Predigt zu Matthäus 14,22–33
Na, das war ja gerade noch einmal gut gegangen. Schon mehr als bloß nasse Füße, die Petrus sich geholt hat. Mit einem Sprichwort gesagt: „Das Wasser stand ihm bis zum Hals.“ Das trifft es wohl eher. Wenn da nicht Jesus gewesen wäre, der beherzt zupackt und Petrus aus den Fluten zieht. Rettung in letzter Sekunde.
Manchmal braucht es solch einen Retter, der im entscheidenden Moment da ist und eingreift. In den Zeitungen kann man immer wieder lesen, wie Menschen so aus großer Gefahr gerettet wurden. Gerade jetzt, wo das Hochwasser wieder enormen Schaden angerichtet hat, gibt es nicht nur Unglücksmeldungen, sondern auch die Berichte von der einen oder anderen gelungenen Rettungsaktion.
Um schnell und richtig helfen zu können, wenn mal etwas schief geht, haben die Mitarbeitenden im Kirchenkreis – Gemeindepädagogen und Pfarrer – vor kurzem gemeinsam einen Erste-Hilfe-Kurs zur Wiederauffrischung ihrer Kenntnisse gemacht. Das fängt bei der kleinen Rettung mit einem Stück Pflaster und einem tröstenden Wort an und geht bis hin zu lebensrettenden Sofortmaßnahmen.
Auch im übertragenen Sinn ist uns das ja nicht fremd. Rettung in letzter Not kann es für die Hausfrau sein, wenn sie bei der Nachbarin noch Milch bekommt, weil unverhofft Kaffeebesuch gekommen ist.
Bei Petrus und den Jüngern ging es aber wirklich ums Überleben. Sie waren auf dem See Genezareth in einen schlimmen Sturm geraten. Die Wetter- und Ortskundigen erklären das damit, dass von den Bergen, die den See umgeben, manchmal eben Winde regelrecht herabfallen und den See mächtig aufwühlen. Und das oft ohne Vorwarnung. Die Jünger im Boot quälen sich fürchterlich, sie mühen sich ab, um das Boot halbwegs stabil zu halten.
Der Wind stand ihnen entgegen, erzählt Matthäus. Wieder so ein Bild, das uns als Redewendung im Alltag begleitet. Gegenwind bekommen Menschen, wenn sie unbequeme Wahrheiten sagen. Gegenwind bekommen Menschen, wenn sie ihren Glauben bekennen und leben. Und dann ist es anstrengend, auf dem richtigen Lebenskurs zu bleiben. Wenn der Wind entgegensteht, muss einer ganz schön rudern, um voranzukommen.
Aber nicht genug damit, dass ihr Schifflein auf dem Wasser hin und her geworfen wird. Plötzlich fangen sie auch noch an, Gespenster zu sehen. Ihre Fantasie spielt ihnen wohl einen Streich, denken sie. Das hat der eine oder andere vielleicht auch schon erlebt. Nachts auf schlecht beleuchteter Straße sieht man in Hecken und Bäumen seltsame Gestalten hocken. Unheimliche Schatten jagen über die Straße, wenn Mondlicht und Wolken miteinander gruselige Spiele spielen. Wer eine gute Fantasie hat, sieht schnell Gespenster. Und wenn dann noch körperliche Anstrengung, Müdigkeit und die entsprechende Geräuschkulisse dazu kommen, na dann gute Nacht.
Die Jünger sehen etwas, das sie für ein Gespenst, wörtlich ein Fantasiegebilde halten. Und sie erschrecken davor. Ist das nicht ein Stück Lebenserfahrung, die hier verdichtet, zusammengedrängt in ein paar Worte erzählt wird? So ist das Leben nun mal. Noch läuft alles in halbwegs geregelten Bahnen, und auf einmal zieht ein Unwetter auf, bricht ein Sturm los. Kann sein, dass der Nachbar einen Streit vom Zaun bricht, der sogar bis vor den Kadi kommt. Lappalien wachsen sich aus und beschäftigen eine ganze Schar von Anwälten, die Kosten werden unüberschaubar und jeder ist froh, wenn er da gerade so noch mit heiler Haut davon kommt. Kann sein, dass einer auf schneeglatter Straße ins Schleudern kommt und in einen Baum kracht. Zitternd klettert er aus dem Auto. Das Leben ist gerettet. Aber woher soll das Geld für ein neues Auto kommen. Und: ohne Auto kommt man ja nicht mehr zur Arbeit. Kann sein, dass Straßenausbau oder Abwassergebühren plötzlich über jemanden hereinbrechen und tatsächlich wie eine Sturzflut die Lebensplanung über den Haufen werfen, die Existenz bedrohen.
Wir sind auf einem Lebensmeer unterwegs, das immer Überraschungen bereit hält. Und manch böse Überraschung ist durchaus dabei. Wer steht uns da bei? Wer hält zu uns und rettet uns? Gott?
Die Jünger damals jedenfalls waren ohne ihren Jesus losgefahren. Und das noch dazu auf sein Geheiß. Jesus trieb sie geradezu von sich. Er zwang sie, forderte sie mit allem Nachdruck auf, schon mal vorzufahren. Denn Jesus wollte seine Ruhe. Ist das nicht befremdlich für uns? Wir versichern uns gegenseitig doch immer der Nähe Gottes – und dann lesen wir, dass Jesus seine Jünger tatsächlich auf Abstand haben will. Sein Grund: er braucht jetzt einen anderen ganz in seiner Nähe. Er sucht die ungestörte Nähe zu Gott.
Wer sich die Geschichte durchliest, die vorher passiert ist, weiß auch, warum. Jesus muss erst einmal wieder runterkommen, wie man sagt. Denn eben noch hat er 5000 Leute satt gemacht, mit fünf Broten und zwei Fischen. Das war ein bedeutendes Ereignis gewesen. Und auch wenn es nicht erzählt wird: das kann auch an Jesus nicht spurlos vorüber gegangen sein. Den ganzen Tag schon hatte er gepredigt, Fragen beantwortet und Kranke geheilt. Dann dieses Speisungswunder. Rein menschlich gesehen: Jesus war „alle“, kaputt nach diesem Tag. Ich denke, wer öfter mit Menschen zu tun hat und mit ihnen zusammen etwas erlebt, der kann sich das gut vorstellen. Nach einem schönen, festlichen Gottesdienst oder einem tollen Konzert bin ich jedenfalls auch „alle“, geschafft. Auch – und vielleicht gerade, wenn es richtig gut war. Wer mich kennt weiß, dass ich beim Konzert dann am liebsten meine Kabel zusammenwickle und die Technik aufräume. Rückzug in mein Inneres, wobei mir die mechanische Tätigkeit hilft und mich auch vor manchen Gesprächen schützt, die jetzt gerade nicht führen will. Jesus sucht die Nähe zu Gott, weil er auftanken muss, weil er das Erlebte verarbeiten muss, mit seinem Vater in der Stille bereden will.
Seinen Jüngern muss das so vorgekommen sein, als ob sich Jesus von ihnen distanziert. Wenigstens räumlich war es ja auch so. Manchmal erleben wir aber auch solch eine Distanz zu Gott. Wir denken: er sitzt da auf seinem heiligen Berg und bekommt gar nicht mit, dass wir ganz schön zu rudern haben. Gott ist an Land – und wir treiben mit unserer Nussschale über das raue Meer des Lebens. Manchmal scheint es so. Hiob, diesem Leidenden des Alten Testaments, kommt es so vor. Mancher Psalmbeter hat es so erlebt und schmerzhaft in seinem Gebet zum Ausdruck gebracht. Klagepsalmen können wahrhaft ein Lied davon singen. Wer steht uns bei? Wer rettet uns? Gott?
Ich glaube, Jesus kennt schon längst die Not seiner Jünger. Denn Raum und Zeit sind kein Hindernis für ihn. Er hat andere Möglichkeiten, nah zu sein. Aber wir können diese Möglichkeiten nicht verstehen, sie sind uns zu fantastisch. Jesus eilt seinen Jüngern zu Hilfe, auf fantastische Weise. Sie mutet ja geradezu gespenstisch an. Wir haben es gehört. So muss er – wie so oft – erst einmal Mut machen: „Seid getrost. Ich bin’s. Fürchtet euch nicht.“ Es ist das „Fürchtet euch nicht“, das die Engel in der Weihnachtsgeschichte zu den erschrockenen Hirten sagen. Es ist das „Fürchtet euch nicht“, das Gott immer sagen muss, wenn er so unvermittelt Menschen begegnet. Jesus ist so erschreckend anders nah, dass die Jünger erbeben.
Manchmal frage ich mich, ob wir dieses Erschrecken kennen, wenn es um Jesus geht. Und gelegentlich überlege ich, ob uns Jesus nicht manchmal zu kuschelig nahe ist. Die Jünger, die ihn nun schon gut kannten, die erschraken jedenfalls. Und es ist Jesus selbst, der ihnen die Furcht nehmen muss. „Seid getrost. Ich bin’s.“ Ihr kennt mich, ihr wisst, dass ich Gutes für euch will. Ich heile euch, ich rette euch. Ihr wisst es. Fürchtet euch nicht mehr.
Eben noch distanziert springt nun Petrus auf. Wenn schon Jesus, dann richtig Jesus. Wenn du schon hier bist, dann will ich auch richtig nah bei dir sein. Petrus ist so begeistert, mit seinen Gedanken ganz bei Jesus, mit seinen Augen ganz bei Jesus, dass er die Bedrohung schon ganz vergessen hat. Es gibt solche Momente im Leben. Vielleicht sind sie ganz selten, ein- oder zweimal, vielleicht auch häufiger. Mancher kennt tatsächlich diese Augenblicke, in denen absolut nichts mehr zwischen uns und Gott steht. Augenblicke, wo uns der Glaube tatsächlich trägt, Flügel verleiht, unbesiegbar macht. Ein gutes Erlebnis kann das auslösen. Ich kenn es von schönen Freizeiten – oder auch von einem beeindruckenden Kirchentag. Da ist Hochstimmung angesagt, mit der Menschen dann nach Hause fahren. Und diese Stimmung ist nicht nur Gefühl. Warum sollte man das kleinreden? Wir erwarten doch, dass uns Gott begegnet. Und manchmal macht er das auf geradezu atemberaubende Weise.
Doch jetzt wird es spannend – für uns und zuerst einmal für Petrus. Er springt tatsächlich aus dem Boot und läuft auf dem Wasser. Ein irrer Typ, oder? Der traut sich was. Den Blick fest auf Jesus gerichtet trägt ihn das Wasser, das bekanntlich ja keine Balken hat. Er kommt bei Jesus an. Es geht. Es geht wirklich. Und was macht er dann? Er verliert den Boden unter den Füßen, weil er auf einmal wieder Anderes im Blick hat. Der Wind ist da – und macht ihm Angst. In dem Moment sagt Jesus etwas, das mir so bekannt war, und bei dem ich etwas ganz Neues entdeckt habe.
Das Bekannte: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt.“ Was wir ja auch gerne mal machen – zweifeln. Und von da ist es nicht weit zum Verzweifeln. Wir schieben es dann gerne auf das erste, den kleinen Glauben, den wir haben. Dabei sagt Jesus doch einmal: „Wenn euer Glaube auch nur so groß ist wie ein Senfkorn, könnt ihr damit doch Berge versetzen.“ Und ich behaupte: es liegt nicht an der Größe oder Stärke unseres Glaubens. Wie ich darauf komme? Luther übersetzt: Warum zweifelst du. Alle anderen übersetzen auch so.
Aber hinter dem Zweifel steht ein Wort, das mich ganz stutzig gemacht hat. „eis ti edistasas“ – kommt vom dem Wort „distazo“: zweifeln, im Zwiespalt sein, halbherzig sein. Klingt das nicht nach Distanz? Auch wenn dieses Fremdwort sich vom Lateinischen herleitet – mit der klanglichen Ähnlichkeit darf man spielen.
Eine Distanz ist doch ein Zwiespalt – hier ein Teil und da ein Teil. Distanz ist doch Halbherzigkeit. Ein Teil des Herzens ist hier, der andere da.
Das Problem ist nicht der Glaube. Das Problem ist die Distanz, die Entfernung. Zweifel schafft Distanz. Petrus entfernt sich von Jesus. Selbst wo er ihm räumlich jetzt ganz nah ist, entfernt er sich von ihm. „Warum entfernst du dich von mir?“ Und das kenne ich wieder gut genug. Wie schnell kommt mir anderes in den Sinn, wenn es um Gott geht – und ich werde halbherzig, gehe auf Distanz. Das muss ja gar kein Gegensatz sein. Einfach nur ein Abstand.
Petrus zweifelt ja gar nicht daran, dass er auf dem Wasser gegangen ist. Aber blickt weg, geht mit seinen Augen auf Distanz zu Jesus. Jesus UND der Wind, Jesus UND die Wellen. Jesus UND das völlig Unmögliche. Ein kleiner Abstand – und Wasser ist wieder Wasser, ohne Balken. So nah bei Jesus – und doch schon einen Schritt weg.
Ist das nicht unser Alltag? Wir leben oft mit diesem Abstand, diesem Wörtchen „Und“, das sich zwischen uns und Jesus schiebt. Hier Jesus – und da die Zwänge im Berufsleben. Muss man nicht mit den Wölfen heulen? Muss man nicht manchmal zu einer Notlüge greifen? Hier Jesus – und da die vielen Angebote unserer Zeit. Ich verpasse etwas, wenn ich nicht die aktuellsten Filme sehe, Musik höre, den schnellsten Internetzugang habe.
Mit den Schwierigkeiten, die uns wirklich bedrängen, geht es aber genauso: Hier Jesus – und da die Krankheit. Wie kann ich denn glauben, wenn ich nicht gesund werde? Hier Jesus – und da ein Todesfall, ein Unglück, eine Notlage. So nah kann Gott dann doch nicht sein. Distanz, Zwiespalt, Abstand zu Gott.
Und was macht Jesus? Wo der Blickkontakt nicht mehr da ist, greift er zu. Den Petrus packt er bei der Hand und bringt ihn bis zum Boot. Jesus hält die Distanz nicht ein, er hält den Abstand nicht aus. Gott hält den Abstand, den wir Menschen oft von ihm halten, nicht länger aus. So wird er Mensch – das ist das sichtbarste Zeichen seiner Nähe. So sichtbar, dass Johannes am Anfang seines Evangeliums schreiben kann: Wir haben seine Herrlichkeit gesehen. Gott verabschiedet sich von der Distanz, er wohnt mitten unter seinen Menschen. Er lebt unser Leben und geht sogar mit in den Tod. Die Geschichte nimmt ein gutes Ende, weil Jesus den Abstand überwindet, weil Jesus nah ist. Er ist es schon, als noch etliche Kilometer zwischen seinen Jüngern und ihm liegen. Er ist nahe, als Petrus von ihm wegblickt und nur noch den Wind sieht. Er ist nahe und tritt ins Boot – in unser Lebensboot. Und der Sturm hört auf!
Die Geschichte lässt mich mit einer Frage in meinen Alltag gehen: Wo gehe ich auf Distanz zu meinem Gott? Wo schiebt sich ein „Und“ zwischen Gott und mich? Denn durch jede noch so kleine Lücke dringt dann das Wasser ein, das mich sinken lässt. Gut, diese Lücken zu finden und den Abstand wieder zu überwinden.
Diese Geschichte macht mir neuen Mut: Gott selbst überwindet den Abstand, den ich manchmal, vielleicht oft einnehme. Er steigt mit in mein Boot. Das schwimmt immer noch auf dem unruhigen Meer des Lebens, aber er ist dabei. Gott ist nah. Er hält meine Hand fest. Mein Glaube mag klein sein, angeschlagen, mit Fragezeichen versehen. Aber wo Jesus uns festhält, können wir sogar über Wasser gehen.