Gedanken zu Psalm 62
Stille. Einer sitzt ganz ruhig, allein mit sich und seinen Gedanken. Vielleicht in einer Kirchenbank, vielleicht bei einem Waldspaziergang auf einem einladenden Baumstumpf. Stille, Ruhe, Entspannung, Gelassenheit. Ach, wie schön das Leben doch ist.
Auch dem glaubenden Menschen tut Stille gut, also solch eine Stille, in der es keine Zweifel, keine Unruhe, kein Rumoren der Seele gibt. Einfach mal die gläubige Seele baumeln lassen. „Meine Seele ist stille zu Gott.“ So viel Vertrauen, so viel Geborgenheit. Glücklich, wer das kennt und so reden kann.
Mutet es da nicht eigenartig an, dass der Liederdichter in Psalm 62 ganz unvermittelt ein so ganz anderes Bild aufzeigt? Von Mord ist die Rede, von üblem Geschwätz und Umsturz. Der da scheinbar so ruhig und entspannt dasitzt in großer Geborgenheit, wird verfolgt. Sie alle stellen ihm nach und wollen ihm ans Leben. Wollen ihn umwerfen. Wie eine alte, brüchige und schräge Mauer soll er fallen. Manche begegnen ihm vielleicht in offener Feindschaft. Andere aber kommen subtiler, mit falscher Freundlichkeit als Maske, im Herzen schon den Fluch, die Verwünschung formuliert.
Zwei verschiedene Bilder. Die passen doch gar nicht zusammen, oder? Hier der Ort der Geborgenheit, an dem die Seele sicher ist und ganz ruhig wird – dort alle Unbill des Lebens, aller Hass, alles Unglück, das einem Menschen entgegen geschleudert wird.
Und doch: der da so stille ist, hat diese Anfeindungen erlebt. Ja, er steckt immer noch mittendrin. „Wie lange noch?“, so fragt er in seinem Lied.
Dass er die bedrohliche Situation nicht einfach ignoriert, zeigt sich daran, dass er sie so deutlich und drastisch beschreibt. Wer die Erzählungen über König David liest, dem dieser Psalm zugeordnet ist, entdeckt die bedrohlichen Lagen, denen er ausgesetzt war.
Am schlimmsten war es vielleicht zur Zeit der Rebellion seines eigenen Sohnes Absalom. Die Bibel beschreibt es mit einem Bild, das treffender nicht sein könnte. Sie sagt in 2. Samuel 15 über Absaloms Vorgehensweise: „So stahl Absalom das Herz der Männer Israels.“ – List und Tücke, freundliche Rede, und den Fluch schon im Herzen.
David kennt diese Tiefe der Bedrohung. Er verschweigt sie nicht. Im Gegenteil: in seinem Lied kommen ihm all diese Bilder wieder hoch, die Bedrohungen sind so real, dass sie ihm fast den Atem rauben.
Nach den ersten Versen steht hier das Wort Sela. Vielleicht ein Musikzeichen: Pause, Generalpause. Oder Fermate. Martin Buber gibt in seiner Übersetzung der Psalmen der Pause immer einen Inhalt: „Empor“ sagt er. Der Sänger oder Beter hält inne – und schaut auf, schaut empor. Er sucht eine andere Perspektive und gibt auch uns heute, den Mitbetern, die Möglichkeit, eine Pause zum Nachdenken einzulegen.
David ist aufgewühlt – obwohl er zuerst von der Stille, von Zuflucht und Hilfe geredet hat. Ihm macht das Leben zu schaffen.
Wie ähnlich es uns doch manchmal geht. Menschen glauben an Gott. Sie haben wirklich bei Gott ihre Zuflucht, ihren Ruheort gefunden. Er gibt ihnen Halt im Leben. In brenzligen Lagen hat sich dieser Halt wirklich bewährt.
Und doch: der Blick zurück, der Blick auf Schwierigkeiten, die mich gerade eben umgeben, beunruhigen die Seele. Altes, längst Vergessenes kommt wieder hoch, ganz unvermittelt überfällt es mich. Und im Gemisch mit dem gegenwärtigen Erleben wühlt es mich auf.
Sela – Pause. Schau wieder empor und finde neu den Ort, an dem du doch sicher bist. So sagt es David seiner Seele. Der Rahmen, dieser Refrain „Meine Seele ist stille zu Gott“ ändert sich ein bisschen. Jetzt, im zweiten Anlauf, wird aus der Beschreibung eine Aufforderung: „Sei still meine Seele.“ Und aus der Gewissheit des ersten Refrains: „Gott ist es, der mir hilft“, wird das Bekenntnis: „Er, Gott ist meine Hoffnung.“
In der zweiten Strophe lässt sich David nicht mehr auf den Blick nach unten oder zurück ein. Er bleibt mit seinen Gedanken, seinem Blick, seinem Gebet ganz bei Gott. Heil und Ehre, Fels, Stärke, Zuversicht – all das ist bei Gott zu finden. Diese Hoffnung, die David neu bestärkt, die ihn wieder in die sichere Burg zurückführt, behält er nicht für sich.
Er denkt nicht mehr an das Übel, an das Böse, das ihn umgeben hat. Er denkt nun an diejenigen, denen es ähnlich ergeht wie ihm, und die noch auf der Suche nach einem Ruheort für ihre Seelen sind.
Das beeindruckt mich an David. Er hat die Erfahrung gemacht, dass Gott ihm hilft. Auch in großer Not findet er neu die Hoffnung, die sichere Gewissheit, dass Gott ihn nicht alleine lässt.
Er zieht sich aber nicht zurück in seine sichere Burg, sondern er teilt diese Erfahrung mit anderen. Wer sonst könnte andere ermutigen, wenn nicht einer, der selbst durch große Nöte hindurchgegangen ist? Wer sonst – noch ein bisschen weiter gedacht – könnte andere trösten, wenn nicht einer, der selbst schon Traurigkeit erlebt hat? Wer sonst könnte mit Kranken beten, wenn nicht einer, der selbst die heilende, ermutigende Kraft des Gebetes gespürt hat?
Die zweite Strophe des Psalms wird zu einem Lehrstück in Gemeindefürsorge, in Diakonie. Wer die Hilfe Gottes erfahren und durch sie wieder neuen Mut bekommen hat, der teile diese Erfahrung und lade andere dazu ein, sich Gott anzuvertrauen.
Noch einmal hält der Beter inne. Sela – Pause. Ihm ist noch etwas eingefallen. Es sind nicht die Menschen, die helfen. Es sind nicht Reichtum und menschliche Größe, die Unglück wenden und Sicherheit schaffen.
Ob er das auch zu sich selbst – oder gar über sich selbst – sagt? Wir fangen ja leicht an, andere, die große Glaubenserfahrungen gemacht haben und sie dann gerne weitergeben, zu bewundern und zu beneiden. Und wir denken: So müsste es mir auch gehen.
Es ist aber nicht das Erleben anderer, das uns trösten kann. Es ist nicht der Reichtum an Glaubensschätzen und Erfahrungen anderer, die uns eine sichere Zuflucht geben. „Gott allein ist mächtig, und du, Herr, bist gnädig.“ Diese Erkenntnis in Gestalt eines weisheitlichen Merkspruches stellt David an das Ende seines Gebetes.
Und – das ist auch sprachlich eine lehrreiche, wunderbare Wendung, die Davids Anliegen noch unterstreicht: er redet nun Gott selbst an, sagt „Du“. Aus seiner liedhaften Unterweisung, in der er Menschen dazu bewegen möchte, sich selbst ganz Gott anzuvertrauen und bei ihm ganz gewiss Hilfe und Geborgenheit zu finden, wird sein persönliches Gespräch mit Gott.
Aus dem Aufruf „Meine Seele, sei stille zu Gott, wende dich an den, der ganz gewiss hilft“ wird das Gebet „Du, Herr, bist gnädig.“
Ob die Pausen im Psalm ihn dazu geführt haben, tatsächlich auch wieder bei seinem Zufluchtsort anzukommen, von dem sein Lied ausgegangen ist? Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. Und dort, in dieser Stille, fange ich an, mit Gott zu reden: „Du bist mir gnädig.“
PS: Zu hören sind diese Gedanken auf ERF-Radio.