Predigt zu Apostelgeschichte 2,1–18 (Pfingsten 2016)
Wann waren Sie zum letzten Mal so richtig begeistert? Können Sie sich daran erinnern?
Ich war völlig begeistert von dem Theaterstück des Zeitzer Jugendtheaters Karambolage. „Arsen und Spitzenhäubchen“ – eine Krimikomödie, die 1941 Premiere am Broadway hatte und 1944 in die Kinos kam, unter anderem mit Cary Grant. Die Premiere des Jugendtheaters in Zeitz und die Aufführung in Luckenau habe ich als Freund von Karambolage, als Fotograf und vor allem als Vater begleitet. Und ich war hin und weg, gerührt, berührt, fasziniert, aus dem Häuschen, begeistert eben. Das kommt nicht oft vor, dass mich etwas so fesselt und lange beschäftigt, mich die Erinnerung immer wieder heimsucht, mir ein Lächeln nach dem andern auf die Lippen zaubert – sogar wenn ich das nur in meinen Predigttext hinein tippe. Ich muss mich geradezu zwingen, nicht von dem Stück und der Theatergruppe weiter zu erzählen. Darüber könnte ich eine ganze Stunde reden — so sehr fasziniert es mich noch immer. Wes das Herz voll ist …
Begeisterung ist spürbar, immer.
Gar nicht begeistert waren die Jüngerinnen und Jünger Jesu damals nach Ostern und Himmelfahrt. Zumindest nicht in der Weise, dass sie nach draußen gegangen wären. Wer begeistert ist, erzählt doch jedem davon – ob der andere es nun hören will oder nicht. Nach Ostern und Himmelfahrt aber war Funkstille im Hause der Jünger. Untereinander waren sie gewiss im Gespräch, aber nichts davon dran nach draußen. Eher waren sie verschreckt, obwohl sie gerade das größte Wunder erlebt hatten, das die Welt je gesehen hatte. In Worten nacherzählen konnten sie es bestimmt auch, zumindest so viel hatten sie gewiss begriffen. Nun war Jesus aber ganz weg. Und die Jünger wussten noch nichts mit der überwältigenden Erfahrung von Ostern anzufangen.
Das ist so, als ob man einen vollen Benzintank hat – aber es fehlt der zündende Funke, der den Motor zum Laufen bringt. So stelle ich mir das jedenfalls vor: Das Herz der Jünger ist übervoll mit den Erlebnissen der letzten 50 Tage, randvoll gefüllt.
Ostern: erst die unglaubliche Nachricht der Frauen, dass das Grab Jesu leer ist und er selbst lebt; dann zeigt sich Jesus ihnen sogar selbst, spricht mit ihnen, isst mit ihnen, lässt sich berühren. Am See Genezareth erinnert Jesus an ein Wunder aus den Anfangstagen ihrer gemeinsamen Wanderschaft: zum zweiten Mal erleben sie einen unglaublichen Fischzug am helllichten Tag (Johannes 21). Vor zehn Tagen erst die Himmelfahrt: „Ihr werdet meine Zeugen sein“, sagt Jesus. „Ich bin bei euch alle Tage“, sagt er. „Wartet in Jerusalem auf den Geist, den mein Vater euch senden wird“, so haben sie es noch im Ohr.
Und vor Augen? Jesus, der mehr und mehr verschwindet. Irgendwie sind die Frauen und Männer dort in Jerusalem wohl noch in diesem Nebel gefangen, der Jesus vor ihren Augen weggenommen hat. Das Herz, dieser Tank der Seele, ist randvoll. Aber es sprudelt noch nicht aus ihnen heraus. Der Funke fehlt, der die Begeisterung entfacht. Ist alles vorher viel zu groß gewesen, als dass die Jünger damit umgehen können?
Wäre nicht zu verwundern. Es war ja schließlich unglaublich. Gottes Ewigkeit bricht mit Macht in die Zeit ein – und bleibt doch zugleich verborgen, geheimnisvoll. Diese unvorstellbare Wirklichkeit, die wir Ewigkeit nennen, ist da, ist nicht mehr zu ignorieren, wirkt sich aus. Und sie bleibt zugleich unerklärbar, nicht zu fassen, kaum zu glauben. Einfach zu groß, um in Begeisterung umzuschlagen.
Ich frage mich ja manchmal, wie das bei uns ist. Da gibt es Menschen, die schon immer zur Kirche dazugehören, von Geburt an. Andere sind später dazu gekommen, aber auch schon eine Weile dabei. Von Kindesbeinen an haben wir vielleicht die Geschichten von Jesus gehört. Mit dem Volk Israel sind wir so oft durchs Schilfmeer gezogen, dass wir den Weg nun bald auswendig kennen müssten. Den Psalm vom guten Hirten beten wir, ohne ins Buch zu schauen. Wir sind voll von Wissen über Gott, von Erlebnissen, die wir zumindest erzählt bekommen haben; aber vielleicht auch von eigenen Erlebnissen, die wir als Christen mit Gott gemacht haben. Wie die Jünger damals sind wir. Sitzen in der Kirche zusammen. Erzählen uns die Geschichten. Hören sie – wie die Weihnachtsgeschichte etwa – alle Jahre wieder. Und warten auf den zündenden Funken hinter unseren Türen.
In Jerusalem war es plötzlich soweit (Apostelgeschichte 2 – Neue Genfer Übersetzung):
1 Schließlich kam das Pfingstfest. Auch an diesem Tag waren sie alle wieder am selben Ort versammelt. 2 Plötzlich setzte vom Himmel her ein Rauschen ein wie von einem gewaltigen Sturm; das ganze Haus, in dem sie sich befanden, war von diesem Brausen erfüllt. 3 Gleichzeitig sahen sie so etwas wie Flammenzungen, die sich verteilten und sich auf jeden Einzelnen von ihnen niederließen. 4 Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt, und sie begannen, in fremden Sprachen zu reden; jeder sprach so, wie der Geist es ihm eingab. 5 ´Wegen des Pfingstfestes‘ hielten sich damals fromme Juden aus aller Welt in Jerusalem auf. 6 Als nun jenes mächtige Brausen vom Himmel einsetzte, strömten sie in Scharen zusammen. Sie waren zutiefst verwirrt, denn jeder hörte die Apostel und die, die bei ihnen waren, in seiner eigenen Sprache reden. 7 Fassungslos riefen sie: »Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? 8 Wie kommt es dann, dass jeder von uns sie in seiner Muttersprache reden hört? 9 Wir sind Parther, Meder und Elamiter; wir kommen aus Mesopotamien und aus Judäa, aus Kappadozien, aus Pontus und aus der Provinz Asien, 10 aus Phrygien und Pamphylien, aus Ägypten und aus der Gegend von Zyrene in Libyen. Sogar aus Rom sind Besucher hier, 11 sowohl solche, die von Geburt Juden sind, als auch Nichtjuden, die den jüdischen Glauben angenommen haben. Auch Kreter und Araber befinden sich unter uns. Und wir alle hören sie in unseren eigenen Sprachen von den wunderbaren Dingen reden, die Gott getan hat!« 12 Alle waren außer sich vor Staunen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte einer den anderen, aber keiner hatte eine Erklärung dafür. 13 Es gab allerdings auch einige, die sich darüber lustig machten. »Die haben zu viel süßen Wein getrunken!«, spotteten sie.
14 Jetzt trat Petrus zusammen mit den elf anderen Aposteln vor die Menge. Mit lauter Stimme erklärte er: »Ihr Leute von Judäa und ihr alle, die ihr zur Zeit hier in Jerusalem seid! Ich habe euch etwas zu sagen, was ihr unbedingt wissen müsst. Hört mir zu! 15 Diese Leute hier sind nicht betrunken, wie ihr vermutet. Es ist ja erst neun Uhr morgens. 16 Nein, was hier geschieht, ist nichts anderes als die Erfüllung dessen, was Gott durch den Propheten Joel angekündigt hat. 17 ›Am Ende der Zeit‹, so sagt Gott,› werde ich meinen Geist über alle Menschen ausgießen. Dann werden eure Söhne und eure Töchter prophetisch reden; die Jüngeren unter euch werden Visionen haben und die Älteren prophetische Träume. 18 Sogar über die Diener und Dienerinnen, die an mich glauben, werde ich in jener Zeit meinen Geist ausgießen, und auch sie werden prophetisch reden.
Plötzlich sprudelt es aus den Jüngern hervor. Der Funke ist da – im erzählten Bild sogar wörtlich: „Flammenzungen“ sagt die Neue Genfer Übersetzung. Martin Luther spricht von „Zungen, zerteilt wie von Feuer“. Ich muss an der Stelle immer schmunzeln. Denn ich denke dabei an so manche Frisur, mit Haarspray noch extra stabilisiert. Wenn da ein Funke drankommt …
Aber so mag es Petrus und den anderen gegangen sein. Sie rennen raus auf die Straße, von einer überwältigenden Kraft angetrieben, von einem Augenblick zum andern. Keine Zeit der Vorbereitung mehr. Niemand denk darüber nach, was das mit dem Brausen und den Zungen soll. Es entlädt sich, was sie über die drei Jahre angesammelt haben, während sie mit Jesus unterwegs waren. Es sprudelt aus ihnen heraus, was sie in den letzten 50 Tagen bewegt hat und was in ihnen brodelte und kochte wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Es fehlte nur der zündende Funke, um alles wie in einer Explosion aus ihnen hervortreten zu lassen.
Im Rückblick, wieder einmal im Rückblick, merken die Jünger, merkt der Schreiber der Apostelgeschichte, merkt es Petrus: Das war von Gott so schon angekündigt. Diese Zeit wird kommen, dass Gottes Geist sich Bahn bricht. Dieser Moment ist nun da, so wie es etwa der Prophet Joel angekündigt hat: „Am Ende der Zeit werde ich meinen Geist über alle Menschen ausgießen. Dann werden eure Söhne und eure Töchter prophetisch reden.“
Ich muss noch einmal zum Auto zurück – also im Bild. Der Tank ist voll, nur der Zündfunke muss noch überspringen. Und da fällt mir etwas auf: Es ist nicht der Tank, der diesen Funken auslöst. Es ist auch nicht das Auto selbst, das den Start auslöst. Einer kommt, öffnet die Tür, setzt sich hinters Steuer. Der hat den Schlüssel. Der dreht den Schlüssel im Zündschloss – oder drückt auf den Start-Knopf. Und dann startet der Motor.
Die Jünger waren vorbereitet durch ihre Zeit mit Jesus. Aber sie konnten sich nicht selbst begeistern und motivieren. Sie konnten nicht von sich aus losrennen. Und sie sollten das auch gar nicht. Ein Kapitel vorher, in der Erzählung von der Himmelfahrt, sagt Jesus zu den Jüngern: „Wartet in Jerusalem. Ihr sollt mit Heiligem Geist getauft werden. Und dann werdet ihr meine Zeugen sein, werdet von mir erzählen.“ Gott selbst weckt die Begeisterung, indem er seinen Heiligen Geist wehen, brausen lässt.
Mauern, verschlossene Türen, Ängste, Unsicherheit, mangelnde Erfahrung als Predigende – all das kann Gottes Geist nicht zurückhalten, kann ihn nicht aufhalten. Reiche Erfahrung, großes Wissen, gute Bildung oder Mut wiederum reichen nicht aus, um diese Begeisterung zu erlangen und an den Tag zu legen, die sich an Pfingsten in Jerusalem plötzlich so umwerfend Bahn bricht.
Gott handelt, auch hier. Auch nachdem er schon so viel getan hat an den Jüngern und sie sogar miterleben durften, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, handelt er immer noch selbst. Von sich aus können die Jünger trotz ihrer Erfahrung nichts tun. Aber der Geist Gottes befähigt sie, setzt ihre Begeisterung frei.
Eine Entdeckung, die mir heute dreifach wichtig wird.
Zuerst entlastet und befreit uns die Pfingstgeschichte. Immer noch gilt: Gott handelt. Es spielt keine Rolle, mit welchen Fähigkeiten wir antreten, welche Erfahrungen wir mitbringen. Es spielt keine Rolle, wie groß oder auch klein unser Glaube sein mag, ob uns Zweifel durchfahren oder wir vor Sicherheit strotzen. Gott selbst erfüllt uns mit Begeisterung, die dann durch uns hindurch nach draußen tritt und sichtbar wird. Gott selbst öffnet die Türen, die wir aus Angst und Zweifel geschlossen halten und begleitet uns in unseren Alltag. Gott selbst verwandelt unsere Erfahrungen und unseren Glauben in einen Schatz, der für andere bedeutsam wird. Es geschieht durch Gottes Geist. So handelt Gott bis heute.
Was mich auch bewegt und nun ermutigt: Die Jünger waren nicht die stärkeren und besseren Zeugen, weil sie Jesus als Mensch auf Erden kennengelernt haben und in das leere Grab sehen konnten. Bevor Gott sie nicht mit seinem Geist begeistert hat, bewegte sie diese fantastische und gewiss nicht zu überbietende Lebenserfahrung doch nicht dazu, auf der Straße von Jesus zu erzählen. Manchmal vermuten das ja Menschen unserer Zeit. „Wenn ich selbst Jesus gesehen hätte, dann könnte ich glauben. Wenn mir der auferstandene Jesus begegnet wäre, dann könnte ich auch mutig von der Auferstehung erzählen, vom Leben, das den Tod überwunden hat, vom Himmel und von der Ewigkeit Gottes.“ Wenn ich mir aber die Jünger so anschaue, wie sie vor Pfingsten geschildert werden, vermute ich, dass es uns auch heute nicht anders ginge. Ohne Gottes Geist bewegt sich nichts. Aber mit Gottes Geist ist alles möglich. Wie sonst sollte die Kirche so gewachsen sein in den Jahren und Jahrhunderten nach der Himmelfahrt – also ohne Jesus sichtbar auf der Erde zu haben. Es macht mir Mut zu sehen, wie sogar die ersten Zeugen auf Gottes Geist angewiesen sind – und wie dieser Geist in ihnen und durch die Jahrhunderte hindurch wirkt. Es macht mir Mut von Menschen zu hören oder zu lesen, die durch Gottes Geist bewegt Zeichen in dieser Welt gesetzt haben, die der Pfingstpredigt von Petrus in nichts nachstehen. Menschen, denen ich heute begegne, machen mir Mut. Sie begeistern mich, ich bin bewegt von ihrem Glauben, lerne von ihnen, entdecke Gottes Geist in ihnen.
Bei all dieser Begeisterung wird aber auch die Frage laut: Lasse ich mich begeistern? Lassen wir uns begeistern – oder wehren wir uns, ist uns das zu gefährlich? Es ist ja nicht nur das Bild, das uns eher schmunzeln lässt: Feurige Zungen auf den Köpfen. Gefahr für die Haare, von denen manche mehr haben als ich.
Pfingsten ist ja wirklich gefährlich. Es durchbricht unseren Alltag. Gottes Geist bringt eine Kraft in unser Leben, die wir nicht eindämmen können. Er sendet uns auf Wege, die manchmal gar nicht bequem sind. Er stellt uns vielleicht Menschen gegenüber, die uns gar nicht wohlgesonnen sind. Er stellt uns selbst auch in Frage, zeigt wunde Punkte in unserem Leben auf, fordert uns unter Umständen zu einer völligen Kehrtwende auf.
Lassen wir uns begeistern? Wir bitten in unsern Pfingstliedern Gottes Geist darum, in unser Leben einzuziehen. Ist uns klar, was wir damit anrichten? Und wollen wir das? Manchmal scheint es mir so, als ob wir da doch lieber sehr vorsichtig sind. Jedenfalls begegnet mir selten so eine Begeisterung, wie ich sie am Anfang als eine eigene Erfahrung geschildert habe. Wir können eher vom Lichterfest oder der Weinmeile oder dem Silvesterball schwärmen als von Gott oder unserem Kirchentag oder dem Himmelfahrtsgottesdienst. An der Chance zu eigenen Erfahrungen kann es nicht liegen. Wir haben viele Möglichkeiten, Großartiges in unseren Gemeinden zu erleben oder selbst zu gestalten.
Ob uns die Sorge umtreibt, dass uns die Begeisterung für Gottes Sache doch mehr anbrennen könnte als die Frisur?
Aber auch das soll mich, soll uns nicht entmutigen. Gottes Geist wirkt. Und überwindet auch unsere Sorge und Angst und Mutlosigkeit oder Verzagtheit. Das ist meine Hoffnung für dieses Pfingstfest, für unsere Kirche und für mein eigenes Leben.
„Es soll geschehen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist.“ „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen“, sagt Jesus.
Lassen wir uns begeistern.
Amen.
Foto: Kirche Petersgården in Lund
© Matthias Keilholz