Israelsonntag — der 10. Sonntag nach dem Trinitatisfest. Die Kirchen denken an diesem Sonntag an das besondere Verhältnis von Christen und Juden – belastet durch viele unsägliche Entscheidungen und Taten in der christlichen Geschichte, aber auch voller Hoffnung durch Dialog, Versöhnung und Verständigung. Und eine bleibende Aufgabe.
Dazu die Predigt in der Stadtkirchengemeinde. Der Gottesdienst begann mit einer besonderen Liturgie im Freien, an der Stätte der Mahnung.
Predigt zu 5. Mose 4,5–20
Und nun, Israel: Höre auf die Gesetze und Bestimmungen, die ich euch lehre! Handelt danach, damit ihr am Leben bleibt und in das versprochene Land kommt! Dann werdet ihr das Land in Besitz nehmen, das der Herr, der Gott eurer Väter, euch gibt. (Deuteronomium 4,1)
Ausblick mit Rückblick. Das 5. Buch Mose erzählt davon. Mose schaut zurück auf 40 Jahre Wanderung durch die Wüste. 40 Jahre war er mit dem Volk Israel gezogen als ihr Anführer. 40 Jahre ist die Flucht aus Ägypten her. Und jetzt steht er mit dem ganzen Volk an der Grenze zum verheißenen Land Kanaan, dem gelobten Land, dem Land, in dem Milch und Honig fließen. Mose schaut zurück. In den ersten drei Kapiteln im 5. Buch Mose hat er verschiedene Stationen und Lagerplätze aufgezählt. „Wisst ihr noch? Erinnert ihr euch?“ Das ist die Frage im Hintergrun.
Die Israeliten haben allerhand erlebt, manchen Kampf ausgefochten. Gott angemeckert, weil das Essen nicht schmeckte. Geklagt, wenn es kein Wasser gab. Verzagt, weil Kundschafter berichtet hatten, dass das verheißene Land von ihnen gar nicht eingenommen werden kann. „Dort wohnen Riesen.“ Da können wir nicht hin. „Ach, wären wir lieber in Ägypten geblieben. Da gab es satt zu essen und immer zu trinken.“ Stimmt. Aber da waren die Israeliten auch versklavt, der Pharao ließ Kinder ermorden, weil ihm das Volk zu groß und zu stark wurde. Schläge gab es und immer mehr Arbeit. Gott ging dieses Murren manches Mal auf den Zeiger. Aber immer wieder hat er sein Volk zu sich zurückgeholt, für sich gewonnen. Seine Liebe hat alles überwunden und hat den Israeliten geholfen durchzuhalten und anzukommen.
Mose blickt zurück. Und er gibt den Israeliten einiges mit auf den weiteren Weg – denn er selbst wird nicht in das verheißene Land hineinziehen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Vergesst nicht [sagt er]: Ich habe euch die Gesetze und Bestimmungen gelehrt, wie es mir der Herr, mein Gott, befohlen hat. Handelt danach in dem Land, in das ihr kommt! Ihr sollt es in Besitz nehmen.
Befolgt die Gebote und handelt danach! Denn darin liegen eure Weisheit und euer Verstand, was den anderen Völkern auffallen wird. Sie werden von allen diesen Gesetzen hören und dann über euch sagen: »Wie weise und vernünftig ist doch dieses große Volk!« (Deuteronomium 4,5–6)
Leben, das Auswirkungen hat. Leben, über das andere Menschen reden. Spannend ist, über was andere sprechen und was sie bewundern werden, wenn sie Israel anschauen. Heute wird ja auch viel über Menschen gesprochen, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Selten ist Gutes dabei: Wie viele Millionen hat der nun wieder veruntreut? Schauspieler X ist zum fünften Mal geschieden und wurde gerade mit seiner neuen Flamme gesehen. Fußballer Y für 30 Millionen an Verein Z verkauft. Klatsch und Tratsch – und am besten das Negative. Auch über Gutes wird gesprochen, aber das viel zu selten. Vielleicht, weil wir uns damit gar nicht so gut fühlen, wenn andere gut dastehen? Dagegen sehen wir gegenüber richtigen Bösewichten und moralisch zwielichtigen Gestalten ziemlich gut aus. Naja.
Leben, das Auswirkungen hat. Leben, über das andere Menschen reden. Und zwar Gutes reden. „Sie werden über euch sagen: »Wie weise und vernünftig ist doch dieses große Volk!«“ In Gottes Wort liegt Weisheit. Und ihm zu vertrauen – Gott und seinem Wort vertrauen – das zeichnet verständige Menschen aus. So bringt es Mose auf den Punkt. Mose steht damit nicht alleine da. Alle Schriften der Bibel sind voll von dieser Art Weisheit. Gott folgen, ihm gehorchen, ihn ehrfürchtig anbeten, auf ihn voller Ehrfurcht und Hochachtung schauen und hören, das ist Weisheit. „Die Gottesfurcht ist der Weisheit Anfang – das weiß Hiob (Hiob 28,28), das wissen die Beter der Psalmen (Psalm 110,11), davon wird im Buch der Sprüche geschrieben (Sprüche 1,7; 9,10).
Und wie das Vorbild der Glaubensgemeinschaft von Christen wirken kann – kleiner Ausblick in die Zeit Jesu –, wirken soll, sagt Jesus selbst und sagen die Apostel: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“, sagt Jesus zu seinen Jüngern (Johannes 13,35). „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“, heißt es in der Bergpredigt (Matthäus 5,16). Über die wachsende Christengemeinde in Jerusalem schreibt die Apostelgeschichte: “Sie fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.” (Apostelgeschichte 2,47).
Vorbild wirkt. Glauben wirkt und strahlt aus. Ob das eine gute Tat ist, ob es tröstende Worte sind, ob es die Liebe ist oder Weisheit, das Alltags- und Weltgeschehen zu bewerten, prophetisch zu reden – Glaube wirkt. Weil Gott wirkt und sichtbar wird. Das jedenfalls ist der Plan. Gott soll verherrlicht werden. Und sein Volk Israel ist der erste Träger dieser Aufgabe und genauso dieser Zusage, dieser Verheißung. Für Mose steht das völlig außer Frage: Wenn ihr Israeliten unserem Gott folgt und völlig auf ihn vertraut, dann werden die andern aber Augen machen. Sie werden staunen, und zwar über Gott, über euren, über unseren Gott. Noch mal zwei Verse aus Kapitel 4 (V. 7–8):
Urteilt selbst: Welches Volk ist ein so großes Volk und hat Götter, die ihm so nahe sind wie uns der Herr, unser Gott? Wir beten zu ihm und er hört uns. Welches andere große Volk hat Gesetze und Bestimmungen, die so gerecht sind wie unsere? Nur wir haben diese ganze Weisung, die ich euch heute verkünde.
Israel hat dieses besondere Kennzeichen und diese besondere Würde: Gott ist seinem Volk nahe. Gott ist Israel viel näher, als es alle anderen Götter in ihren Völkern sind. Woran merkt Israel das? „Wir beten zu ihm und er erhört uns.“ Dieser Gott ist im Gespräch – mit Mose und mit anderen einzelnen wie vorher schon Abraham, Isaak, Jakob oder Josef. Aber auch mit seinem Volk insgesamt.
Wieder ein Ausblick auf Jesus: „Bittet, so wird euch gegeben!“, sagt er in der Bergpredigt (Matthäus 7,7). Und Jesus lädt die Jünger, lädt uns ein, Gott direkt mit „Vater“ anzureden (Matthäus 6,7 ff.). Wir müssen uns keine besonders schöne, ehrenvolle, huldigende, königliche Namen ausdenken, viele Bücklinge machen, Unmengen an Opfer verbrennen, um zu Gott zu kommen. „Sagt einfach Vater zu Gott, denn genau so ist er zu euch: wie ein guter, vertrauenswürdiger Vater, der voller Liebe zu seinen Kindern ist.“ Diese Nähe Gottes gilt für sein Volk Israel. Und wir sind als Nachfolger seines Sohnes hineingenommen in diese Beziehung.
Eins ist grundlegend. Daran erinnert Mose: Gott hat euch erwählt. Gott hat euch seine Gebote gegeben und sie mit seinen Zusagen verknüpft. Gott, Gott allein hat euch aus der Sklaverei befreit. Das kann nur eine Konsequenz haben: Israel wird sich niemals einen anderen Gott suchen. „Macht das nicht! Betet nicht Sonne, Mond und Sterne an. Gießt euch keine Götzenbilder aus Gold und Silber. Schnitzt keine aus Holz. Das alles können andere Völker machen. Ihr nicht. Ihr kennt den einzigen, wahren, ewigen Gott. Und ihr seid seine Kinder.“ Noch einmal ein Vers aus 5. Mose 4 – Vers 20: „Aber der Herr hat euch genommen und aus Ägypten geführt. Dieses Land wirkte auf euch wie ein Schmelzofen. So wurdet ihr Gottes eigenes Volk, sein Eigentum. Das seid ihr auch heute noch.“ Mose wird nicht müde, dieses besondere Verhältnis Israels zu Gott zu beschreiben, ja zu betonen und es einzuschärfen.
Das ist nun schon lange her. Hat sich das irgendwann nicht einmal erledigt? So dachte man in der Kirche an vielen Stellen in der Geschichte. Und immer hatte das fürchterliche Folgen für die Juden. Jedes Mal, wenn Christen meinten, sie seien nun an die Stelle von Gottes auserwähltem Volk getreten, wurden Juden verfolgt. Sie, die an den Schöpfergott, an den Vater Jesu Christi glaubten, wurden verfolgt, wurden aus Städten vertrieben, wurden ermordet – von Christen.
Schon bei Paulus taucht die Frage auf, ob den Gott immer noch an Israel festhält. Hat sich doch erledigt mit Jesus, oder? Und er stellt es unmissverständlich klar: Nein, es hat sich nicht erledigt. Dieses Volk ist immer noch Gottes Volk. Jeder Nachkomme ist immer noch Angehöriger des auserwählten Volkes Gottes. Seine Berufung nimmt er nicht zurück. Seine erste Liebe verlässt er nie. Seine Verheißungen gelten ohne Abstriche, ohne Einschränkungen. Sie haben kein Verfallsdatum, niemand tritt an der Stelle Israels in Gottes Zusagen ein (Römer 9–11). Das ist wohl das Wichtigste, was wir Christen auch heute wieder zu lernen und zu beherzigen haben, wenn es um Israel geht. Jede Jüdin und jeder Jude gehört zu seinem auserwählten Volk, immer, ohne Einschränkung.
Es ist ein Segen, dass wir durch Jesus Christus in diese Beziehung zwischen Gott und seinem Volk hineingenommen sind. Paulus gebraucht dafür ein Bild aus dem Gartenbau: Israel ist der Ölbaum, Israel ist der Wurzel, ist der Stamm eines kostbaren Ölbaums. Und wir Christen sind in diesen Ölbaum eingepfropft worden. So sind wir fest und untrennbar Teil davon. Aber wir sind nicht die Wurzel. Wenn wir uns von Israel lossagen, trennen, dann verlieren wir die Wurzel.
Für mich entdecke ich darin dreierlei. Zum Ersten bewundere ich und staune über Gottes Herrlichkeit und über das, was er an Israel in der Vergangenheit getan hat. Schon Mose, gerade mal nach 40 Jahren Befreiung aus der Sklaverei ermahnt sein Volk, niemals zu vergessen, was Gott getan hat. Schaut euch die Geschichten an. Die Verheißungen erzählt euch immer wieder. Haltet euch die Gebote vor Augen, die uralten, immer noch gültigen. Und lobt Gott für seine Liebe. Lobt ihn für seine Treue. Staunt über seine Liebe, freut euch an ihr, lebt darin.
Zum Zweiten freue ich mich, dass wir dazugehören. Wir sind keine Juden, müssen auch nicht dazu werden. Aber durch Jesus, durch den Juden Jesus, den Sohn Gottes, sind wir in die Zusagen Gottes hineingenommen. Wir haben ebenfalls Gottes Weisungen, die gut sind und denen zu folgen Weisheit bedeutet. Wir haben seine Verheißungen. Die ganzen „Fürchte dich nicht“ Worte, viele davon im ersten Teil der Bibel, dürfen wir hören, als seien sie zu uns gesagt. Der Plan Gottes schon von Abraham an, dem Urgroßvater der Israeliten, war: Du, Abraham, du Israel sollst ein Segen sein. Durch dich will ich alle Völker, alle Menschen segnen (Genesis 12,1–4). Der Segen für Israel gilt uns. Aller Segen Israels. Durch Jesus.
Und zum Dritten, gerade heute am Israelsonntag: Wir haben immer noch und heute wieder eine besondere Verantwortung dafür, wie wir uns zu Israel und zu unseren jüdischen Geschwistern stellen. Wie reden wir über sie? Erkennen wir an ihnen Gottes Größe, seine Liebe und Treue und freuen uns darüber? Beten wir für Israel und für die Juden weltweit? Wie gehen wir mit unserer Kirchen- und Christengeschichte um? Sehen wir und bekennen wir die Schuld, die Generationen vor uns auf sich geladen haben und der wir nicht ausweichen können? Lassen wir uns hineinnehmen in die Arbeit der Versöhnung und Verständigung? Diskutieren wir gerade in Wittenberg ernsthaft und offen über die unselige Schmähplastik an der Stadtkirche und darüber hinaus über die vielen unseligen Worte von Luther und seinen gelehrten Nachfolgern?
Ja, ja, das tun wir. Und es sollte uns nicht Leid sein, dass das immer wieder zum Thema wird. Es sollte uns auf dem Herzen liegen, dass das Verhältnis von Christen und Juden von Liebe, von Geschwisterlichkeit bestimmt wird. Wer weiß: Vielleicht sagen dann andere auch mal über uns: „Wie weise und vernünftig ist doch dieses Volk in Wittenberg?“ Nicht weil wir so schlau sind, sondern weil wir uns an Gott festhalten. Weil wir uns von seinem Geist leiten lassen. Weil Jesu Liebe uns durchströmt und uns gerade den Blick für unsere Geschwister wieder öffnet.