Predigt zu Lukas 10,38–42
Der Predigt geht die Lesung von Lukas 10,38–42 voraus.
Ist ja wieder einmal typisch, oder? Es sind immer dieselben, die die Arbeit machen. Marta ist in kirchlichen Kreisen zum Synonym für alle geworden, die niemals zur Ruhe kommen und immer schaffen, damit es andere schön haben. Eigenartig berührt es mich, wenn ich das bei Trauergesprächen höre oder in Traueranzeigen lese. Im Mittelpunkt der Erzählungen steht oft, wie sehr sich ein Mensch um andere gekümmert und gesorgt hat. Und oft heißt es auch, dass dieser Mensch, die Mutter, der Vater, immer nur an andere dachte, nie an sich selbst. Es berührt mich eigenartig. Denn einerseits bewundere ich es, dass es selbstlose Menschen gibt, die sich für andere einsetzen. Menschen, die in der Öffentlichkeit gar nicht so aufgefallen sind wie etwa Mutter Theresa. Von der spricht auch heute noch jeder. Aber wer spricht von Lieschen oder Anna oder Emilie, von Paul oder Karl oder Leopold, die nicht minder für andere da waren? Und doch gibt es sie, diese Menschen, nicht nur im traurig-verklärten Rückblick, sondern in Wirklichkeit.
Andererseits: Gibt es nicht Augenblicke, in denen ein Mensch auch sich selbst im Blick haben sollte — ja muss, damit er nicht zerbricht an all dem Guten, das er austeilt? Ich muss doch auch auftanken, damit ich anderen geben kann. Ich merke es an mir selbst: Wenn ich nur noch mache und gerade noch dazu komme, meine Veranstaltungen vorzubereiten, dann gelange ich irgendwann an den Punkt, wo mir nichts mehr einfällt – etwa zum Predigen. Da denke ich im ersten Moment: Wow, was für ein Text. Da lässt sich Vieles und Gutes und Spannendes sagen. Aber kaum sitze ich da, will mir nichts gelingen. Keiner meiner Sätze gefällt mir – wenn ich denn überhaupt einen vollständigen Satz aufs Papier bekomme. Wenn ich nicht abschalten und ruhen kann, wenn es keinen Tag mehr gibt, an dem ich hören kann statt immer nur zu reden oder zu schreiben, laufe ich leer.
Es ist auch die typische Situation in unseren Gemeinden. Verglichen mit den Gemeindegliederzahlen sind es relativ wenige, die sich engagieren. Man sieht immer dieselben, die tätig werden. Wer im Gemeindekirchenrat ist, hat auch automatisch Kirchendienst zu machen. Klar, dass er beim Frühjahrsputz mit anpackt. Päckchen für Rumänien? Klar bin ich dabei. Gemeindebriefaustragen? Sowieso. Geburtstagsbesuch? Auch das. Der Keilholz singt mit seinem Gospelchor? Da fahr ich selbstverständlich hin, damit unsere Gemeinde vertreten ist. Marta-Syndrom, vielleicht sogar beim Gottesdienstbesuch. Denkt mal drüber nach. Gab es schon mal einen Sonntag, wo ihr euch gesagt habt: Es könnten heute wenige kommen, deswegen geh ich wenigstens, damit der Pfarrer oder wer auch immer den Gottesdienst leitet, nicht alleine ist? Ich habe das hier und da von manchen schon ehrlich gesagt bekommen.
Marta. Als erstes: Ich sage allen Martas, denen die so heißen und denen, die so leben, aufrichtig und herzlich Dankeschön für ihren Einsatz. Und ich gebe zu, dass ich das viel zu oft vergesse, gar nicht wahrnehme, gar nicht genug würdige. Es ist etwas Wunderbares, dass es Menschen gibt, denen ihre Kirche so viel wert ist, die sich so sehr um die Schönheit eines Gottesdienstes bemühen oder um Gemütlichkeit im Pfarrhaus oder um einen ermutigenden Bericht im Gemeindebrief, die andere besuchen und mit Freundlichkeit und Nächstenliebe nicht geizen. Die Kirche lebt und wächst und blüht durch die Gaben, die Ihr in Gottes Namen einsetzt. Ohne Marta wäre die Kirche nichts.
Marta hat eine Schwester, Maria. Sie hat sie damals in der Geschichte, und sie hat sie heute. Maria entscheidet sich, Jesus zu zuhören. Damals schon sehr ungewöhnlich. Denn Lehrgespräche wurden unter Männern geführt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus mit Maria nur übers Wetter geredet hat. Rund um diese Erzählung stehen Textabschnitte mit sehr bedeutungsvollen Worten. Direkt im Anschluss kommt das Vaterunser. Ein Gebet, das in aller Welt gebetet wird. Und vor der Erzählung von Marta und Maria steht das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Lehrgeschichte schlechthin, wenn es um Nächstenliebe geht und die Bestimmung, wem ich denn zum Nächsten werden kann. Vielleicht hat Jesus die Geschichte gerade noch einmal wiederholt – wer weiß das schon? Wenn er etwas sagt, dann hat das Gewicht und verändert das Leben der Zuhörenden.
Jesus redet, und Maria hört. Da werde ich gleich noch einmal nachdenklich. Es ist tatsächlich nur von Jesus und Maria die Rede. Am Anfang des Abschnitts heißt es ausdrücklich: „Als SIE – also wohl Jesus und die Jünger – aber weiterzogen, kam ER in ein Dorf.“ Und dann heißt es auch, dass Marta IHN aufnahm. Als Jesus redet, ist es Maria, die ihm zuhört. Eigenartig. Aber es gibt auch sofort Ärger. Denn Marta wuselt in der Küche, alleine. Maria aber lauscht den Worten Jesu, und alles andere um sich herum ist vergessen.
Marta geht der Hut hoch. Vielleicht, dass Jesus mal ein deutliches Wort sagen könnte? „Herr, fragst du nicht danach, dass Maria mich alleine arbeiten lässt? Sag doch mal was.“ Ich kann’s verstehen. Da sitzen alle beim Festgottesdienst, und die immer selben drei stehen draußen am Rost, damit die Wurst fertig ist, wenn der Gottesdienst zu Ende geht. Da sind alle im Gesprächskreis, nur dieselben zwei kochen Tee und Kaffee, während im Gemeindesaal spannende Themen verhandelt werden. Und ich bin froh, dass es Menschen gibt, die das bemerken und dann aktiv werden, um die Aufgaben auch anders zu verteilen. Hier und da gelingt das.
Marta und Maria. Dienen und Zuhören. „Ora et labora“ kommt mir in den Sinn – beten und arbeiten. Das kommt aus der Tradition der Klöster. Wieder stutze ich. Ora et labora – bei den Mönchen war das doch gar nicht auf unterschiedliche Brüder aufgeteilt; also ob die einen immer gebetet hätten und die anderen während dieser Zeit gearbeitet. Ganz anders war das doch. Es gibt eine Zeit zum Beten und eine Zeit, Gottesdienst zur feiern, die Bibel zu studieren, eine Zeit gemeinsam zu beten und Zeiten, mit sich und Gott alleine zu sein. Ist das mit dieser Geschichte vielleicht auch so gemeint? Vielleicht nimmt Lukas dieses Erlebnis her, um unseren Blick darauf zu lenken, wo wir gerade im Moment in dieser Geschichte sind.
Denn es ist ja eine Beziehungsgeschichte. Marta und Maria wenden sich beide Jesus zu, und jede von den beiden macht das auf ihre Art und Weise. Marta dient Jesus mit allem, was sie kann. Vielleicht hat sie im Vorfeld schon das Haus hergerichtet, Kuchen gebacken, am Brunnen frisches Wasser geholt. Vielleicht sogar eine Karaffe Wein besorgt. Und jetzt, wo Jesus da ist, sorgt sie sich um sein Wohlergehen. Er soll sich in ihrem Haus richtig wohlfühlen. „Bei Marta ist es schön“, wird er später vielleicht sagen. „Da kannst du kommen, wann du willst – immer ist aufgeräumt, immer stehen frische Blumen in der Vase, immer gibt’s frischen Kaffee. Einfach zum Wohlfühlen.“ Und Jesus bemerkt es wohl, was Marta alles tut. „Du hast viel Sorge und Mühe.“
Es gibt Momente, da ist genau das dran. Auch anderswo wird für Jesus aufgetischt und er ist ganz Gast, kann sich niederlassen und feiern, sich bewirten lassen. Und wie wir miteinander umgehen – auch wo wir etwa Gastfreundschaft zeigen – wird einmal unser Erkennungszeichen sein. „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“, sagt Jesus im Johannesevangelium (Johannes 13,35)
Doch es gibt auch andere Momente. „Eins aber ist Not. Maria hat das gute Teil erwählt. Das soll nicht von ihr genommen werden.“ Maria wählt das gute Teil. Sie hört Jesus zu. Aber Achtung: Das ist nicht besser, als Jesus mit seinen Möglichkeiten und Gaben zur Verfügung zu stehen, zu dienen. An der Stelle müssen wir nämlich aufpassen. Jesus geht es nicht darum zu bewerten, wer etwa die Bessere von beiden ist, wer mehr glaubt und frömmer ist als die andere. Das machen wir Menschen gerne und teilen ein. Als ob wir Gott auf die eine oder andere Weise mehr bieten könnten. Aber Gott lässt sich weder davon beeindrucken, dass wir mehr Gottesdienste besuchen noch davon, dass wir mehr spenden oder die Fenster der Kirche streichen.
Bei dem Propheten Amos, den wir am Anfang gehört haben, sagt Gott das sehr drastisch (Amos 5,21ff.) Vom Geplärr der Lieder spricht Gott und dass ihm die Opfergaben regelrecht stinken. Weder der fromme Beter noch der fleißige Praktiker haben dem anderen etwas voraus. Darum geht es gerade nicht.
Der Punkt ist: Wir brauchen etwas, das wir uns selbst niemals geben können. „Eins ist not.“ – Eins wendet eure Not, eins habt ihr dringend nötig und seid darauf angewiesen. Und dieses eine hat Maria hier offensichtlich entdeckt und in Anspruch genommen: Wir brauchen die Zuwendung Gottes zu unserem Leben. Und wo er sich uns zuwendet, da müssen wir zupacken. Erst noch einmal anders herum formuliert: Gott braucht nicht unsere Zuwendung. Er ist nicht auf unsere Gebete und Lieder angewiesen und auch nicht auf unser Geld oder unsere Mitarbeit. Wir sind es, die angewiesen sind – auf Gott. Wir können ohne seine Güte und Freundlichkeit nicht leben. Das hört sich vielleicht so selbstverständlich an. Aber ist uns das wirklich so klar vor Augen, so dass wir es auch bekennen und leben?
Maria sitzt für einen Moment zu Jesu Füßen und hat nichts anderes mehr im Sinn als Jesus. Ja, es kümmert sie in diesem Moment nicht einmal, dass ihre Schwester doch die ganze Arbeit macht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Maria so eine arbeitsscheue Schwester gewesen ist. Und sie hat sich sicher doch auch so sehr über den Besuch des berühmten Rabbis gefreut, dass auch sie ihn mit Gastfreundschaft überschütten könnte. Aber etwas hat sie gepackt, hat sie gefesselt, das sie nun ganz still halten lässt. Sie spürt die Zuwendung Jesu. Der nimmt sich Zeit, um mit einem einzigen Menschen zu reden. Und – ich habe es schon erwähnt – es ist sogar eine Frau, mit der er ein wichtiges Gespräch führt. Für die Zeit ungewöhnlich.
Mir kommen ähnliche Situationen in den Sinn. Eines Abends kommt ein gelehrter Jude zu Jesus, Nikodemus heißt er (Johannes 3). Der will mit Jesus über seine Lehre reden und es ganz genau wissen. Und Jesus nimmt sich die Zeit dafür, im Zwiegespräch bringt er Nikodemus das neue Leben. Ein andermal ist Jesus in der Mittagszeit alleine an einem Brunnen vor einer Stadt. Keiner da in der Mittagshitze. Die Jünger hat Jesus in die Stadt geschickt, ein paar Besorgungen zu erledigen. Als er so dasitzt, kommt eine Frau aus der Stadt, um Wasser zu holen. Und Jesus redet mit ihr über das Wasser des Lebens (Johannes 4). Wer Jesus begegnet und von ihm entgegennimmt, was er uns schenkt, der hat das Leben – und kann es sogar weitergeben.
Maria ist an dem Punkt angelangt, der unbedingt auch in unsere Beziehung zu Jesus hineingehört: die völlige Hingabe an Jesus. Und dazu gehören leere Hände und ein Herz, das sich beschenken lässt. Sie sitzt und lauscht. Sie betet nicht, sie singt keine Loblieder. Sie erzählt nicht, wie wunderbar doch Jesus ist und dass sie die Wunder sehr beeindrucken, mit denen er Menschen hilft und zeigt, dass Gottes Reich ganz nah ist. Maria schweigt und lauscht. Marta, störe sie jetzt nicht.
Aus dieser innigen Beziehung, die ganz allein auf Jesus ausgerichtet ist, wächst unser Glaube und wird stärker. Solche innigen Momente, wo wir tatsächlich ganz allein auf Jesus schauen, lassen sich vielleicht noch nicht einmal planen. Sie ergeben sich, so wie sich der Besuch Jesu bei Marta und Maria ergeben hat. Und vielleicht war das auch gar nicht der Moment, die Gelegenheit für Marta, sondern tatsächlich nur für Maria. Wir können uns das gegenseitig gar nicht vorschreiben, wann das sein soll und wie das aussehen soll. Es geht dabei auch nicht darum, den anderen nun besonders in diese Richtung zu drängen. Die Geschichte wird mir erzählt. Ich habe sie zu hören. Und sie wird euch erzählt. Jeder einzelne hat sie für sich zu hören.
Wo sind unsere Momente? Wann begegnet uns Jesus? Wann sind wir dran, ganz still nur auf Jesus zu sehen? Wenn solch ein Moment da ist, dann gilt es, ihn wahrzunehmen. Vielleicht stellt er sich mitten im Alltag ein. Ein Bibelwort geht mir beim Rasenmähen durch den Kopf – und ich mach den Rasenmäher aus und gehe dem Gedanken nach. Vielleicht fällt jemandem eine Liedstrophe ein – und er oder sie hockt sich auf den Küchenstuhl, schnappt sich das Gesangbuch und meditiert das ganze Lied. Wieder einer ist schon ganz still, vielleicht beim Bibellesen und Beten – und merkt plötzlich: Jetzt ist ein besonderer Moment. Dann hör zu. Genieße den Augenblick. Und lass Marta, deine eigene, innere Marta, für eine Weile hinter der verschlossenen Tür ihre Arbeit machen. Es ist in Ordnung. Nein mehr – es ist notwendig.
Völlig unabhängig von dem, was wir Gott entgegenbringen – unsere Gebete und Lieder oder unsere praktische Arbeit und die Nächstenliebe, die wir anderen zuwenden: Wir brauchen nur eins ganz unbedingt und notwendig – dass wir Gottes Zuwendung zu unserem Leben erfahren und sie ergreifen. Ohne diese Zuwendung verlieren wir Gott und verlieren uns selbst. Maria jedenfalls macht mir Mut, das wieder neu zu entdecken – und solchen Momenten neue Chancen zu eröffnen. Eins ist not. Und dieses gute Teil – die persönliche Gemeinschaft mit Gott – will ich ergreifen.