Rückzug. Jesus zieht sich zurück aus dem Brennpunkt. Und das mit dem Brennpunkt ist fast schon wörtlich zu verstehen.
Denn er stand zum einen für einen Moment ganz im Fokus, im Brennpunkt des Geschehens. Am Jordan nämlich ist Jesus seinem Cousin Johannes begegnet. Aber es war kein Familientreffen.
Johannes war ein berühmter Prediger geworden. Und ein ziemlich exotischer noch dazu. Er lebte von Heuschrecken und wildem Honig. Er lief umher wie ein Hippie – würde man heute vielleicht sagen: in einen Mantel aus Kamelhaar gekleidet, und vermutlich mit langen, wohl auch struwweligen Haaren.
Aber gerade er zog die Leute magisch an. So einen Propheten hatte das Land lange nicht gesehen und gehört. Die Predigten von Johannes schlagen ein. Er nimmt ja auch kein Blatt vor den Mund. Wer ihm zuhört, muss sich schon mal als „Schlangenbrut und Otterngezücht“ bezeichnen lassen.
Johannes predigt, und er tauft Menschen im Jordan. Seine Taufe ist ein Zeichen der Buße und der Reinigung. Menschen wollen ein neues, anderes, besseres Leben anfangen. Zum Zeichen dafür lassen sie sich ihr altes Leben abwaschen, ja regelrecht ertränken und beginnen dann neu.
Zu dem kommt Jesus. Und ihr kennt ja die Szene: Jesus will sich taufen lassen, aber Johannes weiß, wer ihm da gegenüber steht. Der braucht keine Taufe zur Vergebung der Sünden, so viel ist klar. Der ist Gottes Sohn – sagt die Stimme aus dem Himmel, als Jesus getauft ist.
Mitten im Brennpunkt, im Fokus dieses schon außergewöhnlichen Geschehens am Jordan ist Jesus.
Aber es gibt auch noch einen zweiten Brennpunkt, und der ist heiß. Man kann sich daran verbrennen. Jesus nämlich geht nach seiner Taufe vierzig Tage in die Wüste. Und am Ende dieser Zeit versucht der Teufel, ihn mit allen möglichen Tricks zu überlisten.
Er versucht ihn. Er testet Jesus, ob der vielleicht doch seine Mission aufgibt und lieber Brot hervorzaubert oder beeindruckende Wunder vollbringt – und am Ende gar den Teufel anbetet.
Jesus besteht die Prüfung, er hält die Hitze im Brennpunkt aus.
Und dann das: Johannes wird gefangen genommen. Das war sicher ein harter Schlag für Jesus. Und auch nicht ganz ungefährlich.
Wenn einer wie Johannes, der doch auch eine politische Gefahr darstellt, inhaftiert wird, dann sind seine Freunde und Jünger, auch seine Familie ebenfalls in Gefahr.
Jesus zieht sich zurück, weg vom Jordan aus der Mitte des Landes, weg von der Nähe zu Jerusalem. Er geht nach Galiläa zurück, in den Norden des Landes. Galiläa ist ein anderer Verwaltungsbezirk.
Ob er an seiner Sendung zweifelt? Wenn schon Johannes gefangen genommen wird – was wird man mit ihm machen, der doch noch ganz anders predigen will? Und ist er nicht auch Schuld daran, dass Johannes nun verschwindet?
Immerhin: Der Bote, der in der Wüste das Kommen des Messias, des Retters ankündigt, hat seine Aufgabe erfüllt. Der Messias ist jetzt da.
Eine Krise. Jesus zieht sich zurück. Das ist in Krisen doch oft so. Und es ist auch nicht verkehrt. Sich für eine Weile aus dem Brennpunkt des Geschehens zurückzuziehen hilft, sich neu klar zu werden: Was will ich überhaupt? Wozu bin ich da? Läuft alles richtig oder sollte ich etwas anders machen?
Krisen haben manchmal eine reinigende Wirkung. Nur dass wir sie selten aus diesem Blickwinkel sehen. Wenn unsere Kräfte ermatten, wenn wir plötzlich kaltgestellt sind, dann sehen wir eher auf das, was alles verloren gegangen ist.
Dass sich uns vielleicht auch neue, ganz andere und vielleicht sehr ungewöhnliche Wege öffnen, merken wir nicht.
Vor einiger Zeit habe ich ein Buch von einem jungen Schweden gelesen. Jonas Helgesson heißt er. Bei seiner Geburt war er 40 Minuten ohne Sauerstoffversorgung. Als Folge davon ist er seitdem Spastiker.
Ärzte haben ihm gesagt, dass er nie normal leben wird. Im Rollstuhl ist er unterwegs und erfährt oft genug die Behinderungen, die im der Alltag in den Weg legt.
Eines Tages reicht es ihm und er wirft seinen Rollstuhl weg. Von da an ist nicht alles gut. Die blauen Flecken sind nicht zu zählen, die er sich zuzieht, weil er ständig wieder hinfällt.
Aber er hat seinen Wahlspruch entdeckt: „Das Unmögliche erreichen kann man erst, wenn man das Absurde versucht hat.“
Heute fährt er Auto, ist Vortragsredner und Comedian. Immer noch mit seiner Krankheit, aber ganz anders als vorher.
Eine Krise, die ihn stark gemacht hat mit einer Begabung, andere zu ermutigen.
Was macht Jesus in seiner Krise, seinem Rückzug eigentlich?
Von uns wäre bestimmt keiner darauf gekommen, aber Matthäus, der Evangelist, hat’s bemerkt. Jesus erfüllt eine der schönsten Verheißungen des Alten Testamentes.
Eine Verheißung, die am Heiligen Abend zu den Predigt- oder Lesetexten gehört: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein helles Licht.“
Es ist noch ganz passiv, was da geschieht. Weil Jesus die Krise annimmt und zuerst einmal stillhält, sich zurückzieht, kann Gott eine Verheißung wahr machen.
Nicht in Jerusalem, nicht im Zentrum der weltlichen und religiösen Macht – im heidnischen Galiläa fängt das Licht der Welt an, auch öffentlich zu scheinen.
Galiläa – das ist der Landstrich, der im Norden Israels liegt. Zusammen mit Samaria bildete es das Nordreich Israel, in dem sich das Volk Israel schon früh mit den Heiden verbunden hatte.
Das Mischvolk der Samaritaner war so entstanden. Dort wurden auch mal andere Götter angebetet. Zumindest nahmen es die frommen Juden aus dem südlichen Landesteil, aus Judäa, so wahr.
Und auch der Prophet Jesaja nennt dieses Land ganz unverblümt Heidnisch: „Galil ha-gojim“, der Landkreis der Heiden. Von Galil ha-gojim ist dann nur noch Galil/Galiläa übrig geblieben.
Hier also wohnt Jesus fortan, in der Stadt Kapernaum am See Genezareth.
Nach der langen Pause zum Weihnachtsgeschehen – dreißig Jahre sind vergangen – setzt sich die Geschichte fort: Christ, der Retter, ist da.
Mit einer Krise, ja einer Katastrophe fängt es an und wird zum Heil für die Menschen.
Und wie nötig Menschen dieses Heil haben, drückt die Verheißung aus dem Propheten Jesaja, die Matthäus noch einmal ausdrücklich zitiert, sehr deutlich aus:
Im Finstern sitzt das Volk, am Ort und im Schatten des Todes sitzen die Menschen.
Man könnte meinen, diese Prophetenworte beschreiben manche unserer Wirklichkeiten. Gerade in diesen Tagen erschrecken wir über die Anschlage, die auf die koptischen Christen verübt wurden.
Nicht einmal in der eher sicheren Welt des Abendlandes ist wirklich Sicherheit. Unter schwerer Bewachung mussten die koptischen Gemeinden ihr Weihnachtsfest feiern.
Im Finstern – da sitzen manche Obdachlose in unserem sonst reichen Land. Im Todesschatten wohnen unzählige Menschen in Afrika und Asien, vor allem etwa in Indien.
Hunger und die immensen Folgen von Umweltkatastrophen plagen die Menschen mit unermesslichem Leid.
Und das ist nur das sichtbare, das uns durch die Nachrichten in die Häuser kommt, vor die Augen kommt.
Wie viel Leid und Dunkelheit in mancher Menschenseele vorhanden ist, ahnen wir kaum.
Schnell geraten die aus dem Blick, denen man nicht mehr auf der Straße begegnet. „Aus den Augen aus dem Sinn“ sagt ein Sprichwort – und seine dramatische Wahrheit wird uns immer dann bewusst, wenn es wieder einmal heißt: Mann lagt schon zwei Wochen tot in seiner Wohnung.
Das Volk, das am Ort und im Schatten des Todes sitzt. Jesaja, wie recht du hast.
Aber es gibt Hoffnung. Als ich das Wort vom Todesschatten gelesen und bei Jesaja auch noch mal genauer nachgesehen habe, kam mir die Erinnerung an einen Psalmvers, der in genau dieser Lage Mut macht.
Es ist Psalm 23: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal …“ So übersetzt Martin Luther. Aber genauer steht dort: „Und ob ich durch das Tal der Todesschatten gehe …“
Sie wissen, wie es weitergeht: „… fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“
Gerade denen, die in solch einem Tal, unter solch einem Schatten, in solch einer Krise leben, verspricht Gott, dass er nahe ist.
Und im Galiläa der Heiden, wo sich vielleicht sogar die Frommen scheuen hinzugehen, wird es wortwörtlich wahr: „Du bist bei mir.“
Jesus wohnt dort. Das Licht der Welt scheint am dunklen Ort.
Aber nicht nur diese Verheißung erfüllt sich in der Person von Jesus.
Indem Matthäus diese Zukunftshoffnung an den Anfang von Jesu öffentlichem Wirken stellt, gibt er dem ganzen auch eine bestimmte Richtung, eine Verstehenshilfe.
Jesus greift wörtlich die Predigt von Johannes, dem Täufer auf. „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“
Und diese Predigt – oder besser die Zusammenfassung der Worte und Predigten, auch der Taten Jesu – ist eine überwältigende Befreiung, eine Freudenbotschaft.
Man merkt es nicht, wenn wir diesen Satz aus seinem Zusammenhang lösen.
Ohne die vorausgehenden Worte klingt es fast wie eine Drohung.
Und so ist die Botschaft oft auch gebraucht worden. Menschen wurden im Namen des Christentums unterdrückt. Bußleistungen wurden ihnen auferlegt, die sie nur ärmer und unglücklicher machten.
Man braucht nur an das Streitthema der Reformation zu denken: die Angst vor dem Fegefeuer war so groß, dass die Menschen Unsummen für Ablassbriefe ausgegeben haben.
Martin Luther selbst wurde von der Frage gequält, wie der einen gnädigen Gott bekommen kann, sprich: was er alles tun muss, damit Gott gnädig ist.
Aber dann hat er entdeckt, dass Gott selbst die Umkehr einleitet, die Wende einleitet. Gott ändert das Geschick derer, die im Finstern wandeln und am Ort der Todesschatten sitzen.
„Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, das ist eine gute Nachricht. „Christus ist geboren.“ Und er wohnt bei denen, denen er Rettung bringen will.
Tut Buße bedeutet dann auch nicht: Bringt Leistung, damit Gott sich euch zuwendet. Das verbinden wir ja leider allzu oft mit dem Wort Buße.
Du musst in Sack und Asche gehen, deine Punkte in Flensburg abarbeiten, die Geldbuße bezahlen. Was für eine Verkehrung der Absicht Gottes hinter diesem Wort.
Tut Buße heißt: Dreht euch um und schaut dem Licht entgegen. Oder, wie es der Wochenspruch vom 2. Advent sagt: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lukas 21,28)
So werden die Botschaft von Jesus und die aufmerksame Beobachtung von Matthäus auch zu einer Hilfe in den Krisen unseres eigenen Lebens.
In den Krisen nämlich fangen die Verheißungen Gottes an zu wirken. Wir müssen nicht verzweifeln, denn Gott kommt zu uns in unser ganz persönliches finsteres Tal.
Wir denken manchmal: gerade jetzt ist Gott so weit weg und ich weiß auch gar nicht, wie ich ihn mir gewogen machen soll.
Ich verstehe ihn nicht und weiß auch nicht, was ich ihm noch alles sagen soll, damit er mir entgegenkommt und hilft.
Und Gott? Er ist schon längst da, wohnt mitten unter uns Menschen, hat Teil an unserem Erleben und Leiden.
Er versteckt sich nicht hinter Kirchenmauern und einer besonderen Frömmigkeit. Er sucht nicht die Orte auf, an denen alles gut und richtig ist.
Wie sagt Jesus mal zu einigen Kritikern, als die ihn angiften, weil er mit schlimmen Sündern zusammen an einem Tisch sitzt und feiert? „Die Gesunden brauchen keinen Arzt. Ich bin gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“
Und ich glaube, er meint damit auch Menschen, die sich selbst verloren haben, die sich selbst verloren geben, aufgeben.
Jesus kommt in unser Galiläa. Und wir können ihn entdecken, wenn wir Buße tun, nämlich ihm entgegensehen.
Genau das ist die Botschaft, die von Weihnachten noch in unseren Herzen schwingt: Gott wird Mensch.
Und sie setzt sich fort: Gottes Reich, das Himmelreich ist nahe. Es ist sogar mitten unter euch. Nehmt es auf, nehmt es an, verlasst euch darauf.
Vielleicht können wir uns ja im Lauf des Jahres, wenn uns andere Geschichten von Jesus begegnen, an den Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit erinnern.
Egal, was Jesus sagt oder tut: Es geschieht, weil er damit Gottes Reich bringen will, weil er sein Licht in die Finsternisse dieser Welt bringen will.
Zu uns.