Predigt zum Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres
Voraus geht die Lesung von Matthäus 25,31–46
„Gutmensch“ – dieses Wort hat eine neue öffentliche Bedeutung erfahren in den 45 Wochen dieses Jahres 2015. Es sind aber nicht diejenigen, über die das gesagt wird, die sich selbst so bezeichnen. So gerufen werden sie von ihren Kritikern und Gegnern. Wobei die Frage auftaucht, ob das dann „Schlecht-Menschen“ sind. Diese Anrede habe ich noch nirgends gehört.
Gutmensch. Von ihren Gegnern wird das als Schimpfwort gebraucht, was doch im Grunde etwas sehr Schönes aussagt. Und die Gutmenschen selbst reden gar nicht darüber, dass sie gute Menschen sind. Sie handeln aus einem guten Herzen heraus, handeln menschenfreundlich, ohne dass sie darüber viele Worte verlieren.
Einem besonderen Gutmenschen sind viele in der vergangenen Woche begegnet. Einem, der sehr bekannt ist, der eine regelrechte Renaissance erlebt hat, eine Wiedergeburt. Erinnert wird an eine einzige gute Tat, die ihn herausgehoben hat; die ihn aber zu allererst selbst veränderte.
Heute kennen Kinder und Erwachsene seinen Namen. Staatliche und kirchliche Kindergärten, auch Einrichtungen mit eher neutraler oder sogar auch atheistischer Prägung kommen um sein Gedenken nicht herum und haben Teil an seinem Festtag.
Dieser Gutmensch war römischer Soldat, Sohn eines römischen Offiziers. In Ungarn war er geboren, in Pavia in Oberitalien ist er aufgewachsen. Mit 15 Jahren kam er zur Leibwache des Kaisers Konstantin II. in Mailand. Später diente er in Gallien – also Frankreich – und kam auch nach Worms und Trier. Vor einer Schlacht in der Nähe von Worms gegen heranrückende Germanen verweigerte der Offizier die Teilnahme an der Schlacht. Er sei nicht mehr länger ein miles Caesaris, ein Soldat des römischen Kaisers. Er sei nun ein miles Christi, ein Soldat Jesu Christi.
Warum er ein Gutmensch war? Einmal teilte er seinen Mantel mit einem Bettler. Sankt Martin, der römische Ungar oder ungarische Römer, teilte den Mantel, der ihn als Offizier im kalten Winter schützend warm hielt, mit einem Bettler. So erzählt es die Legende, die sich mit vielen anderen bald um den Heiligen Martin bildete. An den Stadttoren von Amiens soll das gewesen sein.
Später wurde Martin – das ist keine Legende – zum Bischof von Tours geweiht. Und blieb auch da ein Mensch, der Augen für andere hatte und für sie sorgte. Als Gutmensch hat er sich nie bezeichnet. Er hat auch, der Legende nach, erst im Nachhinein erfahren, welche große Bedeutung diese eine Tat hatte. Und das kam so:
In der Nacht, nachdem er den Bettler vor dem Erfrierungstod gerettet hatte, erschien ihm im Traum eben dieser Bettler. Aber Martin, der schon zuhause vor allem durch seine Mutter mit dem christlichen Glauben in Berührung gekommen war, erkannte in dem Bettler Jesus Christus. Und er wurde an die Worte von Jesus erinnert, die wir eben auch gehört haben: „Was ihr einem getan habt von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Die Geschichte von Sankt Martin gehört also nicht nur zum Martinstag am 11. November, sondern sie gehört mindestens genauso zum vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, an dem das Evangelium der Gutmenschen gelesen wird. Ach ja – das ist mitnichten ein Schimpfwort. Es ist eine Ehrbezeichnung, auch wenn von manchen versucht wird, diese Bezeichnung zu beschmutzen.
Was macht den guten Menschen aber aus? Offensichtlich muss es etwas sein, das sogar den Weltenrichter Jesus Christus dazu führt, diese Menschen zu Erben des Himmelreiches zu machen. Welche großartige Tat aber kann wohl Gott selbst dazu bewegen, sein Reich mit einem Menschen zu teilen? Das muss ja etwas geradezu Übermenschliches sein, sonst ist doch Gott nicht zu beeindrucken.
Umso mehr erstaunt es, dass diejenigen, die aufgrund ihres Lebens, ihrer Verhaltensweise gar das Reich Gottes erben, nicht wissen, dass sie so Beeindruckendes getan haben. „Wann sollen wir so toll gewesen sein? Das haben wir gar nicht bemerkt!“ „Wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen, fremd in unserem Ort, nackt, krank oder gefangen und hätten dir sogar geholfen? Das haben wir doch gar nicht gemerkt!“
„Oh“, sagt ihnen Jesus, „ihr habt es vielleicht nicht gemerkt. Aber ihr seid eurem Herzen gefolgt, seid barmherzig gewesen, ohne zu fragen, was es euch bringt, wer das ist, dem ihr da beisteht. Jeder dieser Hilfsbedürftigen ist aber ein Ebenbild Gottes gewesen, eine Schwester oder ein Bruder von mir. Und so habt ihr mit jedem Menschen, dem ihr hilfreich zur Seite gewesen seid, mir selbst Gutes erwiesen.“
Erstaunlich, oder? Das sind ja gar keine beeindruckenden Taten. Da hatten Menschen einfach einen Blick für andere, die in Not waren. Und sie hatten ein warmes Herz, waren barmherzig, sonst nichts.
Jeder ahnt, was dann kommt. Jesus erzählt die Geschichte aber dennoch weiter, so wie wir sie auch bis zu Ende gehört haben. Was bitte rechtfertigt es, dass Jesus andere vom Himmelreich ausschließt? Was haben die denn Böses getan, dass sie das Reich Gottes nicht erben? Kein einziges Wort verliert Jesus hier über Verbrechen, über Schurkenstreiche, über Diebstahl, Mord oder anderes. Das hätte man ja erwarten können.
Wieder stellt er den Menschen nur vor Augen, was ihnen – oder besser: wer ihnen tagtäglich vor Augen gekommen ist: andere, die Not litten. „Ihr habt Menschen gesehen, die in Not waren. Aber ihr habt nicht zugepackt. Euer Geldbeutel war verschlossen. Eure Tür war verschlossen. Euer Herz war verschlossen. Auf was habt ihr gewartet? Wolltet ihr warten, bis einer dieser Armen sich als verkleidetes Königskind ausweist? Habt ihr darauf gewartet, dass ihr eine Rückzahlungsgarantie für eure Hilfeleistung ausgehändigt bekommt? Was hat euch davon abgehalten, einfach nur barmherzig zu sein? War es der unangenehme Geruch eines Bettlers? War es die Sorge, dann könnte auch ein zweiter kommen, der etwas von euch will?“
„Aber Jesus“, sagen sie dann, „wir sind doch keine schlechten Menschen. Wir sorgen für unsere Kinder. Wir kümmern uns um unsere alte Oma. Wir spenden für Brot für die Welt, Heilig Abend in der Kollekte am Ausgang der Kirchentür. Sogar für Erdbebenopfer haben wir etwas überwiesen. Ist das nichts?“
„Doch wo wart ihr, wo war euer mitleidiges Herz, als einer der geringsten meiner Schwestern und Brüder euch brauchte?“
Das Gleichnis berührt sich mit einem anderen, wohlbekannten Gleichnis der Bibel (Lukas 10,25–37). Da war ein Reisender unter die Räuber geraten und lag halbtot und ausgeraubt im Straßengraben. Vorbei ging ein rechtschaffener Priester des Jerusalemer Tempels, ein Kirchenbeamter quasi. Der hatte sich wohl noch nie etwas zu schulden kommen lassen. Ein gerechter, frommer Mensch. Und was macht er nun? Geht vorbei. Ein weiterer Frommer genauso. Er wechselt sicherheitshalber gleich mal die Straßenseite. „Geht mich nix an.“ Dann kommt einer aus einem Nachbarland, ein Ausländer, nicht viel mehr angesehen wie Asylbewerber heute in manchen Augen. Der aber packt zu, hilft dem Verletzten, bezahlt eine erste Rechnung in einem Gasthaus. Da half einer der Geringsten einem der Geringsten – einfach weil der eine in Not war und der andere ein hilfsbereites Herz hatte.
Es ist wohl kein Wunder, dass mich diese Geschichten heute ganz besonders berühren: St. Martin, der gar nicht hoch zu Ross saß, sondern sich herabbeugte und teilte, was er hatte; der sprichwörtlich gewordene barmherzige Samariter, der einem Wildfremdem half, noch dazu unter Lebensgefahr; und dieses seltsame Gleichnis, das Matthäus aufgeschrieben hat.
Es bewegt mich, weil seit Wochen und Monaten in unserem Land genau dieser Widerspruch lebt: Menschen sind in Not und begegnen uns. Viele packen zu und engagieren sich selbstlos und aufopferungsvoll. Das sind Gutmenschen – Menschen, die anderen Gutes tun, die gut zu ihnen sind, die ein mitfühlendes, mutiges, freundliches Herz haben.
Aber auf der anderen Seite stehen immer mehr gegen Notleidende und Hilfesuchende auf, statt zu überlegen, wie Hilfe aussehen kann. Sind das Schlecht-Menschen? Wie möchten Sie selbst sich bezeichnen, wenn sie doch uns andere Gut-Menschen nennen?
Tröglitz war der erste Ort hier unserer Region, in dem Asylgegner, Rassisten, Ängstliche, Politikverdrossene, NPDler und rechte Sympathisanten gemeinsam auf die Straße gingen. Abendspaziergänge, die immer mehr an die Naziaufmärsche vor 80 Jahren erinnerten, führten durch das Dorf. Sie trugen keine Fahnen und Fackeln mit sich, aber die Parolen und die dumpfe, hasserfüllte Stimmung zu abendlicher Zeit hatten genug Wirkung. In Kretzschau geht die Angst um – weniger vor den Asylsuchenden, die dort in der Jugendherberge ihre erste Aufnahme finden, als vor den dumpfen Parolenträgern, die seit Wochen ihre abendlichen Runden drehen. Und nun die erste Einladung nach Zeitz: auch dort wird mit Angst-Parolen Stimmung gemacht.
Gegen Menschen in Not wird hier mit einer beängstigend zunehmenden Kraft mobil gemacht. Hilfe für Notleidende, für Kriegsflüchtlinge, für Menschen, die gerade einmal so dem Hungertod entkommen sind, die einem diktatorischen, mordenden Regime entkommen sind? Fehlanzeige. Man will sie nicht. Türe zu, Grenze zu, Zäune müssen her, Mauern müssen her.
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Da kommen Menschen zu uns, die Hunger haben – echtes Magenknurren, weil sie auf der Flucht wenig zu essen hatten. Hunger nach Leben, nach Frieden, nach Freiheit, nach Schlaf. Geben wir ihnen etwas von unserem überreich gedeckten Tisch ab? Oder sind eher die Mülltonnen voll, weil wir gar nicht alles essen können, was wir einkaufen? Bekommen Notleidende so viel Schutz, dass die nicht alle halbe Stunde und bei jedem Geräusch voller Furcht aus ihrem leichten Schlaf aufwachen? Menschen kommen, die wir nicht kennen, Fremde. Sie möchten aber nicht fremd sein. Sie wollen uns kennenlernen, neue Bekannte finden, Freunde finden. Eine Redewendung aus Irland sagt: „Ein Fremder ist ein Freund, dem wir noch nicht begegnet sind.“ Geben wir uns die Chance, neue Freunde zu gewinnen?
Ach so – das gilt ja nicht nur für die Asylsuchenden, die derzeit die Tagesdiskussion bestimmen. Das gilt für alle. War das nicht klar? Derzeit werfen gerade die Abendspaziergänger Christen und anderen Gutmenschen vor, wir würden die Armen unseres Landes, die Hilfesuchenden, die Notleidenden vernachlässigen. Sie übersehen dabei die große Hilfe, die seitens der Kirchen, durch Diakonie und Caritas, durch die Gesellschaft, durch viele unerkannte, unbekannte ehrenamtliche Helfer und Spender schon immer Notleidenden zugute kommt. Mit anderen selbstlos zu teilen ist Kennzeichen christlicher Werke und Gemeinden. Nein, nicht immer. Wir sind Menschen und geizig und selbstsüchtig – und beugen uns unter diese Schuld. Aber es ist uns als Wesen und Auftrag ins Herz gelegt. Und es gelingt erstaunlich oft, obwohl auch Christen gerne auf sich selbst sehen.
Bevor die Parolen rufenden Pegidisten die einheimischen Bettler, Obdachlosen und Hilfsbedürftigen entdeckten, gab es schon christliche Häuser, in denen die Notleidenden Aufnahme finden, gab es schon die Tafeln, die kostengünstig oder auch mal kostenfrei Lebensmittel ausgeben.
„Was ihr getan habt, das habt ihr mir getan.“
Gerade in diesen Tagen rütteln solche Worte mich wach. Denn der Blick wandert zu mir zurück. Viel mehr noch will ich im anderen ein Ebenbild Gottes sehen. Viel mehr noch wird mir deutlich, dass es diese alltäglichen Begegnungen sind, in denen Gott selbst erwartungsvoll mir gegenübersteht.
Und in denen Gott selbst helfend anderen begegnet. Denn auch das gilt uns, was Jesus seinen Jüngern gleich zu Beginn seiner Wirksamkeit gesagt hat. „Ihr seid das Salz der Erde ihr seid das Licht der Welt.“ Wenn wir im anderen Menschen Gottes Angesicht sehen und uns zuwenden, dann beginnt zugleich Gott, durch uns am anderen zu handeln.
Mit dem Gutmenschen Sankt Martin habe ich angefangen. An ihn will ich am Ende auch wieder erinnern. Er hat sich dem Bettler zugewandt und ihn angesehen. Er hat sich erbarmt und gegeben, was er geben konnte. Am Ende erweist sich dieser Bettler als Gottes Sohn, dem sich der Heilige Martin zuwandte.
Und umgekehrt gilt es auch: „Herr, erbarme dich!“, so rufen die Hilfesuchenden im Neuen Testament. Und der Mensch Jesus tritt zu ihnen und heilt, spricht ein gutes Wort, gibt neues Leben.
Wir handeln an Jesu stelle, in seinem Namen, in seinem Auftrag, mit seiner Liebe in unseren Herzen, wenn wir diesen Ruf nach Hilfe und Barmherzigkeit hören und darauf mit Liebe und Zuwendung antworten. Wenn Menschen sich begegnen, dann stehen sich Menschen gegenüber, die Gott geschaffen, gewollt und geliebt hat.
An uns ist es, das im anderen zu erkennen und für sie und ihn zu einer Schwester, zu einem Bruder und Freund zu werden. An uns ist es, an keinem andern.
Amen.