Predigt zu Römer 12,21
Voraus geht die Lesung und ein Anspiel zur Geschichte von Kain und Abel – 1. Mose 4,1–16
Was für eine Geschichte. Sie ist das zweite große Drama in der Bibel nach der Sache mit dem Apfel und dem Rauswurf aus dem Paradies.
Übrigens auch eine Wahl-Angelegenheit. Adam und Eva hatten die Wahl, von der verbotenen Frucht zu essen oder nicht. Und haben sich entschieden. Sie kennen die Erzählung? Im Paradies stand ein Baum mit verbotenen Früchten. Der Baum der Erkenntnis hieß er. Was man erkennen kann? Gut und Böse. Also genau die beiden Seiten, zwischen denen wir ständig wählen müssen. Vorher war das Leben im Paradies, auf der Erde unschuldig. In der Schilderung der Bibel aber bricht mit der Entscheidung, diese Frucht zu kosten, das heile Leben auseinander. Die Welt fällt auseinander. Gutes und Böses werden sichtbar, beide bieten sich uns als Möglichkeiten des Lebens an. Adam und Eva essen von der Frucht – und nichts ist mehr, wie es war. Das Böse wird zum ständigen, gegenwärtigen Begleiter des Menschen und zwingt uns andauernd, zu wählen, uns zu entscheiden.
Ob Kain wirklich keine Wahl hatte, so wie er es im Interview dargestellt hat? War er tatsächlich so „alternativlos“, wie Frau Merkel das formulieren würde? Ihm wird einfach zu viel, dass sein Bruder wohl besser behandelt und angesehen wird, als er. Da hat er keine andere Möglichkeit, als ihm eins über die Rübe zu ziehen.
Dieses Erklärungsmuster hat sich ja bis in unsere Zeit erhalten. Und so machen sich Täter gerne zu Opfern. Die gesellschaftlichen Umstände, Sachzwänge, die schlechte Kindheit – alles wird herangezogen um zu zeigen, dass es doch gar keine Alternative gab.
Auf der anderen Seite schätzen wir alle die Wahlfreiheit als ein hohes Gut. Für diese Freiheit gehen Menschen sogar auf die Straße und kämpfen um sie. Jüngste Beispiele sind die Aufstände in den Staaten Nordafrikas: Tunesien hat sich Freiheit erstritten, Ägypten seinen Diktator rausgeworfen. In Algerien brodelt es schon lange und in Libyen ist ein heftiger Kampf ausgebrochen. Ein Blick zurück in unsere eigene Geschichte zeigt uns das gleiche Bild.
Du hast die Wahl: das wünschen sich Menschen. Sie wollen selbst über ihr Leben bestimmen können und die Wahl haben, im Kleinen wie im Großen. Da wird manchmal die kleine Entscheidung schon zur Qual der Wahl.
Ess‘ ich ein Stück Torte oder einen Apfel? Manche mögen nur lächeln über diese Frage. Für andere ist sie eine wirkliche Anfechtung und Herausforderung. Und: sie ist gar kein schlechtes Beispiel. Ist es nicht beindruckend, dass Menschen, wenn sie sich dem lustvollen Genuss eines leckeren Tortenstückes hingegeben haben, davon sprechen, sie hätten gesündigt? So wird „Apfel oder Torte“ schon zu einer hochtheologischen Frage, zu einer geistlichen Angelegenheit.
Natürlich ist ein Stück Torte nichts Böses und keine Sünde. Gleichzeitig ist es ein wunderbares und noch dazu leckeres Beispiel, ein Gleichnis. Denn mit der Torte entscheiden wir uns gegen das, was uns besser tun würde. Keine Frage: Der Apfel ist gesünder, Karotte knabbern ist gesünder, Salat ist gesünder. Aber die Torte lacht uns gerade mehr an. Es stellt sich etwas zwischen uns und das, was dem Leben am besten dient. Und genau das steckt in dem Wort Sünde: ein Sund, ein Graben, ein Riss, der mitten durch unser eigenes Leben geht. Das Leben, das wirklich Leben ist, gesund und munter, an Leib und Seele gesund, heil, ganz – kann ich nicht erreichen, weil mich ein Graben davon trennt.
Im einfachen Fall ist es nur das Stück Torte. Und wir gebrauchen den Sund, die kleine Sünde, mit der wir den Genuss beschreiben und die es dann auch wert war, mit einem Lächeln, mit Humor. Aber wir ahnen gar nicht, wie sehr wir damit einer tiefen Wahrheit auf der Spur sind, wenn es um das Leben geht, das Gott gemeint hat, das er uns geschenkt hat und das wir so oft aufs Spiel setzen mit unseren Entscheidungen. Du hast die Wahl – mach’s gut.
Paulus, der große Denker der ersten Christengeneration, hat darüber viel geschrieben. Und ein Fazit, das er zieht und das er in einem Brief formuliert, heißt so: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Der Brief, in dem Paulus das geschrieben hat, heißt der Römerbrief. Und mit diesem Fazit, dieser Mahnung, beendet er das zwölfte Kapitel seines Briefes. Die Kirchen haben sich dieses Motto als Jahresüberschrift für 2011 gegeben. In unseren Gemeindehäusern hängt es als Kunstblatt an der Wand.
Überwinde das Böse. Was das wohl sein mag? Da könnte uns so allerhand einfallen. Mit Blick auf die Geschehnisse in Nordafrika wäre es ein böses Regime, das Menschen überwinden. Und es mit Gutem zu überwinden könnten die friedlichen Mittel sein, die etwa vor 20 Jahren zur Wiedervereinigung unseres Landes geführt haben. Das ist schon eine gewaltige Herausforderung. Und es gelingt nicht immer – vielleicht sogar selten. Das Naziregime ließ sich anscheinend nicht mit Gutem überwinden. Millionen sind gestorben – auf Seiten der Täter und viel mehr noch auf Seiten derer, die sie, die das Böse stoppen wollten. Und die Freiheitsbewegung in Libyen verläuft anders als in Ägypten. Das Böse – das könnte schon der Nachbarschaftsstreit sein. Etwa der Qualm, der in den nächsten Wochen wieder in die frisch gewaschene Wäsche ziehen wird. Manchmal kann man mit rechtzeitig gewechselten guten Worten den Streit gleich eindämmen und beilegen. Manchmal geht es aber bis vor Gericht.
Worüber ich in den letzten Tagen aber sehr erschrocken bin, war etwas ganz anderes. Denn in mir selbst kam etwas hoch, das ich so nicht haben und denken und fühlen wollte, und das auf einmal mächtig da war. „Kain – du bist mir doch ein Verwandter, und das nicht nur, weil wir alle aus Adams Rippe stammen.“ Ich fühlte mich ungerecht behandelt, obwohl ich doch auf der richtigen Seite kämpfe – so denke ich jedenfalls. Bis vor einigen Wochen war ich in dieser Angelegenheit noch recht ruhig und gelassen. Wenn ich etwas kommentieren sollte, konnte ich das sachlich und mit überlegten Worten. Das bin ich nicht nur als Christ schuldig sondern gerade auch als eine Person, die ja eine ganze Institution vertritt. Aber diese Ruhe, Sachlichkeit und Gelassenheit wurden in den letzten zwei Wochen oft verdrängt. Aus dem Bemühen um ernsthafte Sachaussagen ist Sarkasmus geworden. Aus einem humorvollen und gelassenen Umgang wurde beißender Spott. Auslöser war ein äußeres Geschehen. Aber das Böse, das, was ich nicht denken und fühlen wollte, stieg doch in mir selbst auf. Dieser Spott, dieser Sarkasmus hat die Öffentlichkeit nicht erreicht. Ich trage ihn nicht vor mir her.
Nur wenige wissen es, haben davon etwas mitbekommen. Freunde haben meine Reaktionen gehört oder gelesen, wenn wir uns geschrieben haben. Und ich denke, es ist gut, so etwas bei vertrauten Menschen loszuwerden. Der Druck weicht von der Seele. Aber wenn schon ein guter Freund zu mir sagt: „So kenn ich dich gar nicht“, dann merke ich umso deutlicher, wie mich etwas verändert hat, das ich doch überhaupt nicht zulassen wollte.
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden“ – dich selbst, von dem, was in dir aufsteigt. Aber: Wie kann das gehen? Es ist gut, noch einmal in den Brief von Paulus zu schauen. Denn seine Ermahnung am Ende hat eine Voraussetzung: Am Anfang von Kapitel 12 schreibt er etwas, das unbedingt dazu gehört, zwei Sätze, die wichtig sind. Der eine: „Stellt euch Gott ganz zur Verfügung, denn so sieht euer wirklicher Gottesdienst aus.“ Und der andere: „Verwandelt, verändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes.“ Metamorphose steht dort im Griechischen, das Paulus geschrieben hat – verwandelt euch.
Ein neuer Sinn, ein anderes Denken, ein anderer Grundansatz für mein ganzes Leben – das ist die Voraussetzung für das Fazit, die Ermahnung am Ende. „Wenn jemand in Christus lebt, an Jesus Christus glaubt, ihm mit seinem ganzen Leben angehört, dann ist er ein völlig neuer Mensch, eine ganz neue Schöpfung“. So schreibt es Paulus einmal in einem anderen Brief (2. Korinther 5,17)
Unser normales menschliches Denken macht sich oft an dem Grundsatz fest, der auch in Gesetzen der Bibel zu finden ist: „Auge um Auge.“ – Gleiches mit Gleichem. Und oft wird daraus auch Böses mit Bösem. Das ist, in den Worten von Paulus gesagt, die alte Schöpfung. Das Böse hat sich gegenüber vom Guten aufgestellt und provoziert. Und wir fallen darauf rein, gehen darauf ein und greifen beherzt zu, wenn sich uns das Böse als Möglichkeit anbietet, uns zu wehren.
Ein neuer Mensch, einer, dessen Lebensgrund-Sätze verändert, verwandelt, regelrecht erneuert sind, kann aber anders denken und handeln. Wie neu und anders, das macht Jesus einmal in einer langen Predigt deutlich, Bergpredigt wird sie genannt. Unter dem Titel ist sie in vielen Bibeln aufgeführt und auch bekannt. Da heißt es auf einmal: Liebe deinen Feind. Gib dem, der bittet, gerne. Und gib ihn sogar mehr, als er fordert. In einem Lied dazu habe ich eine schöne und treffende Neuinterpretation der Gebote gehört. Da heißt es: „Brauchst nicht zu lügen, nicht zu töten, nicht zu stehlen. Kannst deine Ehe halten, musst nicht neidisch sein. Du kannst die gute Ordnung Gottes für dich wählen. Wenn du das willst, wird er Dich dazu befrein.“ (Christoph Zehendner in: Felsenfest, Musikalische Fenster zur Bergpredigt)
Um Freiheit also geht es. Und da komme ich wieder zum Anfang zurück. Freiheit zu wählen, das wünschen wir uns doch. Eben nicht zu sein wie Kain, der alternativlos seiner Wut, seinem Neid, seinen Gefühlen ausgeliefert war. Es geht auf die Passionszeit zu, und in knapp acht Wochen ist Karfreitag, der Tag, an dem die Christen daran erinnern, dass Jesus gekreuzigt wurde und starb – für uns, für den alten Menschen, für das alte Prinzip Auge um Auge.
Jesus eröffnet uns mit diesem Tod die Wahlmöglichkeiten neu. Weil er sich ganz unter das Prinzip des Bösen stellt, unter die Gesetzmäßigkeit einer zerteilten, gefallen Welt, dass Böses nur durch das gleiche Böse, im schlimmsten Fall durch den Tod, gelöscht werden kann, kommen wir raus aus dieser Gesetzmäßigkeit. Sie ist ein für allemal erfüllt und abgelöst von etwas Neuem. „Du hast – wieder neu – die Wahl. Nutze sie und wähle das Gute.“
„Überwinde das Böse mit Gutem.“ Du kannst es, weil Jesus Christus dich zu einem neuen Menschen macht. Dafür gibt es kein Rezept. Aber mir hat in diesen Tagen gut getan, es überhaupt erst einmal zu merken, was los ist und es mir einzugestehen: „Ich reagiere nicht mehr so, wie ich es als Mensch und als Christ möchte. Jesus, das soll anders werden.“ Und gut war, auch von einem Freund zu hören, dass ich anders bin. Auch kein Rezept, aber: dem äußeren Anlass bin ich aus dem Weg gegangen, ohne das Anliegen dahinter aufzugeben. Ich muss mich ja nicht dort aufhalten – real oder etwa im Internet – wo ich nur das finde, was mich ärgert. Das funktioniert dort nicht, wo äußerer Druck herrscht, dem ein Mensch nicht ausweichen kann. Das weiß ich wohl und sage es auch ganz bewusst. Es war aber in dieser einen Sache und nur für mich ein nötiger und guter Schritt. Und der ist für uns vielleicht öfter möglich und nötig, wo wir in sehr großer, äußerer Freiheit leben.
Entscheidend war dann die Neuentdeckung: Ich habe wirklich die Wahl über meine Antwortmöglichkeiten. Und es ist meine Entscheidung, wie ich wähle. So wie ich bei der Landtagswahl am 20. März sehr bewusst entscheiden werde, wo ich meine Kreuzchen setze, habe ich auch die Wahl, nach Gutem zu suchen. Oder ich wähle halt das Böse, weil es meistens einfacher geht. Denn es stimmt schon: „Gleiches mit Gleichem“ fällt uns oft leichter. Da brauchen wir nicht auf die Suche zu gehen, das haben wir sofort im Kopf. Aber das Gute ist für uns nicht unerreichbar. Nur liegt es nicht auf der Straße. Wir müssen es suchen. Auch in unseren Herzen ist es manchmal etwas verborgen, an den Rand gedrängt von anderen Lösungen.
„Du hast die Wahl – mach’s gut.“ Warum nehmen wir uns nicht die Freiheit, die Jesus uns verschafft hat? Das wäre doch was. Wir könnten die Welt und uns selbst damit überraschen, wenn wir auch in bösen Momenten damit anfangen, das Gute zu suchen und uns bewusst dafür zu entscheiden. Ist im Übrigen das Programm Gottes: Er überbrückt den Graben, der uns trennt und macht ihn nicht noch größer – was nach menschlichem Ermessen doch logisch wäre. Er macht ihn kleiner, baut eine Brücke für uns, weil er uns liebt. Und er lädt uns ein, in diesem Programm mitzuwirken. Ihr habt die Freiheit dazu. Nutzt sie.