Predigt zu Philipper 2,1–4
An Stelle des Psalms in der Eingangsliturgie wurde Philipper 2,5–11 gebetet.
Vor der Predigt wurde Apostelgeschichte 2,41–47 gelesen
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Hausgenossinnen und Hausgenossen – so könnte die Predigt heute anfangen, denn so hieß es ja im Wochenspruch. Der Sonntag steht unter der Überschrift: „Wie Leben in der christlichen Gemeinde aussieht“. Paradetext dafür ist der Bericht aus Apostelgeschichte 2. Die ersten Christen fangen an, Gemeinde zu leben und zu gestalten. Noch ist das Ganze unorganisiert. Im Schwung des Anfangs werfen die Menschen, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind, alles zusammen, was sie haben. Sie sind so voller Feuereifer – das Bild von Pfingsten steckt noch dahinter – dass sie täglich zusammenkommen, Abendmahl und Gottesdienst feiern und miteinander alles teilen, was sie besitzen. Sie unterweisen sich in dem, was zum Christsein dazu gehört und was es zu etwas Besonderem innerhalb des Judentums und darüber hinaus auch des Heidentums macht.
Man muss bedenken: die meisten der ersten Christen waren Juden, mehr oder weniger religiös geprägt. Und nach und nach kamen einzelne Heidenchristen dazu, vor allem ab dem Zeitpunkt, zu dem die Gute Nachricht die Stadt- und Landesgrenzen Jerusalems und Israels überwindet.
Schon in Jerusalem aber wird es bald auch nötig, genauer hinzuschauen. Wo Menschen zusammen sind, braucht es Regeln, damit das Leben gelingt. Die zehn Gebote sind solche Leitlinien. Als es zum Beispiel in Jerusalem bei der Verteilung der zusammengeworfenen Gaben Streit gibt, werden aus der Gemeinde Menschen gewählt, die sich um Gerechtigkeit bemühen sollen. In den Briefen von Paulus liest man manchmal von Bischöfen oder Ältesten. Der Anfang einer Gemeinde- oder Kirchenordnung wird sichtbar. Manches spricht er sehr konkret an. So mahnt er zu einer Spendensammlung, einer Kollekte für die armen Christen in Jerusalem. Oder er sorgt sich um die rechte Gestaltung einer Abendmahlsfeier.
Kirche ist als Lebensgemeinschaft von Menschen mehr als ein theologischer Diskussionszirkel. Der gemeinsame Glaube ist immer ein wichtiges Thema. Aber so manches, das auf den ersten Blick mit dem Glauben gar nichts zu tun hat, wird auch wichtig. Und: es geht immer noch etwas, das zur Vollkommenheit strebt. So sieht es jedenfalls Paulus, der seiner befreundeten Gemeinde in Philippi schreibt. Zu denen hatte er ein sehr herzliches Verhältnis. Wenn man den Philipperbrief liest, wird klar, dass er sich bei ihnen besonders wohl gefühlt hat. Also schreibt er nach Philippi, was das Nonplusultra christlichen Lebens ist, auch wenn dort eh schon alles gelebt wird, was man von einer christlichen Gemeinde im Grunde erwartet. Er schreibt (Philipper 2):
1 Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, 2 so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. 3 Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, 4 und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.
Das sind Grundzüge, durch die eine Gemeinde zu jeder Zeit auffällt. Schon ohne den Feinschliff, denn diese Eigenschaften im zweiten Teil des Abschnitts erfahren, sind es Edelsteine, die im Alltag einer Ich-orientierten Gesellschaft ins Auge fallen. Dass christliche Lehre in einer Gemeinde zu finden ist, kann wohl jeder erwarten. Ich nehme damit den Begriff der „Ermahnung in Christus“ etwas umfassender auf. Christen feiern Gottesdienste? Das verwundert nicht, das ist doch klar. Es gibt Konfirmandenunterricht oder Christenlehre? Klar doch, man sollte schon wissen, was man glaubt. An den Nahtstellen des Lebens wie Taufe oder Trauung, Erwachsen werden und beim Sterben hat die Gemeinde etwas zu sagen. Trost der Liebe – den suchen Menschen an solchen Nahtstellen. Und die Kirche bietet dafür einiges an, von den direkten Amtshandlungen bis zur Begleitung vorher und nachher in Gesprächen und geeigneten Gemeindegruppen. Das geht mit der Taufe und dem Krabbelkreis los, den es hier und da gibt. Das geht über die Junge Gemeinde und Gesprächskreise bis hin zu den Seniorenkreisen. Manchmal finden sich sogar eine Trauergruppe oder Mitarbeitende der Hospizarbeit ein.
Aber nicht genug mit diesen Angeboten. Herzliche Liebe und Barmherzigkeit nennt Paulus als Grundeigenschaften einer Gemeinde. Woran sollen Christen denn sonst erkannt werden? Uns würde vermutlich noch anderes einfallen: das Kreuz als Symbol, Kirchengebäude und Glockenläuten, Traditionen wie die Feiertagsruhe – obwohl, da hapert’s auch in christlichen Kreisen schon gelegentlich -, Orgelmusik und mehr.
Paulus hat die besseren Kennzeichen und kann sich auf Jesus Christus selbst berufen: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“, sagt Jesus zu seinen Jüngern (Johannes 13,35). Also nicht die äußeren, gewiss auch guten und wertvollen Kennzeichen machen das Christliche der Kirche aus, sondern die „inneren Werte“ sind entscheidend, die dann das Äußere von Symbolen über Gebäude bis zu Veranstaltungen bestimmen.
Paulus findet die inneren Werte bei seinen Philippern angelegt. Und reizt sie aus mit dem Ziel, die Vollkommenheit der Gemeinde zum Leuchten zu bringen. „Perfekt ist es, wenn ihr eines Sinnes seid, wenn ihr die gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Eigennutz? Nicht bei euch. Einer achte den anderen höher als sich selbst.“ Das würde gewiss auffallen – damals wie heute.
Unsere Welt hat sich andere Merkmale geschaffen. Der Kapitalismus, die freie Marktwirtschaft laufen aus dem Ruder. Ist doch die ganze Geschichte mit dem Eurorettungsschirm eine Farce, ausgelöst durch den blanken Egoismus der Geldwirtschaft. Zuerst kommt mein Gewinn. Und wenn ich mich verzocke, dann rettet mich bitte, sonst geht es mit euch auch den Bach runter.
Alle Welt klagt über Krieg und dass es zu viele Waffen in den falschen Händen gibt. Aber auf Waffengeschäfte verzichten will keiner. Hier werden immer noch horrende Gewinne erzielt. Das lassen sich nicht einmal Regierungen entgehen, die an den Steuern und manchmal auch direkt an den Geschäften gut mitverdienen. Ob das die Autolobby ist, die Energiekonzerne oder wer einem noch so einfällt: zuerst und allein mein Interesse steht im Vordergrund.
Begründet wird es dann sogar noch sozial: Wenn es mir gut geht, kann ich mit anderen teilen, kann doch auch viel mehr Gutes tun. Von der Demut, dem Mut zum Dienst am Nächsten, ist da nichts zu spüren. Selbst die Wohltätigkeit wird noch zum Geschäft, steigert sie doch auf den ersten Blick das Ansehen des Wohltäters – und dem Almosenempfänger geht es im Grunde nicht wirklich besser, der steht auch gar nicht im Rampenlicht.
Allzu verführerisch ist dieses Muster aber auch für uns geworden. Kein Wunder – wir können uns diesem Sog kaum entziehen. Man muss sich schon sehr bewusst dagegen entscheiden. Und fällt doch immer wieder drauf rein.
Ob Paulus seine Philipper und uns mit seinen Wünschen nach Vollkommenheit der Gemeinde überschätzt? Sind wir fähig, solche Leuchttürme zu sein, wie sie sich Paulus erhofft? Strahlen wir aus, was unsere Welt so dringend braucht?
Ich bleibe an dem einen Satz hängen: „In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ Das ist das Gegenprogramm zur Ich-Bezogenheit der Gesellschaft, die im Grunde aus der Ich-Bezogenheit jedes Menschen kommt. Ich finde es ziemlich spannend, dass Paulus diese Demut für den anderen, zu Nutz des anderen gar nicht in die Grundbeschreibung der Gemeindeeigenschaften hineinlegt, sondern in das, was eine Gemeinde vollkommen macht. Ermahnung, Trost, Liebe, Gemeinschaft, Barmherzigkeit – schon das sind ja Herausforderungen an uns.
So scheint aber die Demut, die den anderen in den Blick nimmt, noch gewichtiger zu sein – oder vielleicht anders gesagt: Sie veredelt noch diese Grundeigenschaften christlichen Lebens.
Dietrich Bonhoeffer hat aus diesem Gedanken, auf das zu achten, was dem anderen dient, den Satz gewonnen: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ In einer Zeit, in der auch die Kirche sich der Ansicht beugte, dass es vor allem dem deutschen Volk gut gehen muss und alle anderen sich unterzuordnen haben, wurden ihm die Gedanken einer Kirche für andere besonders wichtig. Nicht herrschen, sondern helfen und dienen soll die Kirche. Da ist schon das Wort Pfarrherr völlig unpassend für ihre Amtspersonen. Als „Laster“, denen es entgegenzutreten gilt, nennt Bonhoeffer die Hybris, die Anbetung von Kraft, Neid und Illusionismus. Die sind heute noch genauso aktuell, auch wenn sie andere Rahmenbedingen bekommen haben.
Hybris – also Hochmut und Selbstüberschätzung lässt immer wieder Menschen und Firmen zu Boden stürzen. Kraft, die zu Bonhoeffers Zeit durch den starken arischen Jungen symbolisiert und in ihm angebetet wurde, findet heute ihre Vertreter im Gesundheits- und Schönheitswahn genauso wie in mancher Staats- und Geschäftspolitik. Selbst in unseren Gemeinden verfallen wir dieser Anbetung, auch wenn wir uns dessen gar nicht bewusst sind. „Hauptsache gesund.“ Achten Sie mal darauf, wie oft sie diesen Satz in Gesprächen hören. Natürlich ist Gesundheit ein hohes Gut. Aber wenn sie zu dem Wert schlechthin erklärt wird, was ist dann mit allen Kranken? In der Kirche käme keiner auf die Idee, ihnen menschlichen Wert abzusprechen. Aber der Schritt dahin ist nicht groß, wenn die Hauptsache die Gesundheit ist. Neidisch ist wohl jeder mal auf einen anderen. Aber oft wird der Neid auch zum Programm, wird kultiviert und von manchen extremistischen Gruppen zum Instrument ihrer Machtsteigerung. Da wird der Neid auf Arbeitslose und Asylanten geschürt – und aus Neid wird schnell Hass auf die Sozialschmarotzer.
Dagegen setzt Bonhoeffer Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Genügsamkeit, Bescheidenheit – Werte, die in unserer Gesellschaft oft vermisst und angemahnt werden. Eine Kirche, die für andere da ist und sein Wohl fördern möchte, soll sich an diesen Werten orientieren. Mehr noch: sie soll sie in die Gesellschaft hineintragen, als Vorbild für diese Welt.
Kann es sein, dass an diesem Punkt der Begriff der Demut, in der einer den anderen höher achtet als sich selbst, anfängt, einen ganz anderen Glanz zu bekommen? Demut wird ja oft belächelt und abgetan als etwas, das nur so nach Unterwürfigkeit klingt und letztlich gar nichts ändert. Im Gegenteil: der Demütige überlässt doch dem Hochmütigen Prahler das Feld, überlässt Dummheit und Arroganz das Feld – denkt man. Anders aber Paulus oder Bonhoeffer. Demut wird aktiv. Demut mischt sich ein. Demut, die den anderen in den Blick nimmt, schreit auf, wo Unrecht geschieht und nimmt es nicht wortlos hin. Ein Bonhoeffer hat nicht still geschwiegen. Er hatte den Mut, sogar seinem Volk zu dienen, das so gründlich auf die schiefe Bahn geraten war, und etwas gegen den Tyrannen zu unternehmen – nicht weil er ein Held sein oder werden wollte, sondern weil er den immer größer werdenden Schaden abwenden wollte.
Ich muss an die Situation und Diskussion in manchen Gemeinden denken, in denen es – ganz banales Thema – keine Trauerhalle auf dem Friedhof gibt, aber eine Kirche. Oft haben wir darüber diskutiert, auch über Gebühren und mehr. Und ich habe die Worte eines Gemeindekirchenratsmitgliedes noch im Ohr: „Müssen wir nicht gerade den Kirchenfernen in einer Situation, in der sie Trost und Beistand brauchen, hilfreich und gastfreundlich zur Seite stehen?“
Vor kurzem hatten wir einen besonderen Konvent, bei dem wir in verschiedenen Gruppen ganz unterschiedliche Einrichtungen der Diakonie aufgesucht haben. In der anschließenden gemeinsamen Diskussionsrunde tauchte die Frage auf, ob christliche Diakonie nicht mehr anbieten muss, als es zum Beispiel staatliche und gewiss sehr gute Häuser anbieten. Was ist dieses Mehr, das noch wie ein Leuchtfeuer in die Welt hineinleuchtet? Sind es zum Beispiel die extra 10 Minuten an Zeit, die vom Pflegesatz nicht abgedeckt sind, die ein Mitarbeiter aber trotzdem vom Träger bezahlt bekommt? Wollen wir uns dieses Extra an Strahlkraft leisten?
Macht meine Freude vollkommen, schreibt Paulus. Lebt nicht nur das, was man als guter Mensch auch schon lebt und was man in einer christlichen Gemeinde auch erwartet. Lebt das Mehr, das darüber hinaus leuchtet. Eine Überforderung? Ich glaube nicht, dass Paulus es so gemeint hat: immer mehr anstrengen, immer noch mehr leisten und nicht wissen, woher die Kraft noch kommen soll.
Wir haben als Psalm heute die Verse gebetet, die nach diesem Predigttext im Philipperbrief stehen. „Seid so gesinnt, wie Jesus Christus es war.“ Darum geht es Paulus. Lasst euch anstecken vom Vorbild Jesu Christi, lasst euch beflügeln von einem, der genau das gelebt hat – für andere, für euch da zu sein. Lernt seinen Blick, seht die Menschen mit seinen Augen, und ihr könnt gar nicht anders, weil euch Gottes Liebe zu seiner Welt durchströmt. Das hat die Welt schon verändert. Und es wird sie weiter verändern, wenn ihr diese Liebe Gottes lebt.
Amen.