkeit. Jesus geht ans Kreuz aus Liebe zu uns Menschen. Das entzieht sich jeder Logik. Das entzieht sich allen mathematischen, juristischen, kosmologischen, psychologischen, politischen, religiösen Erklärungsversuchen.
Für Gottes Liebe, für Jesu Liebe gelten die Eigenschaften der Liebe, die Paulus aufzählt. Diese Liebe hört nicht auf.
Und wie hilft mir das in der Passionszeit? Wie kann uns das helfen, wenn wir den Weg Jesu nicht verstehen können – so wie Petrus ihn auch nicht verstehen und nicht akzeptieren kann?
Mir hilft es, weil diese Gedanken über die Liebe mich herausreißent aus der Frage, warum es gerade der Weg sein muss. Vielleicht ist das „Muss“ schon das falsche Wort. Denn wer sollte Gott diktieren, wie er die kosmische Gerechtigkeit wieder herstellt oder was immer man da heranziehen will? Gott muss nichts, gar nichts. Der Kosmos und der Anwalt der Gegenseite, der Teufel, können ihn zu nichts zwingen.
Der Blick auf die Liebe als Grund für Jesu Leiden und Sterben hilft mir, weil er mich herausreißt aus der Frage, warum es gerade dieser Weg war, den er gegangen ist. Den werde ich bis zuletzt nicht verstehen. Auch das sagt Paulus: Unser Wissen ist Stückwerk. Das gilt auch für die Größe der Liebe Gottes und seine Wege, die immer höher sind als unsere Gedanken (Jesaja 55,8–9). Eines Tages, dann wenn ich Gott vollständig erkenne, werde ich auch diesen Weg verstehen. Vorher nicht.
Ich muss es aber auch nicht bis ins Detail klären. Wichtiger ist, dass mir bewusst wird: Gottes Liebe ist so groß und so unbeirrbar, dass Jesus für mich ans Kreuz geht. Gottes Liebe ist so groß und so unbeirrbar, dass nichts, überhaupt gar nichts und niemand ihm seine Liebe zu mir zerschlagen kann und wird.
Und so sagt mir jeder Schritt Jesu genau das, jeder Spott, jeder Schlag, jeder Nagel sagt mir genau das: Gottes Liebe ist so groß, dass sie das alles auf sich nimmt – für mich! So kostbar sind wir für ihn. So viel sind wir ihm wert. So sehr liebt Gott uns. Es geht nicht darum, eine logische, juristische Begründung für das Kreuz zu finden. Es geht darum, in jedem Augenblick, in jedem Anblick der Passionsgeschichte Gottes Liebe zu finden.
Darum steht am Anfang der Passionszeit die mutige Entscheidung: „Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken.“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 88,1) Um das aushalten zu können und hineintauchen zu können, begleiten uns die Gedanken über die Liebe als die größte Gabe, als die größte und stärkste Macht, die es gibt. Gottes Liebe!
Lasst uns diese Liebe anschauen und ihrer unfassbaren Größe nachsinnen, damit sie uns auch zur Grundlage unseres Lebens wird und wir sie leben können – Stück für Stück, Schritt für Schritt, so bruchstückhaft sie bei uns auch sein mag. Die Liebe ist die größte Gabe. Und sie bleibt.