Gedanken zu Sacharja 9,9–10 am 1. Advent
“Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.”
„Besuch kommt.“ Ein wirklich befremdender Einstieg in eine Predigt im Advent 2020. Kann man so denken? Wenn doch gar kein Besuch kommen kann? Das ist schon eigenartig. Denn am 1. Advent dreht sich alles darum, einen besonderen Gast zu empfangen. So rutschte mir dieser Anfang einfach aufs Blatt: „Besuch kommt.“ Deswegen haben wir ja auch das Lied gesungen, das sogar das erste im Gesangbuch ist: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Es kommt der Herr der Herrlichkeit.“ Einladung über Einladung. „Tochter Zion, freue dich!“ Warum? Klar, weil der König kommt. Und in Jerusalem flogen Kleider und Palmwedel auf die Straße – der rote Teppich anno dazumal.
Heute ist es eher andersrum. Letztens wollten wir uns mit den Kindern treffen, hatten aber zuvor einen Coronatest machen müssen. Es hatte sich herausgestellt, dass bei einer Veranstaltung, an der wir teilgenommen hatten, auch ein Mensch war, der kurz später coronapositiv getestet wurde. Das Wochenende kam und ging vorüber, den Kindern hatten wir vorsorglich abgesagt. Man weiß ja nie. Zwei Tage später dann die Info: unser Test war negativ (wie erwartet). Da hätten wir doch …
Aber wir hatten eben nicht. Keine offene Tür, kein Willkommen. In unserm Fall nicht so schlimm. Wir sehen uns schon noch genug. Wir schreiben und telefonieren. Und wenn die Regeln nicht so streng sind, kommen wir zusammen. Bei andern ist es da schlimmer. Da stehen Menschen wirklich vor verschlossenen Türen, vielleicht für lange. Und manche stehen draußen in Lebensgefahr, während die Tore fest verriegelt sind, hinter denen Hilfe möglich wäre.
Besuch kommt. Das sagt uns der Advent. Nicht irgendein Besuch. Nein, Gott selbst kommt. Wir sind heute schlauer als der Prophet Sacharja vor zweieinhalbtausend Jahren war. Naja. Vielleicht nicht schlauer. Aber wir können wissen, wen er meinte. Denn die Geschichte, von der bildhaft erzählt, hat dann stattgefunden. Wir glauben, dass Sacharja auf Jesus hinweist. Nicht umsonst gehören zu diesem Sonntag, dem 1. Advent, die zwei Texte, die das miteinander zum Ausdruck bringen. Der Evangelist Matthäus nämlich erzählt vom Einzug in Jerusalem (Matthäus 21,1–11). Eigentlich ist diese Geschichte schon Teil der Passionsgeschichte. Und tatsächlich wird sie am Palmsonntag ja auch gelesen. Aber sie hat auch hier ihren Platz, am Anfang der Geschichte Jesu auf Erden. Und mit ihr verbunden ist Sacharjas Ankündigung: Der Friedenskönig kommt! – und er reitet auf einem Esel. Für die Christen war und ist klar: Das gehört zusammen. Der da in Jerusalem auf einem Esel einreitet, den die Menschen begrüßen, Jesus, ist dieser Friedenskönig. Gott hat ihn selbst gesandt.
Besuch kommt. Und zwar nicht irgendeiner. Gott selbst kommt. Aber wie?! Der da anreist und um Einlass bittet, passt eher zu den Flüchtlingen, die übers Meer fliehen, als zu den mächtigen Regierungschefs. Die kommen mit dem Flieger und großem Getöse. Jene sind fast unhörbar und unsichtbar, auf dem Meer kaum auszumachen. Und sie sind ja auch nicht so wichtig, denken viele. Ja, sie stören doch eher, kann man hören. Ist das nicht eine Zumutung bis heute? Gott stellt sich auf die Seite derer, die keine Regierungsflieger und Leibwächter haben, die keine Macht haben, für ihr eigenes Leben zu sorgen. Jesus stellt sich auf die Seite derer, die klopfen müssen – und dann warten, dass man ihnen die Tür aufmacht. „Macht hoch die Tür?“ Macht wenigstens die Pforte ein wenig auf.
In den Gesprächen dieser Tage am Gartenzaun, auf der Straße, im Internet in diversen Onlineforen kann man es immer wieder hören oder lesen: Die Regierung will uns Weihnachten wegnehmen. Der Ministerpräsident von NRW sprach vom „härtesten Weihnachten für die Nachkriegsgeneration“. Abgesehen davon, dass dieser Satz unglücklich und lächerlich ist – so ist die Stimmung bei vielen. Tatsächlich aber könnte Weihnachten ein Stück realistischer werden, weil dieses Jahr der Traum der heilen Welt eben nicht mehr funktioniert. Keine Flucht in eine vorgebliche oder auch wirkliche Familien-Seligkeit, umrahmt von ein bisschen kirchlichem Gesäusel. Nackte Wirklichkeit: Menschen bleiben allein, Menschen sterben, wir stehen einer Bedrohung gegenüber, die wir nur schwer bändigen können. Die Politik streitet sich die Köpfe heiß. Lösungen hat keiner, aber viele radikalisieren sich in Worte und auch Taten.
Dieses Jahr reitet kein strahlender König oder Prinz durch den winterlichen Märchenwald – ich muss gerade an Drei Haselnüsse für Aschenbrödel denken, auch so ein Heile-Welt-Film. Nein, es scheint grau und düster und die Könige unserer Tage helfen nicht. Manche Menschen fühlen sich derzeit berufen, auf sehr eigenartige Weise Weihnachten und die Welt zu retten – ihre vorgebliche, erträumte heile Welt. Und als Kirche spielen wir dieses seltsame Spiel sogar teilweise mit und bedienen es. Klar muss soviel wie möglich gerettet werden von unserem Weihnachten. Klar wird ein Christbaum in der Kirche stehen, Kerzen werden leuchten. Und mit allen Mitteln versuchen wir, etwas Krippenspielähnliches auf die Beine zu stellen – coronagerecht natürlich.
Glauben wir ernsthaft, wir müssten und könnten Weihnachten retten? Auch wenn wir dann verkünden, dass nur Gott die Welt rettet – unser Planen und Verhalten sagt manchmal anderes. Ob es daran liegt, dass wir sogar in der Kirche, als Nachfolger Jesu Christi, doch lieber einen Strahlemann-Aschenbrödel-Prinz auf edlem Ross einherreiten sehen möchten als einen König ohne Land, ohne, Zepter, ohne Krone und auf einem Esel?
Und wie kommt Gott? Sacharja beschreibt den Retter: ein Gerechter und ein Helfer ist er. Nebenbei: „Helfer/Retter“ ist eine passende Übersetzung des Namens Jesus. Arm ist er. Demütig übersetzen andere. Und ein jüdischer Religionsphilosoph sagt „ein Gebeugter“. Wir müssen unser Bild vom weihnachtlichen Friedensbringer umkrempeln, es wieder ausrichten lassen auf die Wirklichkeit Gottes. Es kommt nicht ein Held in der Art unserer Comic-Superhelden. Und es kommt kein König in Glanz und Gloria, auch wenn wir das gerne hätten. Es kommt – ein Gebeugter.
Jesus beugt sich gleich mehrfach. Er beugt sich unter Gottes Willen. Jesus erfüllt den Willen des Vaters. Das ist kein Beugen unter einen lieblosen Despoten. Es ist anders gemeint. Jesus ist völlig eins mit dem Weg Gottes. Er ist völlig eins mit der Liebe Gottes, die ihn in die Welt schickt. In dieser Weise beugt er sich, verzichtet auf Hoheit und Macht. Gott wird Mensch. Jesus beugt sich als Mensch unter die Gesetze, denen wir Menschen unterworfen sind – Naturgesetze, göttliches Recht, Zehn Gebote. Jesus beugt sich unter die Art, wie Gott bislang Schuld aufhob und vergab – durch Opfer. Er beugt sich unter ein Zeichen der Umkehr, das Johannes der Täufer eingeführt hatte: Die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden. Mit dieser Taufe lässt sich der Sohn Gottes im Jordan taufen (Markus 1,1–11). Und dann beugt er sich unter die Schuld der Menschheit. Dieser König trägt unsere Schuld. Er trägt sie ans Kreuz. Und das beugt ihn schon auf dem Weg dorthin. Unsere Schuld erniedrigt ihn und zerbricht ihn. Nicht weil wir die Macht dazu hätten, sondern weil sich dieser Friedenskönig freiwillig, aus Liebe darunter beugt. Wir können es nicht tragen. Der uns retten will, kann es nur, indem er zum Knecht wird, der unsere Last trägt. Das ist der König, der da kommt.
Das passt viel eher in dieses Corona-Jahr, in dem uns Glanz und Gloria nichts mehr nutzt und in gewisser Weise verlorengeht. Dass wir mal stillhalten müssen, dass wir Tempo rausnehmen müssen bringt uns diesem König vielleicht näher. Allerdings müssten wir bereit dazu sein, unser Weihnachtsbild von ihm zu ändern. Wir müssten uns vielleicht genauso tief hinabbeugen, wie er selbst gekommen ist, um ihn in der Krippe und im Kreuz erkennen zu können. Dann aber hat Weihnachten wieder eine Chance, wirklich zum Freudenfest zu werden. Und der Advent wird zum erwartungsvollen Weg dorthin. Wir bereiten uns darauf vor, Gott in der Krippe zu entdecken. Es gehört eine Portion Mut dazu, diesen anderen Jesus als Mittelpunkt des Weihnachtsfestes zu sehen und zu verkündigen. Und ein Stück Selbstüberwindung brauchen wir auch.
Und nein: Wir sollen nicht auf Schmuck und Licht und Kerzen und Geschenke verzichten. Gerade Gott ist einer, der uns nichts wegnehmen will. Das Bild aus dem Propheten Sacharja und auch der Einzug Jesu in Jerusalem macht uns aber frei für den Gott, der da wirklich kommt. Es kommt der Mächtigste schlechthin. Aber gerade der beugt sich tief herunter, nicht nur unter die Machthaber seiner Zeit. Er beugt sich unter unser Leben und trägt mit, was wir zu tragen haben. Er betritt unser Wohnzimmer, in dem in diesem Jahr vielleicht weniger Menschen an Heiligabend sind. Er sitzt mit im Boot, wenn Flüchtlinge in den Wellen um ihr Leben fürchten. Der sitzt am Krankenbett, an das wegen Corona außer Schwestern und Pflegern keiner kommen darf. Er ist im Heim, das gerade wieder die Türen schließen musste.
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Und ich glaube, er tritt auch durch die kleine Pforte ein, die unser Leben gerade nur hat. Mehr als die Tür, die sich zum inneren Verschlag unseres Herzens öffnet, braucht er nicht. Wenn wir aber diesen unscheinbaren König, diesen gerechten, rettenden, gebeugten Messias einlassen, wird es hell. Frieden durchströmt uns, der nach außen dringt und andere umfängt und tröstet. Wenn wir unsere Tür öffnen für die Not eines anderen, dann wird sich der vielleicht als dieser Heiland oder als ein Engel von ihm entpuppen. Und wir könnten staunen, was sich alles tut und wie Gott – fast wie durch die Hintertür – mit eingetreten ist. Besuch kommt! Anders als vielleicht sonst in den Jahren. Aber vielleicht nehmen wir es bewusster wahr, dass doch Gott selbst bei uns eintritt. Freue dich, Tochter Zion. Freu dich, Tochter Jerusalem. Freut euch, ihr Christen alle. Gott kommt zu euch!