Predigt zu 2. Mose 3,1–10 (11–14)
(Der Anfang der Predigt bezieht sich auf Lesungen im Gottesdienst aus 2. Korinther 4,6–10 und Matthäus 17,1–9)
Ein Brief und eine Erzählung. Ihr gemeinsames Thema: Gott verbirgt sich hinter all unserer Menschlichkeit. Er lässt sich nur finden, wenn wir ihn nicht in unseren Wunschvorstellungen suchen, sondern in unserem Leben. Und das ist oft genug wüst und leer.
Um einen, dem Gott tatsächlich in der Wüste und Leere seines Lebens begegnet ist, geht es heute. Es ist kein anderer als Mose, der erste bedeutende Anführer des Volkes Israel.
Geboren war Mose als Kind israelischer Sklaven in Ägypten. Seine Geburt war fast schon sein Todesurteil. Denn einer der grausamsten Befehle des Pharaos lautete: Alle israelischen Jungen sollen getötet werden, damit dieses Sklavenvolk nicht stärker wird. Zwei israelische Hebammen aber waren mutig genug, diesen Befehl zu missachten. Und Moses Mutter und Schwester konnten so mit ihnen zusammen das Leben des Jungen retten. Im Schilf am Flussufer versteckt, wird er von der Tochter des Pharaos gefunden und adoptiert. Er wächst als ein Prinz Ägyptens auf – bis er eines Tages seine wahre Herkunft entdeckt. Und als er dann beobachtet, wie ägyptische Aufseher einen seiner israelitischen Brüder schlagen, wird er zum Rächer und Mörder – und muss aus Ägypten fliehen. Heimatlos, rechtlos, ohne Familie. Wüst und leer ist sein Leben auf einen Schlag geworden. Ein bisschen neue Hoffnung keimt auf, als er im Asyl die Liebe seines Lebens kennenlernt, Zippora. Sie ist die Tochter eines Priesters in Midian. Mose heiratet sie und bleibt bei seiner neuen Familie. Aber er ist immer noch Flüchtling. Und vom einstmaligen Prinzen Ägyptens ist nichts übrig geblieben. Er herrscht nur noch über die Schafe seines Schwiegervaters. Und da geschieht eines Tages etwas Sonderbares:
1 Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Steppe hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb.
2 Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde.
3 Da sprach er: Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.
4 Als aber der Herr sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich.
5 Gott sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!
6 Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
7 Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt.
8 Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Lande in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter.
9 Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Not gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen,
10 so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.
Wirklich sonderbar. Ich stelle mir Mose vor, wie er da so vor sich hin trottet, keine wirklich aussichtsreiche Lebensperspektive vor sich. Er war ja auch nicht mehr der junge Mann, der aus Ägypten geflohen war. Etwas später erzählt die Bibel, dass Mose achtzig Jahre alt war, als er mit dem Pharao über den Auszug des Volkes verhandelt. Was für ein Abbruch. Aufstiegt und Fall – und dann dümpelt sein Leben so vor sich hin. Ob ihn da noch einer rausholt? Ob es noch Zukunft gibt, neues Leben, neues Land, neue Hoffnung? Fast vermessen, diese Frage, oder?
Aber da tritt Gott auf den Plan. Und der hat Pläne. Zuerst einmal für sein Volk Israel. Denn die warten sehnsüchtig auf das gelobte Land, das vor vielen hundert Jahren ihrem Urahn Abraham versprochen worden war. Sie sehnten sich nach Freiheit und Selbstbestimmung, nach einem eigenen Land, nach Milch und Honig.
Das erinnert mich in diesen Tagen sehr an die Ereignisse, die uns aus Nordafrika berichtet wurden und werden. In Tunesien wurde der Diktator Ben Ali schon rausgeworfen – er ist geflohen, als der Druck des Volkes groß genug war. Am Freitag hat der ägyptische Diktator Mubarak seinen Rücktritt erklärt. Die Menschen sehen sich nach Freiheit, nach neuem Lebensraum – in ihrem eigenen Land. Wer wird Hilfe bringen? Wer bringt Erlösung? Wer schafft Zukunft?
Mose jedenfalls begegnet in seinem Leben ganz unvermittelt Gott selbst. Was auch nicht so einfach ist. Denn er sieht ihn nicht in seinem großartigen Tempel zu Jerusalem – den gab es damals noch nicht. Erst Jesaja hatte bei seiner Berufungsgeschichte den großartig-erschreckenden Anblick eines Gottes im Tempel. Gott ist in einem Dornbusch. Was für ein ungemütlicher Ort. Ein Dornengestrüpp in der arabisch-israelischen Wüste als Ort der Begegnung mit Gott.
Mit allem hätte Mose wohl gerechnet, nur nicht damit. „Zieh deine Schuhe aus, hier ist Heiliges Land“, so sagt ihm die Stimme aus dem brennenden Gestrüpp. Und ich mache daran eine erste Entdeckung: Heiliges Land, die Begegnung mit Gott ist völlig unabhängig von jeder meiner Frömmigkeitsvorstellungen oder Gottesbilder. Der übelste Ort der Welt kann zum Heiligen Land werden, wenn Gott dort zugegen ist. Es ist geradezu Gottes Eigenart, dass er uns nicht zu sich zitiert in seinen Palast, sondern dass er in unser Elend, in unsere Wüsten und Dornen hineinkommt und sie zum Heiligen Land erklärt.
Am Ende des Weihnachtsfestkreises wird damit noch einmal deutlich, dass Gott wirklich zu uns kommt. Im Rückblick als Mensch in der Krippe, im Vorausblick auf die Passionszeit als König ohne Land unter der Dornenkrone. Dieses Bild vom brennenden Dornbusch ernstnehmen bedeutet: Ich rechne wirklich mit Gott in meinem eigenen Leben. Und wenn ich gerade durch eine leere, wüste Zeit gehe, dann weiß ich: Für Gott ist das eine Gelegenheit, mir zu begegnen.
Für Mose geht die Geschichte weiter. Gott stellt sich vor. Er ist der Gott der Väter. Abraham, Isaak und Jakob werden genannt. Gott hat schon eine Geschichte, die vor der Geschichte Moses liegt. Gott ist schon längst Teil meiner Geschichte, denn er hat eine Beziehung zu uns Menschen, die weiter reicht als unser eingeschränkter Blick auf unser eigenes Leben. Aber dieser Blick zurück ist getrübt. Damals für Mose und für uns heute genauso. Denn die Väter und Mütter – die waren doch auch mehr auf der Suche nach dem gelobten Land, als dass sie es wirklich gefunden hätten. So herrlich und klar war Gott bei ihnen doch auch nicht zu sehen. Manchmal war er dort doch auch wie abwesend, wie tot, oder?
Wir brauchen gar nicht so weit zurückzugehen. Mancher denkt heute vielleicht auch hier an ein Ereignis, dass vor 66 Jahren Deutschland erschüttert hat und das immer noch – und vielleicht sogar immer mehr – nachwirkt. Am 13. Februar 1945 wurde Dresden bombardiert und völlig zerstört. Etwa 20.000 Menschen starben damals. Der Gott der Väter – wo war er? Wo war er, als der grausame Krieg begann, als sein Volk in die Konzentrationslager verbannt und dort ermordet wurde, als die Welt in Trümmer fiel? Der Gott der Väter – ist vielleicht doch nur eine Erinnerung, die mehr Wunden aufreißt als Hoffnung bringt. In Moses Erinnerung hat der Gott der Väter jedenfalls vierhundert Jahre geschwiegen. Deswegen hatte er ja selbst Hand angelegt und einen ägyptischen Sklavenaufseher erschlagen. Und war nun Hirte und nicht mehr Prinz.
Deswegen greifen Menschen doch immer wieder zu ihren eigenen Heilsmitteln, wählen sich und ernennen sich selbst Helfer und Erlöser – nur um mit ihnen erst recht unterzugehen. Aber wer dabei stehen bleibt, merkt nicht, dass Gott etwas anderes meint, wenn er von sich als vom Gott der Väter spricht.
Gott erinnert sich selbst und diejenigen, die ihn suchen und nach ihm fragen, an seine bedingungslose, unerschütterliche Treue. Das bedeutet die Rede von den Vätern. Das ist die zweite Entdeckung an dieser eigenartigen Begegnung in der Wüste: So wie von Generation zu Generation das Leben weitergegeben wird von Vätern und Müttern an ihre Kinder, so bleibt Gottes Treue bestehen.
Und noch etwas anderes schwingt in dieser Redeweise mit: Der Gott der Väter, das ist der Gott, den wir Vater nennen dürfen. Er ist ja nicht nur einer, der uns von unseren Vorvätern überliefert wurde. Er selbst ist der Vater im Himmel, der seine Menschen, seine Familie trägt und erhält. Dieser Vater- und Vätergott hat Israels Schreien aus der Sklaverei gehört, er hat ihr Elend gesehen. Und er bleibt nicht auf einem Beobachtungsposten fernab stehen. Er kommt selbst, um die Rettung zu bringen. Ein wunderbares Bild: Gott ist „herniedergefahren“. Kommt das erste Mal in der Bibel übrigens beim Turmbau zu Babel vor, dass Gott herniederfährt – da muss er sich mal anschauen, was die Menschen so treiben und wie weit ihr Turm schon gewachsen ist, der doch bis zum Himmel reichen soll. Hier bei Mose kommt Gott, weil er helfen will, weil er rettend eingreifen will. Er kommt herunter zu uns.
Die Künstlerin Beate Heinen hat ein Bild gemalt, das die Geburt Jesu darstellt. Allerdings liegt das Christuskind nicht in einer Krippe in einem Stall, schön beschaulich in alpenländischer Idylle. Das Jesuskind liegt in einem Rinnstein, sanft und ruhig wie sonst auch in der Krippe dargestellt. Über ihm sind Füße von Menschen zu sehen, die vorbeigehen. So, wie Menschen eben an einem anderen vorbeigehen, den sie nicht sehen wollen. Ein Hund nimmt das Baby war. Und das Bild heißt: „Der heruntergekommene Gott.“
Gott begegnet Mose in seiner wüsten, öden, leeren Welt. Er kommt herunter zu ihm und zu seinem Volk. Und dann spannt er Mose in sein Handeln ein. Der Wandel in Gottes Rede ist eine Herausforderung. Man überliest es leicht, dass Gott nämlich auf zwei Weisen davon redet, die Israeliten zu retten. Erst sagt Gott, dass er selbst die Israeliten aus der Hand der Ägypter retten will. Und dann sagt er Mose: Ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk herausführst. Mose – gar nicht der Held in dieser Szene, nicht der Prinz, dem sich eine neue Chance bietet, nicht derjenige, der begeistert ruft „Ich bin hier. Sende mich.“ – das hatte Jesaja bei seiner Berufung gerufen. Mose, der zurückgezogene, einsame Hirte. Und der soll nun das ausführen, was Gott sich vorgenommen hat.
Das berührt sich mit dem Anfang des Volkes Israel mit den Vätern, die Gott selbst genannt hat: ein kinderloser Viehzüchter soll zum Stammvater eines großen Volkes werden. Sein spätgeborener Sohn, selbst auch kinderlos, hört diese Verheißung noch einmal. Und dessen Sohn endlich bekommt mehrere Kinder, die Träger des Versprechens werden. Abraham, Isaak und Jakob heißen diese drei Väter aus Gottes Gnaden. Gott handelt durch sie, die doch scheinbar völlig ungeeignet dafür sind.
Die Geschichte von Mose berührt sich auch mit dem, was wir schon gehört haben, was Paulus an die Korinther geschrieben hat: Wir tragen einen Schatz in uns, in irdenen, zerbrechlichen, oft zerschlagenen Gefäßen (2. Korinther 4,6–10). Und sie berührt sich mit dem Bild von Jesus, der ganz Mensch und ganz Gottes Sohn war und ist (Matthäus 17,1ff). Nur drei seiner Jünger konnten sehen, wie er für einen Moment dieses Licht auch nach außen preisgab, das doch in ihm leuchtete, das er selbst ist: Licht der Welt, Sohn Gottes, der die Herrlichkeit des himmlischen Vaters auch als Mensch in sich trägt.
Alle drei Texte, die im Gottesdienst erklungen sind, berühren sich in diesem Punkt: Gott ist mitten unter uns, in unserer Welt. Und gerade darin bleibt für uns die brennende Frage: Wo bist du, Gott, gerade jetzt – für mich, für die Menschen in Nordafrika, für alle, die das Trauma von Dresden und vielen anderen Kriegsschauplätzen damals und heute in sich tragen? Die Antwort auf diese Frage ist kein einfaches „hier“. Und das liegt im Wesen Gottes begründet, das wir nicht ergründen können.
Mose wollte es damals, nach dieser sonderbaren ersten Begegnung auch genauer wissen. „Wer bist du Gott? Wer wirst du sein, wenn ich zu meinem Volk und zum Pharao spreche? Wie soll ich von dir reden?“ Und er bekommt von Gott eine Antwort, die das Geheimnis wahrt und doch auch wirklich eine Antwort für uns ist: „Ich bin, der ich bin“, sagt Gott. Oder: „Ich werde sein, der ich sein werde.“
Der erste Teil ist das Verlässliche, vielleicht kann man sagen: die Seite, die Gott uns zuwendet – „Ich bin und ich werde sein.“ Das gilt unverbrüchlich. Gott ist, und er ist unser Gott. Egal ob wir ihm am Dornbusch begegnen oder in einer Kirche, ob wir ihn in einem Psalm oder Gospel oder Kirchenlied finden. Gott ist, und er ist für uns und mit uns. Egal, ob er uns in einem anderen Menschen begegnet oder durch die Wunder der Natur oder in der Stille des Gebets und der Einkehr. Gott ist der Gott unserer Väter und Mütter, und er ist unser Gott. Das lässt er sich nicht nehmen. Lassen wir uns das nicht nehmen.
Dem Verlässlichen stellt Gott seine Freiheit gegenüber: „Ich bin, der ich sein werde.“ Verlass dich darauf: ich begegne dir. Aber überlasse es mir, wie ich das mache. Gott findet für jeden von uns und für jede Situation die richtige Art und Weise, bei uns und für uns zu sein. Er lässt sich nicht auf ein einziges Bild festlegen. Deswegen heißt ja das zweite Gebot, dass wir uns kein Bild von Gott machen sollen. Und das Problem sind nicht die gegossenen Kälber in Israel oder Kreuze und Malereien in unseren Kirchen. Gottes Gebot meint die Bilder in unseren Köpfen, mit denen wir Gott festlegen wollen. Gott ist Gott. Und wir leben in der Spannung, dass er einerseits uns ganz verfügbar, uns ganz nah ist, in Jesus sogar einer von uns. Und dass er andererseits immer frei ist in seinen Entscheidungen und Handlungen.
Von Moses Berufung lerne ich drei Dinge:
1. Gott kann mir sogar im scheinbar Unscheinbaren, in wüsten, leeren und öden Moment meines Lebens begegnen – und vielleicht sucht er sich gerade diese Plätze aus.
2. Gott steht zu mir und meiner Geschichte, meinem Leben. Er ist der Gott, der schon meine Vorfahren getragen hat und der selbst unser himmlischer Vater ist – treuer als es jeder Mensch sein kann.
3. Gott ist verlässlich da. Und er ist es so, wie es für mich am besten ist.
Wo wird wohl der Dornbusch sein, an dem wir als nächstes Gott begegnen? Bleiben wir gespannt und bereit dafür. Das Heilige Land ist uns jedenfalls viel näher, als wir ahnen. Und vielleicht stehen wir schon darauf.
Amen.