Jesus lieben — geht das? Wie geht das?
Entdeckungen im Hause des Pharisäers Simon.
Von dem und seinen Gästen erzählt Lukas in seinem Evangelium.
Predigt zum 11. Sonntag nach Trinitatis
Lukas 7,36–42 (Basisbibel)
36 Ein Pharisäer hatte Jesus zu sich zum Essen eingeladen, und Jesus war gekommen und hatte am Tisch Platz genommen. 37 In jener Stadt lebte eine Frau, die für ihren unmoralischen Lebenswandel bekannt war. Als sie erfuhr, dass Jesus im Haus des Pharisäers zu Gast war, nahm sie ein Alabastergefäß voll Salböl und ging dorthin. 38 Sie trat von hinten an das Fußende des Polsters, auf dem Jesus Platz genommen hatte, und brach in Weinen aus; dabei fielen ihre Tränen auf seine Füße. Da trocknete sie ihm die Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.
39 Als der Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, das sah, dachte er: »Wenn dieser Mann wirklich ein Prophet wäre, würde er die Frau kennen, von der er sich da berühren lässt; er wüsste, was für eine sündige Person das ist.«
40 Da wandte sich Jesus zu ihm. »Simon«, sagte er, »ich habe dir etwas zu sagen.« Simon erwiderte: »Meister, bitte sprich!« – 41 »Zwei Männer hatten Schulden bei einem Geldverleiher«, begann Jesus. »Der eine schuldete ihm fünfhundert Denare, der andere fünfzig. 42 Keiner der beiden konnte seine Schulden zurückzahlen. Da erließ er sie ihnen. Was meinst du: Welcher von den beiden wird ihm gegenüber wohl größere Dankbarkeit empfinden?« 43 Simon antwortete: »Ich nehme an, der, dem er die größere Schuld erlassen hat.« – »Richtig«, erwiderte Jesus.
44 Dann wies er auf die Frau und sagte zu Simon: »Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen, und du hast mir kein Wasser für meine Füße gereicht; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihrem Haar getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss zur Begrüßung gegeben; sie aber hat, seit ich hier bin, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. 46 Du hast meinen Kopf nicht einmal mit gewöhnlichem Öl gesalbt, sie aber hat meine Füße mit kostbarem Salböl gesalbt. 47 Ich kann dir sagen, woher das kommt. Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben worden, darum hat sie mir viel Liebe erwiesen. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt auch wenig.« 48 Und zu der Frau sagte Jesus: »Deine Sünden sind dir vergeben.«
49 Die anderen Gäste fragten sich: »Wer ist dieser Mann, der sogar Sünden vergibt?« 50 Jesus aber sagte zu der Frau: »Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden!«
Predigt zum Text
Haben Sie heute schon geliebt? Einem Menschen etwas Liebes gesagt oder getan? Schön, wenn dem so ist. Was war der Grund dafür? Weil ihnen der andere viel vergeben hat? Das ist doch ein eigenartiger Gedanke, eine seltsame Frage, oder? Warum lieben wir?
Weil die Chemie stimmt, weil da ein Funke übergesprungen ist. Zwei begegnen sich und es macht Zoom, vielleicht gleich, vielleicht erst nach 1.000 Begegnungen und Berührungen – frei nach Klaus Lage.
Warum lieben wir? Eltern lieben ihre Kinder. Weil sie ein Teil von ihnen sind. Weil sie sich Kinder gewünscht haben – und dann sind sie da. Manchmal ist Liebe dann ein schönes Gefühl, manchmal ist sie auch mehr von der Verantwortung bestimmt, die wir angenommen haben. Liebe ist manchmal der Grund, manchmal die Folge einer Entscheidung.
Warum lieben wir? Weil uns jemand etwas Gutes getan hat, viel Gutes getan hat. Das kommt dem schon etwas näher, was uns in der Geschichte von Jesus im Haus des Pharisäers Simon begegnet. Wer Gutes empfängt, liebt. Zumindest ist er dankbar. Die Frau, deren Namen wir nicht erfahren, liebt. Aus Dankbarkeit. Die zwei aus dem Gleichnis, das Jesus einfügt, lieben, aus Dankbarkeit.
Ich spiele mit diesen beiden Worten, probiere aus. Denn es ist ja nicht das Gleiche – Liebe und Dankbarkeit. Auch wenn sie gewiss miteinander verwandt sind.
Ist das nicht wirklich verwirrend, was im Haus von Simon passiert? Jesus ist zu Gast. Er ist nicht allein, das wird am Schluss der Geschichte aber erst gesagt. Wie im Scheinwerferspot stehen er, Simon der Pharisäer und die Frau dort; die andern am Tisch sind noch im Halbdunkel.
Wie kommt diese Frau hinein? Die traut sich was. Eingeladen war sie nicht. „Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers“, da schnappt sie sich ihr kostbares Salböl und geht einfach hin. Aber nicht nur das.
Sie geht direkt zu Jesus – eine unbekannte Frau zu dem Ehrengast. Überhaupt – eine fremde Frau zu einem fremden Mann. Das geht gar nicht. Schon da möchte man doch fragen: Wo bleibt hier die Security? Als mal ein paar Eltern ihre Kinder zu Jesus bringen wollen, damit er die Kinder segnet, stehen die Jünger gleich mit erhobenen Fäusten da und fletschen die Zähne. Ja, ich übertreibe. Aber es stimmt doch: sie wehren harmlose Eltern ab (Lukas 18,15). Sind die jetzt nicht mit?
Die Frau weint, ihre Tränen tropfen auf Jesu Füße, sie trocknet sie mit ihren Haaren, sie küsst Jesu Füße, sie salbt die Füße mit kostbarem Öl. Ein No-Go nach dem anderen. Ein Verstoß gegen die guten Sitten nach dem anderen. Keiner traut sich, etwas zu sagen. Aber Simons Gedanken hören wir. Unausgesprochen, dafür um so lauter wabern sie durch den Raum und werden wohl in den Köpfen der anderen widerhallen.
Das Gleichnis. Zwei bekommen Schulden erlassen. Der eine viel, der andere aber sogar das Zehnfache des ersten. Wer wird mehr lieben?
Der Vergleich Simon – Frau. Simon ist ein mieser Gastgeber. Kein Wasser für die Füße. Das gehörte zu den einfachsten Pflichten. Und sie: Tränen, viel kostbarer als Wasser.
Kein Begrüßungskuss. Der gebührt dem Gast, dem Ehrengast. Und sie: küsst die Füße Jesu.
Kein Salböl für den Kopf. Das bekommt vielleicht nicht jeder, der mal schnell zu Besuch hereinschaut. Aber es ist ein schönes Zeichen der Gastfreundschaft in der Sommerhitze, wo die Haut austrocknet und gebührt auf alle Fälle dem Ehrengast. Und sie: salbt die Füße.
In mir steigt eine Frage auf: Wann habe ich Jesus zuletzt so geliebt? Wann habe ich ihm meine Liebe schon einmal so deutlich gezeigt? Mit Simon kann ich gut mitgehen. Ich lade Jesus gerne ein zum Plausch. Das geht nicht so direkt, also lese ich in der Bibel. Ich lade gewissermaßen Gottes Worte in mein Herz ein – und damit ja Gott, seinen Geist, seinen Sohn. Ist doch toll, wenn Jesus zu Gast ist. Ach, ich feiere auch gerne mit Gott, für Gott. Gottesdienst feiern ist schön. Von Jesus erzählen ist schön. Das Mittagsgebet zu gestalten macht mir Freude. Im Bibelkreis mit andern über die Bibel reden macht Spaß. Die Gemeinschaft mit Menschen, die das auch so erleben, tut gut.
Und dann lese ich diese Geschichte. Ich begegne dieser Frau, die so völlig anders liebt und merke: Es geht um mehr als einen Plausch. Es geht um mehr als „Ach, Jesus, du bist’s. Komm doch rein. Nimm dir ein Bier und dann plaudern wir ne Runde.“ Und dann geht alles weiter wie bisher.
„Ich bin in dein Haus gekommen. Du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben. Du hast mir keinen Begrüßungskuss gegeben. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt.“
Stimmt, Jesus. Ich hab’s vergessen. Du bist doch mein Kumpel und guter Freund. Dachte, du kommst einfach rein, machst es dir bequem.
Kann es sein, dass Jesus mir zu sehr gewohnt, nein, gewöhnlich geworden ist? Mal vorsichtig in die große Runde gefragt: Kann es sein, dass uns Jesus zu gewöhnlich geworden ist; dass uns eine Menge religiöser Fragen in der Kirche beschäftigen und wichtig sind, aber Jesus ist uns aus dem Blick geraten? Gewiss: Wir sind neugierig auf ihn. Wir denken schon, dass die Bibel immer noch gute Impulse gibt. Und auch ihre kritischen Anfragen an uns selbst, an unseren Lebensstil, den Umgang miteinander, mit der Schöpfung hören wir uns an. Ist ja manches richtig. Wir sollten mal drüber nachdenken.
Aber dann frage ich mich – und Sie, euch: Ist das alles? Sind wir Simon, der Pharisäer? Und versteht das nicht falsch: Ich meine mit Pharisäer das Beste dieser wirklich frommen, bibelinteressierten, hochgläubigen Leute von damals. Jesus wirft Simon ja nicht vor, dass er ein Heuchler wäre. Das kriegen manche auch schon mal zu hören – hier und da in sehr scharfen Worten. Aber jetzt spricht Jesus nicht davon. Was Simon merkt, wenn er Augen und Ohren aufmacht, was ich merke: Jesus ist mal zu Gast. Schön. Aber ist das alles?
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr weicht dabei auch so etwas wie der christliche Erfolgsdruck von mir. Da ist kein Frömmigkeitsdruck, nicht in dem, wie Jesus mit Simon redet und nicht in dem, was ich in mir spüre.
Das könnte ja auch der Fall sein – und vielleicht hört mancher auch das dahinter: „Ich müsste doch Gott mehr loben, begeisterter sein von ihm. Und wenn ich beim Lobpreis nicht in Tränen und Ekstase ausbreche, ist meine Liebe zu Jesus nichts wert.“ Aber Nein. So ist es gerade nicht.
Was da wach wird, wieder wach und stark wird, ist Sehnsucht: „Jesus, ich will erfassen, was diese Frau bewegt hat. Ich will erfassen, warum sie so unbeirrbar ihren Weg zu dir geht. Ich will es begreifen, warum sie dich über alles liebt. Sie gibt sich dir vollständig hin. Warum?“
Weil ihr vergeben ist. Weil sie Gottes Liebe in einer Weise kennengelernt hat, die sie völlig überwältigt. Weil sie nichts Größeres mehr sieht als die Liebe Gottes – und die zeigt sich in Jesus.
Vor ein paar Tagen haben wir mit ein paar Menschen unter anderem über Vergebung gesprochen. Die menschliche Seite betrachtet. Aber auch Vergebung im Blick auf Gott und Mensch. Da sind wir auch an einer Stelle – ich denke, an der gleichen Stelle – nicht weitergekommen.
Warum stirbt Jesus am Kreuz? Wir kommen nicht weiter, wenn wir anfangen zu rechnen. Muss Jesus, der Sohn Gottes sterben, weil es einfach zu viel Sünde ist, die so viele Menschen in Tausenden Jahren angehäuft haben? Das kann wohl nur durch ein entsprechend großes Opfer beglichen werden. Gott rechnet nicht. Und wenn Gott sagt: Ich vergebe dir, dann steht dahinter keine Abrechnung. Der Gläubiger im Gleichnis schenkt dem mit den 500 Silberstücken alles – und dem mit den 50 auch. Er rechnet nicht und bemüht keinen Ausgleich.
Muss Jesus sterben, weil es der Teufel von Gott fordert? Das ist völlig undenkbar. Wenn der Teufel etwas von Gott zu fordern hätte, wäre er mächtiger als Gott. Wenn Gott sagt: Ich vergebe diesem und allen Milliarden Menschen, dann muss der Teufel, der Anwalt des Bösen und der Verursacher, still sein.
Wir werden keinen belastbaren, logischen, menschlich-wirklichen, mit unseren Vorstellungen erklärbaren Grund für Jesu Tod finden – nicht in Berechnungen und nicht in der Abwägung von Gläubigern Gott gegenüber.
Gott liebt uns. Und das unfassbare Zeichen dafür ist das Kreuz. Deine Sünden sind dir Vergeben. Es gibt nichts, was dich von Gott trennt. Nichts und niemand. Dir gilt Gottes Liebe – ohne Einschränkung. Jesu Opfer – ja, so nennt es die Bibel dennoch – ist keins, das sich berechnen lässt. Er stirbt, weil er liebt. Hör auf, eine Rechnung dafür aufzumachen.
Ich glaube, dass diese Frau genau das gesehen hat: Jesus liebt mich. Sie hat ergriffen, dass Jesu Liebe umfassend ist und sie völlig verändert. Sie ist kostbar. Sie ist der Schatz, der dort zu Jesu Füßen liegt. Sie selbst ist das kostbare Salböl. Jesu Liebe macht sie zu einer kostbaren Perle, zu einem Schatz im Acker, zu seiner Braut – Gleichnisse vom Himmelreich einmal andersherum gedeutet (Matthäus 13,44–46).
Ich glaube, dass Simon und auch die weiteren Gäste in seinem Haus das noch nicht verstanden haben. „Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?“ Sie rechnen immer noch und fragen nach Berechtigungen. Wenn sie begreifen könnten, dass Jesus sie liebt.
Und das ist meine Sehnsucht: Dass ich diese Liebe begreifen und ergreifen kann.
Ja, das hat etwas mit Vergebung zu tun. Vergebung heißt in diesem Moment: Gott fragt nicht danach, wie oft ich nur ein zwar frommer, aber doch recht liebesarmer Pharisäer war und bin. Vergebung heißt damit auch: Gott fragt nicht, wie viele einzelne, konkrete Sündlein und Sünden in meinem Leben hinzugetreten sind zu meiner Grundhaltung.
Gott beseitig, was uns trennt. Er hat Sehnsucht nach uns. Er liebt. Wer das ergreift, der fängt an so zu lieben, wie diese Frau im Hause des Pharisäers Simon. Das wünsche ich mir. Das wünsche ich unserer Kirche – den Menschen und der ganzen Institution.