Predigt
zu Jesaja 62,6–12
Reformationstag 2013
Die Kirche – wieder einmal muss sie erneuert werden, wie so oft in ihrer langen Geschichte.
Die Schlagzeilen füllt der Limburger Bischof so langsam nicht mehr. Die bevorstehende Regierungsbildung in Berlin wird interessanter. Aber für ein paar Tage drehte sich alles um die Kirche, in der so viel verkehrt läuft. Sie ist zu reich, und sie kassiert doch auch nur überall ab.
Klar, dass die Verflechtungen zwischen Staat und Kirche auch wieder heiß diskutiert werden. Da, wo gespart werden muss – und das muss es ja überall – da schaut man, wer denn so alles Geld bekommt und wem man es kürzen könnte. Kirche ist ein beliebter Kandidat dafür.
Reformation – längst ist das, was mit Martin Luther vor 500 Jahren seinen Anfang nahm, selbst schon wieder in einem Stadium angekommen, das eine Reformation dringend erforderlich scheinen lässt. Die von außen sagen das. Und die innen drin spüren es auch, selbst wenn sie sich vor Veränderungen fürchten – die doch Gutes bewirken sollen.
Neu ist das alles nicht. Schon von den ersten Schöpfungstagen an – oder kurz danach jedenfalls geht es los mit der Reformationsbedürftigkeit. Denn die Beziehung zu Gott war schnell deformiert, kaum dass sie so verheißungsvoll und paradiesisch begonnen hatte. Adam und Eva machten, was sie wollten – und mussten in den sauren Apfel beißen, nachdem sie den süßen schon genossen hatten.
Kaum breiten sich die Menschen aus, ist die Deformation so groß geworden, dass Gott sich nur mit einer Sintflut zu helfen weiß. Er muss ständig neu anfangen. So krass und zerstörerisch wie zu Noahs Zeit will er nie wieder handeln, das hat er geschworen und dafür das schönste Zeichen ausgedacht, das man am Himmel sehen kann: den Regenbogen. Aber im Kleinen und Größeren ist er immerzu gefordert, das, was aus der Form geraten ist, wieder in Form zu bringen.
Die Geschichte des Volkes Israel ist eine durchgehende Reformationsgeschichte, exemplarisch für die Geschichte der Menschheit.
Und – das können Christen aller Konfessionen nur beschämt bekennen: Die Geschichte der Christenheit, angefangen bei Petrus und Paulus und Co, steht dem in nichts nach. Kaum ist etwas in Ordnung gebracht, da zerfällt es schon wieder.
„Ecclesia reformata et semper reformanda“, eine reformierte und immer neu zu reformierende Kirche ist das weltlich sichtbare Gebilde, das die Gemeinschaft der Gläubigen abbildet. Aber allzu oft übernehmen sich die Gläubigen dabei, wenn sie selbst ihre Kirche verwandeln, reformieren, ja retten und zu etwas besserem machen wollen.
Auch nicht neu. So ruft Jesaja seinen Landsleuten ein Reformationswort zu, das uns heute genauso gilt (Jesaja 62):
6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
8 Der Herr hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen,
9 sondern die es einsammeln, sollen’s auch essen und den Herrn rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
11 Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des Herrn«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Das ist ein erstaunlicher Aufruf. Wächter auf der Stadtmauer, die sind doch in erster Linie dazu da, selbst zu handeln. Die halten die Wacht, und wenn Feinde kommen, dann wecken sie die Bevölkerung, damit die zu den Waffen greift, Pech und Schwefel, faule Eier und anderes übel riechende Zeug von den Mauern herab wirft.
Ganz anders im Burgbild Jesajas. Die Wächter wecken den Burgherrn. Sie wecken den König. Sie wecken Gott. Die Wächter Jerusalems sollen solange Rabatz machen, bis Gott selbst, der König und Herr der Stadt und des Volkes, eingreift. Nicht das Volk sollen sie aufwecken, Gott sollen sie in Atem halten mit ihrem Schreien.
Wie ganz anders verlaufen oft unsere Reformen und Reförmchen. Schon seit Jahren etwa meinen wir, dass wir es in der Kirche der Wirtschaft gleich tun müssten, wenn es mit unserem Laden nicht bergab gehen soll. Und nun überrennen uns die Gesetze und Verordnungen, so dass wir im Papierkram regelrecht ertrinken. Wir haben uns so davon vereinnahmen lassen, dass wir geradezu verschreckt sind in all unserem Denken und Handeln.
Allein schon die Gemeindekirchenratswahlen, die soeben hinter uns liegen, waren so kompliziert wie nie zuvor. Wie viel Angst wohl bis in die oberste Kirchenleitung hinein herrschen muss, man könnte etwas falsch machen — und dann gibt’s Ärger.
Im Sommer sagte mir jemand nach der üblichen Sicherheitsbegehung in unseren Kirchen und Gemeindehäusern: „Wenn das so weitergeht mit den Verordnungen, mag ich nichts mehr machen. Wir könnten unsere Kirchen doch auch gleich schließen bei all den Vorgaben.“
Die Freiheit, von der Paulus zum Beispiel im Galaterbrief (z.B. Galater 5) schreibt, ist uns abhanden gekommen.
Etwa auf gastfreundliche Art Menschen in unsere Häuser einzuladen, muss man sich – rechtlich gesehen – gut überlegen. Es könnte ja einer schon an der alten, denkmalgeschützten Sandsteintreppe zu Schaden kommen. Und dann?
Wir bewegen uns oft nur noch ängstlich zwischen all den neuen Vorschriften vorwärts – und oft auch rückwärts.
Der erste Schritt zu einer Reform, zu einer Befreiung nach Art Jesajas ist der Schritt nach innen, er muss zum Burgherrn gehen. Unser Schreien zu Gott muss wieder lauter werden, wenigstens so laut, dass wir selbst es neu hören.
Das fällt uns schwer, wir haben es verlernt, Gott in den Ohren zu liegen für seine Kirche und seine Welt. Vielleicht denken wir ja, dass er genauso kompliziert ist wie unsere kirchlichen und staatlichen Ämter uns vorkommen. Jesaja aber macht uns Mut, nein, er rüttelt uns wach mit seinen Worten: „Stürzt euch ins Gebet, werdet aktive Wächter, die Gott keine Ruhe lassen, bis er sich wieder sichtbar und wirksam in seiner Welt zeigt.“
Das braucht gewiss Ausdauer und Mut – nicht Gott gegenüber, der will es ja so. Es braucht Ausdauer und Mut, weil es unpopulär ist, sich laut und öffentlich an Gott zu wenden und von ihm etwas zu erwarten, das auch noch innerhalb dieser Weltordnung Veränderung schafft. Ob wir den Mut dazu aufbringen?
Die Verheißung, die bei Jesaja im Zusammenhang mit seinem Aufruf aufleuchtet, liest sich hingegen wie eine einzige Liebeserklärung Gottes an seine Menschen. Schon in den Versen vorher geht die Sonne auf und überstrahlt alles:
4 Man soll dich nicht mehr nennen »Verlassene« und dein Land nicht mehr »Einsame«, sondern du sollst heißen »Meine Lust« und dein Land »Liebe Frau«; denn der Herr hat Lust an dir, und dein Land hat einen lieben Mann.
5 Denn wie ein junger Mann eine Jungfrau freit, so wird dich dein Erbauer freien, und wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen.
Und im letzten Vers des Abschnitts, den wir gehört haben:
12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des Herrn«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Vielleicht liegt darin der Schlüssel zu einer Neuentdeckung, die uns und unsere Kirche wirklich verändert und erneuert. Was würde geschehen, wenn wir jeden Tag mit der kleinen Erkenntnis beginnen: „Gott freut sich auf dich!“?
Damit unsere Kirche in Bewegung bleibt, lebendig bleibt, sich ständig neu in die richtige Form bringt, braucht es doch Menschen, die das für sich entdeckt haben: Gott freut sich auf dich! Denn das macht uns frei und bereit, fröhlich an unser Werk zu gehen.
Ich stelle mir vor, wie eine Familie an einem wunderschönen Herbsttag draußen unterwegs ist. Die bunten Blätter bedecken den Weg, die Sonne lacht, der Himmel ist blau. Die Kinder sind fröhlich und tollen über den Weg – ist ja auch ein Feldweg, kein Verkehr. So richtig geeignet, um seiner guten Laune freien Lauf zu lassen. Da und dort liegen kleine Steine, naja, man sieht sie schon, klar. Wer hätte da nicht Lust, gut gelaunt ein paar von den Steinen wegzukicken – vielleicht ein paar Mal vor sich her, bis sie irgendwann doch auf dem Acker landen oder im Graben? Einfach vor lauter Freude etwas wegkicken, das im Weg liegt.
So stelle ich mir einen Menschen vor, dessen erster Gedanke beim Aufwachen ist: „Gott freut sich auf dich, denn du bis ihm der wichtigste Mensch auf Erden.“ Völlig egal, dass das für alle Menschen gleich gilt. Hauptsache, es gilt mir! „Gott freut sich auf dich!“
Und dann höre ich diesen Auftrag, der da auch noch in den Worten Jesajas steckt: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore. Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hingweg.“ Das gilt Menschen, die vor Augen haben, was noch kommen wird. Dieser Auftrag der Reformation gilt Menschen, die nicht nur eine Not sehen und darunter leiden. Er gilt Menschen, die das Ziel sehen und die sich unterwegs getragen und geliebt wissen.
Die Steine, die im Weg rumliegen, sollen wir wegräumen, so lautet der Auftrag.
Das kann auf zweierlei Weise geschehen. Wir können diese riesigen Brocken vor uns sehen und schon bei ihrem Anblick verzagen. „Was, das sollen wir auch noch schaffen? Es wird uns zu viel.“
Manch einem fällt da die Last ein, die unsere vielen Gebäude uns auferlegen. Nicht mal 100 Menschen sind hier in unserer Region für eine Kirche zuständig. Da, wo Volkskirche noch zahlenmäßig zurecht diesen Namen trägt, sind es Tausend bis Zehntausend, die als Gemeindeglied für eine Kirche verantwortlich sind.
Uns drückt die Last, dass vieles in den einzelnen Orten gar nicht mehr angeboten werden kann, weil die Mitarbeitenden – Haupt- und Ehrenamtliche – fehlen. Verzagen kann man bei dem Anblick dieser Brocken.
Aber wir könnten auch anders an die Steine rangehen.
Ich muss an die Geschichte von Asterix und Obelix denken, die in Ägypten dabei sind, für Kleopatra einen Palast zu bauen, mit dem sie Cäsar beeindrucken kann. Gerade vor ein paar Tagen lief die Verfilmung mit Gerard Depardieu wieder im Fernsehen. Lustig. Da mühen sich die ägyptischen Bauarbeiter mit den riesigen Steinen ab, die sie zu Mauern, Säulen, Rampen, Bögen und mehr auftürmen sollen. Die Feststellung der drei Gallier – Miraculix, der Druide ist ja auch noch dabei: „So geht das nicht.“ Und wie gewohnt kocht Miraculix dann seine Kraftbrühe, den berühmten Zaubertrank, in den Obelix schon als Kind hineingefallen ist.
Und auf einmal wird das Steinetragen zu einem Ballett, zu Tanz und Spiel. Es geht lustig und fröhlich zu auf der Baustelle. Die Steine sind immer noch große und schwer, aber die Arbeiter haben etwas, das sie stärkt und ganz anders motiviert.
Nun braut Gott uns keinen Zaubertrank. Aber diese Fröhlichkeit und Leichtigkeit möchte er uns ins Herz legen, so dass wir – wie ein spielendes Kind in der schönen Herbstsonne – die Steine einfach wegkicken, die uns im Weg liegen.
Ist das zu weit von der Reformation entfernt, die dem heutigen Feiertag den Namen gibt und an die wir uns erinnern? Ich glaube nicht. Denn es war doch gerade die fröhliche, befreiende Entdeckung Martin Luthers, die die Veränderungen in der Kirche seiner Zeit ermöglichte.
Es war seine Entdeckung des „Gott freut sich auf dich“, die ihn frei machte und dazu bewegte, die Freiheit für alle zu verkündigen, ja zu fordern – die Freiheit des Evangeliums nämlich: „Jesus Christus hat dich frei gemacht von deiner Schuld. Du kannst leben, weil Gott dir dieses Leben schenkt.“
Da lag auch eine Menge großer Steine im Weg herum. Und gar die Übermacht von Papst und Kaiser, von überkommenen, jahrhundertealten Regeln und Konventionen – Luther hätte verzagen müssen angesichts dessen, was ihm gegenüber und bevorstand. Hat er aber nicht. Weil er die Freiheit schon geschmeckt hatte, die Gott anbietet. Sie wirkte — verzeiht den Vergleich – wie ein Zaubertrank, der ihm Schweres leicht werden ließ.
Luther wurde – und wir werden dadurch nicht zu Übermenschen. Schweres bleibt schwer, Großes bleibt groß. Aber wir können mit einer anderen Haltung und als veränderte Menschen, als re-formierte, wieder in Form gebrachte Menschen an unser Werk gehen.
Und so können wir anpacken, was vor unseren Füßen liegt, weil wir wissen: Es ist doch Gott selbst, der aus dem Weg räumt, was sein Werk hindert. Es ist doch Gott selbst, der für uns streitet. Es ist doch Gott selbst, der seine Kirche baut, der sein Reich baut. „Dein Reich komme“ – so beten wir es im Vaterunser.
Wir müssen es nicht selbst aufrichten, das Reich Gottes. Wir sind zur Mitarbeit eingeladen als fröhliche, neu motivierte Menschen, die in Top-Form sind, weil Gott uns neu macht.
Für mich jedenfalls wird die Zusage Gottes an seine Menschen damals zur Motivation, zum Zaubertrank: „Gott freut sich auf dich.“ Da möchte ich ihm entgegenlaufen und die Steine wegkicken, die im Weg liegen. Reformation – die fängt in unseren Herzen an, damit, dass wir die Freude Gottes an uns neu entdecken und sie zur Triebkraft unseres Lebens werden lassen. Das kann dann gar nicht ohne Veränderung bleiben. Das hat eine Reformation unseres eigenen Lebens und damit auch unseres kirchlichen Lebens zur Folge.
Lassen wir uns anstecken von diesem reformierenden Kernsatz der biblischen Botschaft: „Gott freut sich auf dich.“
Amen.