Im Gottesdienst ging die Lesung des Evangeliums voraus – Matthäus 20,1–16. Und gesungen wurden Strophen aus dem Morgenlied von Paul Gerhardt „Die güldne Sonne“ (EG 449, u.a. Strophe 6)
Ist Gott gerecht? Wer kann bei ihm ankommen und wer nicht? „Manchmal würde ich ihm gerne meine Meinung sagen“, – so denken wir gelegentlich vielleicht.
Es fängt ja schon bei dem Blick auf den Nachbarn an, dem so manches vielleicht besser gelingt als mir. Paul Gerhardt hat das trefflich in seinem Morgenlied formuliert: „Lass mich Freuden ohn alles Neiden sehen den Segen, den du wirst legen in meines Bruders und Nähesten Haus.“ Das ist nicht so leicht, wenn die Unterschiede gar zu groß werden beim Segen, der bei andern mehr zu finden ist als bei mir.
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20) malt es drastisch aus. Die zuletzt noch dazugekommen sind und gerade mal eine Stunde mitgearbeitet haben, erhalten den gleichen Lohn wie diejenigen, die schon den ganzen Tag geschuftet haben. Ist das gerecht? Schafft das nicht Unfrieden im Himmelreich?
Die Frage ist nicht neu. Im Alten Testament ist ein ganzes Buch mit 42 langen Kapiteln diesem Thema gewidmet: Wie gerecht ist Gott? Und wer kann mit ihm in einen Rechtsstreit eintreten? Hiob heißt das Buch, genannt nach seinem tragischen Helden. Die Frage ist bis heute auch nicht verstummt, immer wieder neu taucht sie auf, bei jedem Unheil, das geschieht und das wir nicht erklären können.
So wundert es nicht, dass auch Paulus dazu etwas geschrieben hat. Wahrlich keine leichte Kost. Und heute wird sie uns vorgesetzt. Im Römerbrief stehen seine Gedanken. Und sie entzünden sich an der Erwählung Israels als Volk Gottes. Ist diese Erwählung hinfällig, nachdem nun Jesus doch das Heil, der Heiland der Welt ist? Wie kann Gott mal dieses kleine Volk erwählen und herausheben, ja bevorzugen – um es dann wieder in seinem Zorn zu strafen, links liegen zu lassen, ja vielleicht sogar zu verwerfen? Und wieso haben die Heiden plötzlich mehr Rechte? Mittendrin in den Fragen und Antworten stehen die folgenden Gedanken aus Römer 9,14–24:
14 Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! 15 Denn er spricht zu Mose: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.« 16 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. 17 Denn die Schrift sagt zum Pharao: »Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündigt werde.« 18 So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will. 19 Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? 20 Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? 21 Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen? 22 Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, 23 damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit. 24 Dazu hat er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.
Wie gesagt: Keine leichte Kost. Und wer sie durchkaut, wir dabei auf Bitteres und Süßes stoßen. Das erste, was beim weiteren Blick auf dieses Thema im Römerbrief auffällt: Es ist weniger eine theoretische Abhandlung als eine große persönliche Betroffenheit, die Paulus zu dieser Frage nach der Gerechtigkeit Gottes führt. Er schreibt von „großer Traurigkeit und großen Schmerzen“, wenn er über Israels gegenwärtige Situation aus Sicht eines Christen nachdenkt (Römer 9,1ff.). Es ist eine Sache, theoretisch darüber nachzudenken, wie gerecht denn Gott nun ist. Eine andere ist es, an dieser Frage selbst zu leiden und sie im persönlichen Gespräch mit Gott anzupacken.
Die Psalmen vor allem sind darin ein großes Vorbild. Dort diskutieren Menschen nicht über Gott und bilden sich vielleicht ein Urteil über ihn. Nein, sie reden mit ihm und sagen ihm, was sie denken. Bei Hiob vollzieht sich im Buch der Wandel: aus den gelehrten und hitzigen Debatten mit seinen Freunden über sein Leid und über Gottes Gerechtigkeit wird das persönliche Gespräch mit Gott. Paulus muss für sich selbst diese Frage klären – und seine Antwort ist ein Angebot an andere, an uns, dass wir als Glaubende, als Menschen, die sich von Gott abhängig gemacht haben, um eine eigene Antwort ringen. Im Kern steht die Frage, wer Gott für uns ist.
Für Paulus ist die Antwort klar: „Gott ist Gott.“ Das mag banal klingen, aber es ist die Grundlage, auf der Paulus steht. Und es ist die Grundlage unseres Glaubens. Paulus erklärt es mit dem Bild eines Töpfers: Der Töpfer allein legt fest, wozu er ein Gefäß herstellt. Er macht Blumenvasen, er gestaltet und verziert Obstteller. Er töpfert Gegenstände, die vielleicht zu gar nichts zu gebrauchen sondern einfach nur schön sind. Und genauso stellt er einen Topf für die Tischabfälle her oder einen Nachttopf, auch das muss sein. Er hat die Freiheit, es ist seine Entscheidung, denn er ist der Töpfer. Gott ist Gott.
Das fällt uns Menschen schwer zu akzeptieren. Was wir noch gerade noch anerkennen mögen, ist einer über uns, dem wir verantwortlich sind für unser Tun. Wir sagen das besonders gern denen, die in dieser Welt große Entscheidungen treffen: „Über euch steht Gott, ihm werdet ihr eines Tages Rechenschaft ablegen müssen – ihr Politiker, ihr Bänker, ihr Vorstandsvorsitzenden.“
Aber was ist das für ein Gott, den wir auf diese Weise vielleicht für unsere Pläne einspannen wollen, den wir zu dem Rächer all der Ungerechtigkeit machen wollen, die uns begegnet? Wir machen ihn zu unserem Handlanger – aber das ist dann kein Gott mehr, es ist nur noch ein Übermensch.
Gott ist Gott. Er ist nicht unser Rächer und der bedrohliche schwarze Mann, mit dem wir diejenigen erschrecken wollen, die uns Böses zufügen. Gott ist Gott. Er steht nicht zu unserer Verfügung, er unterliegt nicht unseren Vorstellungen von dem, was nötig und richtig und gerecht ist. Gott ist Gott – und das ist er doch zuallererst für uns, die wir das glauben und bekennen.
Will uns Paulus nun damit Angst vor Gott einjagen? Fast klingt es so. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der wichtigste Gedanke in diesem Abschnitt des Römerbriefs ist das Erbarmen, die Zuwendung und Erwählung Gottes. Das ist das Programm des ganzen Briefes, schon im ersten Kapitel angezeigt (Römer 1):
16 Das Evangelium „ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17 Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«
Gottes Ziel ist es, dass wir leben – aus seiner Gerechtigkeit heraus leben. Das Evangelium, die gute Nachricht, die Paulus verkündet, heißt: „Gott erbarmt sich über uns. Er kleidet uns mit der Gerechtigkeit ein, die vor ihm bestand hat. Er schenkt uns neues, vor ihm und von ihm gerechtfertigtes Leben.“
Hier zeigt sich, dass Gott souverän und einzig Gott ist. Nicht unsere menschlichen Fähigkeiten, so bedeutend sie auch sein mögen, schaffen uns dieses Leben. Und – das ist der große Anstoß für alle, die ernsthaft und im besten Sinn fromm leben: Nicht einmal die Einhaltung von Gottes Gesetz, der Gebote und allem, was daran hängt, verschaffen uns dieses Leben.
Das wird dem schnell klar, der sich zum Beispiel mit den Auslegungen der Gebote beschäftigt, die Jesus in der Bergpredigt gibt. „Du sollst nicht töten.“ – Wer schon schlecht über seinen Nächsten denkt und redet, hat es aber schon getan. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so heißt es im Alten Testament. „Liebt eure Feinde“, fordert Jesus.
Die Schlussfolgerung, die Paulus im Römerbrief formuliert, heißt denn auch: Alle Versuche, sich selbst zu einem Menschen zu machen, der vor Gott bestehen kann, sind gescheitert und müssen scheitern. Gebt es endlich zu, dass ihr allein auf die Gnade Gottes angewiesen seid, dass ihr ausschließlich durch seine Barmherzigkeit und Gnade lebt.
In der Hiob-Erzählung wird das auch deutlich. Wie es Hiob ergeht, hat überhaupt nichts mit seiner Frömmigkeit zu tun. Er ist der Gerechte schlechthin. Sein Leid ist nicht die Folge eines schlechten Lebenswandels, genauso wenig wie sein erneutes Glück am Ende des Buches von seinem guten Lebenswandel abhängt. Die Freunde Hiobs und er selbst verstehen das nicht. Sie suchen nach Ursachen und sie suchen nach menschlichen Auswegen. Mach dies, tu das. Forsche, ob du dich nicht doch irgendwie einmal versündigt hast. Am Ende muss Hiob in der direkten Auseinandersetzung mit Gott zugeben: „Ich halte meinen Mund. Du hast in allem recht, du allein.“ Die freie Entscheidung Gottes führt dazu, dass Hiob neues Glück erleben darf.
Der Glaube, auch der Glaube (!) kann nichts einklagen. Er ist voll und ganz der Freiheit Gottes ausgeliefert.
Paulus hat diese Erkenntnis durch harten Kampf erworben. Denn er war ja selbst einer der ganz frommen gewesen (und war es immer noch). Er hielt sich nicht nur für einen eifrigen Diener Gottes, er war es auch. Bis er dann an Jesus scheiterte, an seiner eigenen Bewertung dieses vermeintlichen Gotteslästerers. Nach der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus kann er sagen: Jetzt habe ich dich gesehen. Und jetzt ist mein ganzes Leben, mein Glaube, mein Wissen über Gott völlig neu, völlig anders geworden. Aus Gnade, weil du, Gott es mir schenkst.
Hiob sagt: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen. Aber nun hat mein Auge dich gesehen.”
Steht das Erbarmen Gottes im Mittelpunkt dieses Abschnitts, so wird auch noch ein zweites wichtig. Diese Entdeckung kann keiner für den anderen machen. Jeder muss selbst für sich seinen Platz vor Gott einnehmen und für sich selbst sein Verhältnis vor Gott bestimmen.
Es geht nicht um die Frage, wie wir für andere die Gerechtigkeit und Fairness Gottes einschätzen und wie wir damit umgehen. Es geht um uns. Nehmen wir seine Gnade für unser Leben an oder diskutieren wir immer noch drum herum mit dem Blick auf andere? Geben wir für unser eigenes Leben zu, dass wir ausschließlich aus Gottes Barmherzigkeit leben und auch in Zukunft, ja für die Ewigkeit auf seine Liebe und Güte angewiesen sind?
Wir können im Theoretisieren stehen bleiben – und werden an Gott und an unserem Anspruch an ihn scheitern. Oder wir können uns ihm voll und ganz ausliefern – und werden dadurch frei, uns beschenken zu lassen mit neuen Entdeckungen, mit neuem Leben, mit neuer Freiheit für unser Leben und für unseren Glauben.
Paulus hat dieses Wunder der eigenen Verwandlung, der neuen Freiheit und des neuen Lebens erlebt – und sie mündet, bei allen offenen Fragen, die er immer noch hat und auch ausspricht, in einem großartigen Bekenntnis und Lob Gottes.
Am Ende der drei sehr schwierigen Kapitel Römer 9 bis 11 sagt er – und zitiert dabei Jesaja und Hiob:
33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? 35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Paulus hat sich mit seinem ganzen Leben, mit seinem ganzen Nachdenken, seiner Theologie, seinen Fragen – mit allem völlig Gott ausgeliefert. Und so hat er sein Leben, seine Glaubensgewissheit, seinen Freimut zum Bekenntnis bekommen.
Das bricht die Diskussion nicht ab, das ist kein Totschlagargument, im Gegenteil: Wir werden, wenn wir uns Gottes Barmherzigkeit anvertrauen, eine ganz neue Freiheit gewinnen, mit ihm zu reden und zu ringen. Wir können uns Gott zuwenden, nicht in einem theoretischen Gespräch über ihn, sondern im direkten, vertrauten Gespräch mit ihm. Das „Vaterunser“ ist dann keine Formel mehr, die uns so beigebracht wurde. Es wird zur ehrlichen Anrede Gottes, der unser Vater ist. Wenn wir Gott wirklich als Gott und nicht nur als eine Art Übermensch entdecken, gewinnen wir uns erst als Menschen, als Ebenbilder Gottes.
Nochmal zurück zum Anfang. Ist Gott gerecht? Gott ist gerecht, ganz gewiss. So entdeckt und bekennt es Paulus. Und – das ist für uns mindestens so wichtig: Gott ist barmherzig. Er beschenkt uns überreich – aus seiner freien Entscheidung heraus.
Auch derjenige, der, wie im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, zum Schluss kommt, der nicht schon lange ein so frommes Leben geführt hat, bekommt das ewige Leben.
Ist das nicht wirklich alles Lob und allen Dank wert? Gott ist gnädig und barmherzig – und er sagt uns seine Gerechtigkeit zu.
Amen.